Konstantinopel von unten und andere Schrecklichkeiten

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Konstantinopel von unten und andere Schrecklichkeiten
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Jürgen Rath

KONSTANTINOPEL VON UNTEN

UND ANDERE SCHRECKLICHKEITEN

Geschichten von der Seefahrt

literatur verlag josefine rosalski, berlin 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

Jürgen Rath, KONSTANTINOPEL VON UNTEN UND ANDERE SCHRECKLICHKEITEN – Geschichten von der Seefahrt

Literaturverlag Josefine Rosalski, Berlin 2015

© edition ♦ karo 2015, 1. Auflage

Literaturverlag Josefine Rosalski, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Porträtfoto des Autors: © Jürgen Rath

Umschlaggestaltung: K. B. Baring, Hamburg

Umschlagillustrationen K. B. Baring, Hamburg; Ph. Rath, Hamburg

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-937881-73-7

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Wettlauf mit dem Tod

Der Tod der alten Lady

Kollision vor Terschelling

Jenseits von Esbjerg

Unerwünschter Beifang

Der Masterplan

Konstantinopel von unten

Gefangen in der Irischen See

Das Totenschiff

Wet weather in the South

Glossar

Anmerkungen

Quellenangaben


WETTLAUF MIT DEM TOD

Es war ungemütlich an diesem 3. Dezember 1909. Der Sturm blies bereits am Morgen in einer Stärke, die Schlimmes befürchten ließ. Graue Wellen, wandernden Bergen gleich, drängten in den Jadebusen hinein, die Luft war eisig, nur wenige Grade über null. Vormann Tiarks hatte bereits am frühen Morgen seine Männer zusammengerufen. Sie standen nun vor der Rettungsstation Horumersiel, angetan mit Ölzeug und Südwester, die Korkwesten umgebunden, um sofort hinausfahren zu können, wenn es erforderlich sein sollte.

»Sieht aus, als würde es noch schlimmer werden«, sagte Bootsmann Behrens und rieb sich die kalten Hände.

Tiarks hüllte sich in Schweigen.

»Auf See möchte ich jetzt nicht sein«, sagte Behrens.

Tiarks nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Du musst nicht mit raus, Heinrich. Wir haben genügend Freiwillige.«

»Ich habe keine Angst. Nur so ein merkwürdiges Gefühl.«

»Deine Frau wäre sicherlich froh, wenn du aufhören würdest mit dem Rettungsdienst. Außerdem brauchen wir dich dringend an Land. Du bist der einzige Schuster im Ort.«

Heinrich Behrens blickte über die aufgewühlte Brandung. »Greta zündete jedes Mal eine Kerze an, wenn ich rausfahre. Vielleicht höre ich wirklich bald auf. Ich bin ja nicht mehr der Jüngste.«

»Du könntest jetzt schon aufhören.«

»Nein, nein. Eine Fahrt mache ich noch. Es sieht verdammt danach aus, als würden mich die Leute da draußen brauchen.«

In diesem Augenblick drang ein verwehter Schrei vom Dach des Rettungsbootsschuppen zu den Männern hinunter: »Schiff mit Notflagge in Nordost! Distanz drei Seemeilen.«

Es war 11.00 Uhr vormittags.

Die Lore mit dem schweren Rettungsboot rumpelte den Deich hinunter, über den Strand, in die See, wo ein Wasserschwall das Boot stoppte. Die Männer, die schon im Schuppen ins Boot gestiegen waren, fuhren die Riemen aus und legten sich ins Zeug.

Sie kamen gut durch die Brandung, denn hier unter Land waren die Wellen nicht sehr hoch, und außerdem hatten sie es oft genug geübt. Doch draußen war es mühsam und kräftezehrend, gegen den Sturm anzurudern. Immer wieder schlug das Boot quer, wenn es von einer Welle getroffen wurde. Und nicht selten fiel ein Mann von der Ruderbank, wenn er mit aller Kraft ruderte und plötzlich der Widerstand fehlte, weil der Riemen nicht mehr ins Wasser tauchte.

Vormann Tiarks stand hinten im Boot und suchte die See ab. Wegen der fliegenden Gischt war nur wenig zu erkennen. Schließlich, als sie auf einen Wellenkamm gehoben wurden, sahen sie das Schiff mit der Notflagge nicht weit von ihnen entfernt. Es war die holländische Tjalk Ora et Labora, die ungewöhnlich tief im Wasser lag. Der Schiffer stand an Deck und winkte mit einem Tau.

»Die ist leckgesprungen«, rief einