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JÜRGEN PETRY





Im Malstrom







Bericht eines Wende-Verlierers





Engelsdorfer Verlag



Leipzig



2015












Autor Jürgen Petry gehört zur Vertriebenengeneration. Geboren am 26. November 1939 in Königsberg/​Ostpreußen, fand seine Familie nach der Vertreibung 1947 in Sachsen eine neue Heimat. Nach der Schule lernte er Buchhändler in einer Delitzscher christlichen Buchhandlung.



Anschließend Fachschule für Buchhändler in Leipzig, Studium Germanistik und Kulturtheorie an der Karl – Marx – Universität Leipzig, nachfolgend Wirtschaftsrecht an der Humboldtuniversität Berlin. Nach mehreren Stationen im Buchhandel der DDR, wurde er 1982 Direktor des Volksbuchhandels im damaligen Bezirk Leipzig. 1986 wurde er zunächst Direktor und nach der Wende 1989/​90, bis zu seinem Ruhestand 2oo9, geschäftsführender Gesellschafter der Leipziger Kommissions- und Großbuchhandelsgesellschaft (LKG).



Ihm und seiner Führungsmannschaft gelang es, durch geschicktes Management und Glück, das mit 1.200 Beschäftigten einstmals größte Zwischenbuchhandelsunternehmen Europas vor der beabsichtigten Abwicklung durch die Treuhand zu bewahren. Nach der Privatisierung über ein Management by out, gelang es, das Unternehmen LKG neu aufzustellen und am gesamtdeutschen Markt zu etablieren. Wenige Jahre später war es bereits zu einem der ostdeutschen Vorzeigeunternehmen geworden. Der Autor gehört zu der überschaubaren Gruppe sehr erfolgreicher Manager mit ausschließlicher DDR-Biografie.



Als Ausgleich zu seiner stressigen Managertätigkeit fing Petry bereits vor der Wende an Bücher zu schreiben, die aber erst danach in zwei Leipziger Verlagen erschienen sind. Sein Hauptthema ist immer gleich: Die schicksalhaften „Umbrüche“ in der Deutschen Geschichte und deren Auswirkungen auf die nicht direkt beteiligten aber betroffenen Menschen. Dazu gehören: „Ostpreußen“, eine vergessene Geschichte (1996); „Das Monopol“ (2001); „Löbnitz, ein Dorf in Deutschland“ (gemeinsam mit Frau Dr. König, 2009) „Subordination“ (2012); „Die baltischen Barone“ (2012); „Umgestaltung“ (2013).







Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:



Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de

 abrufbar.



Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig



Alle Rechte beim Autor



Titelzeichnung: Sammlung Lutz Nitzsche Kornel



Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)



1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015





www.engelsdorfer-verlag.de











„Gegensätze von vernichtender Gewalt – dass er sie







so lange ertrug, lässt sich nur mit dem Gehaltenwerden







durch noch zu schreibende Werke erklären.“







(Günter Kunert, über E. A. Poe, 1974)





Für Jutta




Inhalt





Cover







Titel







Über den Autor







Impressum







Zitat/Widmung







Der Beginn







In memoriam







I







II







III







IV







V







VI







VII







VIII







IX







X







XI







XII







XIII







XIV







XV







XVI







XVII







XVIII







XIX







XX







XXI







XXII







XXIII







XXIV







XXV







XXVI







XXVII







XXVIII







XXIX







XXX







XXXI







XXXII







XXXIII







XXXIV







XXXV







XXXVI







XXXVII







Prolog







Dank








Der Beginn





Es war an einem Montag und wir fuhren nach Leipzig, um uns zum ersten Mal an einer Protestdemonstration zu beteiligen. Wir, das waren neun Kollegen aus unserem Wolfener Kombinat. Vier davon aus meiner Brigade „Stromschnelle“. Treffpunkt wäre die Nikolaikirche im Zentrum der Stadt, hatte man uns erzählt. Wir gingen dorthin. Die Kirche war etwa zur Hälfte gefüllt. Männer, meist jüngere, Frauen und Kinder in allen Altersstufen. Es war still. Der Pfarrer erhob sich und sprach ein kurzes Gebet. Wir saßen hinten. Trotzdem verstand ich jedes Wort. Wir waren noch erregt. Auf dem Weg zur Kirche waren wir an großen Gruppen Volkspolizei vorbei gekommen. Sie hielten sich in den Nebenstraßen auf. Zweimal hatten sie versucht, uns abzudrängen, aber recht lustlos. Dienst nach Vorschrift würde es heute heißen. Als wir ruhig aber fest auf unserer Absicht beharrten, durften wir passieren. Was wäre wenn …, dachte ich trotzdem! In der Kirche sah ich mich um. Ernst in den Gesichtern, Entschlossenheit auch. Ein Block junger Männer fiel mir auf. Man konnte erraten, welcher Passion sie angehörten, durch ihre unbehaglich wirkende Körpersprache. Dann marschierten wir los. Nicht alle folgten dem Zug. Demonstranten waren es etwa 500, vielleicht auch weniger. Einige mit Transparenten. „Keine Gewalt“ las ich auf mehreren. Unklar, ob das eine Mahnung zur Disziplin an die Demonstranten war oder ein Signal an die Gegenseite oder beides. Die Volkspolizisten bewegten sich langsam auf die Demonstranten zu, taten aber nichts. Doch sie waren präsent und deutlich in der Überzahl. Einige trugen Zivilkleidung. Schweigend setzte der Zug seinen Marsch fort. Ein paar verließen ihn, als sie das Polizeiaufgebot sahen. Die Mehrheit blieb. Am Hauptbahnhof wollte auch ich ausscheren. Ich zögerte aber und sah in die Gesichter meiner Kollegen. Plötzlich ein Lautsprecher: „Hier spricht die Deutsche Volkspolizei!“ Kurze Pause. Der Sprecher musste sich wohl erst konzentrieren. Doch bevor er mit seiner Ansage einsetzen konnte, schrie jemand: „Wir sind das Volk!“ Wieder eine kurze Pause. Überraschung! Dann griffen mehrere den Ruf auf: „Wir sind das Volk“, und dann plötzlich ein Ruf wie Donnerhall: „WIR SIND DAS VOLK.“ Mir laufen heute noch Schauer über den Rücken.






In memoriam





So fing es an. Es war der Tag, an dem ich den Einstieg fand in das, was man heute die „Friedliche Revolution“ nennt. Wenn du meine ungeordneten Selbstbetrachtungen einmal in die Hand bekommen solltest, werde ich „die schönste aller Welten“, wie sie ein französischer Dichter, dessen Name mir leider entfallen ist, einst ironisch nannte, bereits verlassen haben. Es wäre eine Lüge, wollte ich behaupten, dass ich dem Unausweichlichen gelassen entgegen sehe. Nein, manchmal packt mich die Angst, dann wieder die Resignation, meist aber ist es nur eine unglaubliche Leere. Besonders wenn ich darüber nachdenke, was von den über siebzig Jahren, die ich auf dem Boden unseres teuren Vaterland zugebracht habe, aufzeichnungswürdig sein könnte. Viel ist es nicht. Nichts für andere, wenig für mich selbst. Doch das ist wohl nichts Besonderes. Ja, ich hatte mir noch manches vorgenommen. Es wird unerledigt bleiben! Kein Problem! Bedenke ich, was für Unfug, Eitelkeiten und Lügen heute täglich in die Welt gesetzt werden, dann, mein alter Freund, muss man dem nicht unbedingt noch etwas hinzufügen.

 



Vor einigen Jahren habe ich begonnen, Tagebuch zu führen und Briefe zu schreiben, die ich niemals abschickte. Warum? Weil ich es für mich aufschrieb, was ich schreiben wollte. Du erinnerst dich, dass du mir das einmal vorgeschlagen hast? Der Gedanke gefiel mir damals. Heute auch noch. Deshalb habe ich tatsächlich irgendwann damit begonnen. Das war, als es mir schlecht ging. Später, rückblickend, habe ich dieses und jenes sogar ergänzt. Ich weiß, es war meine Flucht aus einer Welt, die mir immer unverständlicher wurde.



Und jetzt, in Sichtweite meines Abschieds, trage ich alles zusammen. Nein, kein Buch, eher ein paar Aufzeichnungen für meine Selbstfindung, mehr ist es nicht, soll es auch nicht sein. Deshalb habe ich auch Jana nicht gebeten, dir die Geschichte meines Nachwendelebens zu übergeben. Doch sie wird es tun. Da bin ich fast sicher. Tut sie es nicht, ist es auch gut. Erledigt! Falls aber doch, dann betrachte das Aufgeschriebene bitte als Erbteil deines mehr oder weniger gescheiterten Freundes.



Noch ein Wort zur Sprachlosigkeit. Eine Eigenschaft, die ich mit unserer letzten DDR-Regierung gemeinsam hatte. Sie in ihrer letzten Phase, ich in meiner ersten. Es steckt eben mehr in uns als Erinnerungen.



Gedanken sofort in Sprache umzusetzen, ist mir nicht gegeben. Daher die Tagebücher und deshalb die nicht abgeschickten Briefe. Ja, sprechen wäre leichter gewesen und richtiger auch. Nur, mit wem hätte ich sprechen sollen, außer mit dir? Du aber warst nicht greifbar. Nicht, wenn ich gerade einmal reden wollte. Mit Jana, meiner Frau? Mit ihr hätte ich sprechen müssen. Selbstverständlich! Aber früher, viel früher, nicht erst, als wir uns fremd und fremder wurden. Und erst recht nicht, nachdem ich ein viertel Jahrhundert meine Gedanken dem Papier anvertraut hatte. Jetzt geht es nicht mehr. Mir bleibt nur das Papier.



Hätte, könnte, würde! Wer spricht schon gern über das, was einen bedrückt? Ich konnte mich einfach nicht entschließen, das Maul aufzumachen, frei nach Martin Luther. Schreiben ist einfacher. Papier widerspricht nicht. Deshalb flüchtete ich in „mein Reich“, immer dann, wenn es kompliziert wurde. Und kompliziert war es eigentlich immer für mich. Deshalb blieb das Papier mein schweigender Beichtvater, nur das Papier. Ein viertel Jahrhundert! In schweren und auch in guten Stunden. Die Briefe, die ich geschrieben habe, die meisten an dich, waren immer für mich selbst bestimmt. Abgeschickt habe ich keinen. Warum? Ich sagte es ja, weil ich keine Antworten wollte. Die gibt es nämlich nicht. Dann kam sie, die tückische Krankheit, die mir das Ende ankündigte, unerbittlich und in relativ kurzen Etappen. Jetzt geht es nicht mehr, selbst wenn ich wollte.



Also wenn Jana sich so verhält, wie ich es annehme und wünsche, bekommst du nicht nur meine konfusen Gedanken, Notizen, Briefe und Aufzeichnungen in sieben Ordnern, sondern sie bereits aufgearbeitet. Gewiss, ein nachträglicher Spaß wäre es schon, zu wissen, dass du dich durch all das durchfressen musst, was ich in 25 Jahren zusammengetragen habe. Aber du bist ja mein Freund. Deshalb nehme ich dir viel Arbeit ab und verarbeite die Aufzeichnungen selbst in diese Skizze. Vorausgesetzt, meine Zeit reicht. Die Originale zu lesen, bleibt dir ja unbenommen.



Das Aufgeschriebene ist vor allem für Jana bestimmt. Wenn du es gelesen hast, wirst du wissen, warum. Für dich natürlich auch, denn du sollst mein Ansprechpartner sein und mein Medium. Vielleicht kannst nur du Jana dazu bringen, die kurzen Aufzeichnungen zu lesen. Als Erklärung. Mir würde viel daran liegen. Auch das gehört zu meinem Vermächtnis. Es ist nur schwer, den richtigen Einstieg zu finden. Vielleicht beginne ich unkonventionell, wechselnd mit dem Anfang und dem Ende? Egal! Du wirst mich schon verstehen.



Freunde sind wir seit dem Jahr 1947, wenn ich mich recht erinnere. Was für eine Zeit … Wie es dazu kam, habe ich vergessen. Es ist auch unwichtig. Wir waren und blieben es, abgesehen von kurzen Unterbrechungen in der Sturm-und-Drang-Zeit. Meist war die Ursache ein hübsches Mädchen, für das wir uns beide interessierten. Sie sich aber meist nicht für einen von uns, sondern für irgendeinen Dümmling. Na ja, das passiert eben. Gut so! Denn so blieben die Zerwürfnisse kurz, unsere Freundschaft lang.



Mit Prognosen war ich schon in der Schule nicht der Stärkste. Dazu fehlte mir die Fantasie. Doch ich schätze, zwischen dem Anfang und dem unausweichlichen, weil biologisch bedingtem, Ende unserer Freundschaft werden so annähernd siebzig Jahre liegen. Keine einfachen. Es sind wenige Menschen, denen es vergönnt ist, so lange „eines Freundes Freund zu sein“, wie der Dichter sagt, diesmal ein deutscher.



Seit einiger Zeit weiß ich, dass ich unheilbar krank bin. Vor Jana und unserem Sohn Waldemar Henry habe ich es lange verschwiegen, genau wie vor dir. Ja, manchmal hätte ich schon ganz gern darüber reden wollen. Du kennst sie ja sicher selbst, die Momente des Selbstmitleids, die abends einsetzen, etwa so nach dem fünften Gläschen. Manchmal zumindest! Doch nein, sagte ich mir, es bringt absolut nichts, Menschen, die einem nahe stehen, mit eigenen komplizierten Problemen zu belasten. Das bleibt meine Meinung, denn es ist zu spät, sie zu ändern.



Gesprochen habe ich manchmal über mich und das Ende mit Katarina. So heißt meine angehende Schwiegertochter. Sie ist ein Glücksfall für mich, denn sie fühlt meine tiefe Trauer, mein eigenes Unvermögen, und sie verlangt keine Erklärungen. Eine Seelenverbindung könnte man sagen! Ja, so etwas gibt es. Das erlebe ich gerade. Warum der HERR aber gerade diese und nicht jene Seelen verbindet, weiß ich nicht! In der Bibel fand ich dazu keine Antwort. Ich denke, es ist ein von der Vorsehung installierter Ausgleich dafür, dass heutige Ärzte keine Wunder mehr vollbringen können. Sie können es nicht, weil uns der Glaube an Wunder abhandengekommen ist in der Marktwirtschaft. An Wunder wollen wir nicht glauben, dafür an Hightech und sonstige Geräte. Wir verachten den Teil des Schamanismus in der Medizin, akzeptieren es aber, dass der Arzt zum Unternehmer geworden ist, kaum anders als der Manager, der Fleischer oder der Schweinezüchter. Die Zeit ist zu Geld geworden. Die Ethik zum leeren Begriff.



Na, ich will nicht meckern. Mein Hausarzt heuchelte nicht. Sein Gesicht sagte mir mehr als tausend Worte, als er es endlich vom Computer ab- und mir zuwandte. Den Rest sprach er dann doch aus, hart aber ehrlich. „Nichts mehr zu machen, mein alter Heinrich!“ Das war das Wesentliche. „Ein paar Wochen noch, vielleicht auch Monate. Niemand kann ewig leben. Also nutze die dir bleibende Zeit.“ – „Heilmöglichkeiten?“ Ich fragte es der guten Ordnung halber, nicht weil ich noch Hoffnung hatte. Er schüttelte langsam seinen Kopf. Nie ist mir etwas so endgültig vorgekommen wie dieses Kopfschütteln. Nach dem ersten heftigen Schock war ich ihm dankbar. Nichts ist schwerer zu ertragen als Lügen, höchstens Mitleid. Also warten. Tröstliches fügte er dennoch hinzu: „Mit etwas Glück kannst du noch vier bis sechs Wochen mit erträglichen Schmerzen leben. Was dann kommt heißt Morphium, und wie lange das hilft, weiß der HERR allein.“ Interessant, in welchen Zeiträumen man denken lernt.



Es ist Zeit, die letzte Bilanz zu ziehen. Freunde sind wir sechs Jahrzehnte und ein paar Monate dazu. Wir blieben es, auch als die Welten, in denen wir uns bewegten, immer verschiedener wurden. Dass Freundschaften den Einsturz einer Gesellschaftsordnung überdauern, kommt sicher auch heute noch vor. Doch geschlossen werden sie nach dem Nützlichkeitsprinzip, beendet ebenfalls. Dass unsere Freundschaft den Aufstieg des Einen und den Fall des Anderen überdauerte, dürfte einmalig sein oder zumindest beinahe. Bleib mir gewogen! Ich weiß, dass ich zeitweilig für mein Umfeld, meine Frau, meinen Sohn, auch für meine Schwiegertochter, diesen oder jenen Hauswirt, Nachbarn, Kollegen und auch für dich, ein schwieriger Fall war. Besonders dann, wenn ich mit mir selbst haderte. Und wann tat ich das nicht? Entschuldige, jetzt werde ich sentimental. Hören wir auf! Du hast mich schon verstanden und jetzt fange ich an mit der Geschichte meines Versagens.






I





Nach der Umgestaltung 1989/​90 gab es in unserem teuren Vaterland schnell richtige Gewinner und richtige Verlierer. Klar, das ist schließlich das Ziel einer jeden Revolution. Wollte man etwas anderes, müsste man ja nicht revolutionieren. Aber die unten wollen hoch, die oben müssen deshalb runter. Anders geht es nicht. Das ist das Ziel wohlgemerkt. Diesmal allerdings verlief alles entgegen den logischen Revolutionsspielregeln. Gewinner wurden die Unbeteiligten, Verlierer die, die die Revolution in Gang gesetzt hatten. Nein, ganz gegen die Regeln ist das auch nicht! Richtig! Nur, wir hatten es wieder einmal vergessen.



Ich gehöre, wie könnte es anders sein, zu den Verlierern. Nicht weil ich auf der falschen, sondern weil ich auf der richtigen Seite stand. Wie habe ich sie mit aller Kraft herbeigesehnt. Nein, nein, nicht diese „Friedliche Revolution“, die wir dann bekamen, sondern durchgreifende politische Veränderungen. Mehr nicht, weniger aber auch nicht. Eine Utopie, gewiss, deshalb bin ich über das, was kam, auch so traurig. Doch logisch war es schon, das, was kam. Jedes Kind ab der fünften Klasse in der DDR hätte es aufsagen können. Keine Theorie, keine Führung, kein Sieg! Punkt.



Wir sahen nur, dass es so, wie es war, nicht weitergehen konnte. Mehr nicht.



Und so gewinnt man keine Revolution, als Beteiligter nicht, auch keine friedliche. In der Revolutionstheorie Lenins soll das sogar so drinstehen, habe ich einmal gehört, falls ich mich recht erinnere. Weil es von dem war, musste es ja falsch sein, dachten wir damals. Gelernt haben wir es alle, geglaubt haben wir es nicht. Ihm nicht, dem schlauen kleinen Revolutionspraktiker, und unseren Lehrern auch nicht. Doch ab und zu beliebt es der Geschichte eben, sich im Kuriositätenkabinett zu bedienen. Wie haben wir über die These „von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“ gestritten und auch gelacht. Nun wissen wir es, manchmal stimmt eben auch eine These über die gelacht wird.



Entschuldige bitte, mein alter Freund, dass ich dich mit Allgemeinplätzen langweile. Die muss ich aber ausgraben, vor allem um mich vor mir selbst zu rechtfertigen. Es muss doch Gründe dafür geben, dass ich, und nicht du, von einer Katastrophe in die nächste stolperte. Im Grunde meines Herzens habe ich dich ja manchmal um die Gunst des Schicksals, das man auch Glück nennt, beneidet. Dieses Glück hatte ich nie. Nur einmal, als ich Jana kennenlernte. Aber sonst? Du wurdest als Sonntagskind geboren, ich nicht! Und Sonntagskinder, davon bin ich überzeugt, sind von der Natur mit Genen ausgestattet, denen das Glück ein Leben lang die Treue hält. Zumindest wenn sie es nicht überstrapazieren. Alles, was du angefangen hast, gelang, was ich anpackte, ging schief. Aber klammert Glück allein schon die persönliche Verantwortung für einen selbst aus? Ich weiß es nicht!



Hinter dieser Feststellung verbirgt sich kein Neid, nicht einmal ein winziger Vorwurf. Chancen sind im Leben nie gleich verteilt. Bei uns waren nur die Startbedingungen in etwa gleich. Bei mir vielleicht sogar noch etwas besser. Es wäre gelogen, wenn ich behaupten wollte, dass ich keine Chancen gehabt hätte nach dieser Umgestaltung. Davor unbenommen. Nur, mir fehlte einfach das Talent, mich mit dem Schicksal zu verbünden. Ja, vielleicht fehlten mir außerdem der Ehrgeiz und die Fähigkeiten, meine Chancen zu erkennen und zu nutzen. Schwamm darüber, denn jetzt ist es zum Lamentieren zu spät. Lass uns also, bevor ich zum Eigentlichen komme, noch einen Blick zurückwerfen auf die Ausgangssituation.

 






II





Nein, einen existentiellen Grund zum Revoltieren gab es eigentlich auch in der Endphase der DDR nicht. Niemand hatte Hunger im „real existierenden Sozialismus“. Brot war konstant sogar billiger als Getreide, Brötchen auch, und beides gab es immer. Stundenlang zur Arbeit pendeln musste auch niemand, weil die Neubaugebiete in der Nähe der Arbeitsplätze entstanden. Gemüse und Obst gab es ebenfalls. Na schön, aus heutiger Sicht gelten Rot- und Weißkohl, eine Apfelsorte und ein Dutzend Konserven nicht gerade als breit und tief gestaffeltes Obst- und Gemüsesortiment. Von der verfügbaren Menge je Verbraucher, Tonnage genannt, stimmte es schon, das Angebot. Klar, die innere Struktur! Aber die ist eine individuell empfundene Größe. Im sozialistischen Grundmodell weiter im Osten war das Niveau der DDR schon erstrebenswert. Hier dagegen mehr das unserer Brüder und Schwestern im Westen. Denn „das (die) im Dunkeln sieht man nicht“, schreibt wieder ein anderer Dichter, einer, der sicher auch bald vergessen sein wird.



Klar, Devisen für Importe waren knapp im „real existierenden Sozialismus“ und über Schlamperei schwieg man besser und begründete es damit, dass Obst und Gemüse nun einmal in unseren Breiten bei Frost nicht wachsen. So als hätte sich der siebirische Dauerfrost mit dem Gesellschaftssystem gleich bis zur Elbe ausgebreitet. Irgendwie vielleicht schon? Ja, das Vitaminangebot hätte besser sein können, zugegeben, aber tritt man deshalb gleich eine Revolution los? Unsere vom Skorbut geplagten Vorfahren kamen mit weit weniger aus, wie übrigens heute noch die größere Hälfte der Weltbevölkerung. Und die revolutionieren auch nicht gleich los, oder sagen wir, nicht immer. Das kann er also nicht gewesen sein, der Grund für das plötzliche Aufbegehren in der DDR.



Dursten musste auch niemand in der DDR, wenn ich mich verständlich ausdrücke. Und für weitere Bedürfnisse gab es ja immer noch die Kirche und die Gewerkschaft. Erstere war zuständig für die Seele des Volkes, zumindest für den Teil, der noch wusste, was das sein könnte: Seele! Letztere, im weitesten Sinne des Wortes, mehr für den Körper der Werktätigen. Dafür, dass sie friedlich blieben, die Volksmassen, und glaubten, dass die sozialistische Gesellschaft die höhere sei, die den Kapitalismus demnächst ablösen würde. Nicht sofort zwar, aber irgendwann bestimmt. Das schien sicher, deshalb brauchte man keine Reformen und auch keine Anpassungen an die Weltentwicklung. Wir waren es ja, die Erben des Manifests, nicht die da! Das wurde den Werktätigen geduldig erläutert. In Schulen, Universitäten, Parteischulen, Arbeitsbesprechungen, manchmal sogar auf Kampfdemonstrationen, Versammlungen während der Arbeitszeit, aber auch bei der Vergabe von Ferienplätzen oder Wohnungen. Komisch, warum blieb da nichts hängen?



Die Einheitsgewerkschaft garantierte die Vollbeschäftigung und dafür, dass Hinweise und Beschwerden der Werktätigen, über die Geschäftsleitung oder worüber auch immer, in den Gewerkschafts- und Parteigruppen zwar nicht behoben aber beraten wurden. Nicht wenige Völker der Welt haben uns auch um diesen Standard beneidet. Eine revolutionäre Situation sieht deshalb eigentlich anders aus. Schon Napoleon sagte einst zu seinem schlauen Minister, dem Fürsten Talleyrand-Périgord, dass er nur eine Revolution fürchte: die der leeren Mägen. Na und leere Mägen gab es nicht, trockene Kehlen genauso wenig. Was wir wollten, sei die Freiheit gewesen, behauptet unser Herr Bundespräsident. Ich dagegen bin überzeugt, dass viele Vieles wollten, die meisten aber die D-Mark. Das war sie, die eigentliche, die große Freiheit, wie … nein, lassen wir das Spekulieren!



Bleiben wir zunächst bei den kleinen Freiheiten, die in den Betrieben. Dort arbeitete die Gewerkschaft die allgemeinen Missfallensäußerungen der Werktätigen über alles und jedes ab. Insofern war sie wichtig, die Gewerkschaft, besonders wenn es in den Betrieben des Volkes brodelte. Angeheizt wurde die wachsende Unzufriedenheit natürlich durch das Westfernsehen. Das wussten wir. Aber auch die von Westreisen zurückkehrenden Rentner zeigten dafür, dass sie in den Westen reisen durften, keine Dankbarkeit, sondern schimpften wie Rohrspatzen auf Partei und Staat, die ihnen das erst ermöglicht hatten. Überhaupt wurde in der DDR immer mehr gemeckert. Diesen Unmut zu kanalisieren, war eine indirekte Aufgabe der Gewerkschaft. Das tat sie durch stundenlanges Palavern mit den Meckerern. Natürlich während der Arbeitszeit. Trat der Feierabend ein, gaben die Meckerer meist auf und entschieden, dass das Problem als gelöst betrachtet werden konnte. Warum gerade mit dem Feierabend? Weil im Arbeitsgesetzbuch der DDR geschrieben stand: „Schöpferische Auseinandersetzungen sind mit den Werktätigen zu führen.“ Von unbezahlten Überstunden zum Lamentieren stand darin nichts.



Entgegen der allgemeinen Annahme, besonders im Westen unseres Vaterlandes, gab es auch viele Kirchen in der DDR. Jedenfalls mehr als gefüllt werden konnten durch die Gläubigen. Das lag daran, dass sie, die Kirchen, eher unter der „nicht arbeitenden Bevölkerung“ wirkten. Die Damen und Herren Pastoren wollten sich einfach nicht den bewährten Praktiken der SED und ihrer Gewerkschaft anschließen und während der allgemeinen Arbeitszeit predigen. Sie änderten nichts und predigten stur weiter außerhalb der regulären Arbeitszeit. So als hätte sich nichts geändert im Staat des Saarländers. Kein Wunder, dass die Kirchen meist leer blieben. Man stelle sich nur einmal vor, Partei und Gewerkschaft hätten ihre Versammlungen nach dem offiziellen Feierabend organisiert! Dann wären ja die Kirchen besser als die Versammlungsräume gefüllt gewesen. Undenkbar!



Bezahlt wurden die Prediger aber alle vom Staat. Egal was sie predigten. Die Pastoren in den Kirchen, die Parteisekretäre in den Betrieben und die zahllosen hauptamtlichen Gewerkschafter auch. Nicht nur durch unsere unfreiwilligen Mitgliedsbeiträge. Erhalten wurden Kirchen vom Staat ebenfalls. So wie er die übrige Bausubstanz erhielt. Besser nicht, schlechter auch nicht. Einmal riss man auch eine Kirche ab. Das war in Leipzig und eine dümmliche Demonstration der Macht war es ganz besonders. Darüber wurde dann viel geschimpft. Sehr zu Recht. Dummheit muss eben bestraft werden, so oder so! Es gab aber auch neu gebaute Kirchen in der DDR, in Leipzig auch, sogar mehrere, aber über die redete man nicht. Höchstens über Mormonentempel, jüdische Synagogen und mohammedanische Moscheen. Ja, alles das wurde gebaut. In dieser Beziehung zumindest ging alles relativ gerecht zu in der DDR.



Ach ja, die Partei- und Staatsführung der DDR war schon ein stolzer Verein. Das heißt die Genossen waren stolz auf sich selbst, aber auch das ist ja eine Form von Stolz. Lange waren alle damit zwar nicht glücklich aber zufrieden. Ansonsten kümmerte sich jeder um seins. Jedenfalls ist es eine nachträgliche Erfindung der Altdissidenten, dass man keine kritische Meinung in der DDR haben durfte. Alles Quatsch, man sollte es sogar. Natürlich nicht gerade über die Partei, weil die ja immer recht hatte. Das wusste jeder und die meisten beachteten es auch. Die Regierung durfte man dagegen schon kritisieren, wenn sie, die Kritik, keinen allzu politischen Hintergrund hatte, gemäßigt vorgetragen wurde und ihr, der Regierung, zuvor genügend Erfolge zumindest aber positive Absichten bescheinigt wurden. Danach blieb dann meist alles so wie es war.



Bei Kritiken an den Firmenchefs und den sonstigen betrieblichen Leitern musste man keine Zurückhaltung üben. Im Ton nicht und auch nicht in der Sache. Die waren schuld an allen Missständen hieß es, nicht die Partei, die Regierung auch nicht. Doch in den Betrieben sollten die Anregungen und Hinweise der Werktätigen ernst genommen und beachtet werden. Auch das stand im Arbeitsgesetzbuch. Ich jedenfalls, als davon Betroffener, habe das kennengelernt, als ich die Politik von Partei und Regierung meiner Elektrikerbrigade in den noch zu beschreibenden „Arbeitsbesprechungen“ immer wieder positiv erläuterte. Gab es trotzdem Unmutsbekundungen an diesem oder jenem in der Firma, musste die Disziplin natürlich nach der Aussprache sanft wiederhergestellt werden. Der dafür gut geeignete Zeitpunkt, fand ich schließlich heraus, war die Quartalsprämienverteilung. Die Beratung darüber fand im Zusammenhang mit der Auswertung des sozialistischen Wettbewerbs in den Arbeitsberatungen statt. Da blieb der Ton gedämpft und Meckereien uferten nie aus. Waren sie verteilt, die Prämien, gingen wir zu den „kollektiven Gesamtinteressen“ über. Um diese „kollektiven Gesamtinteressen“ ric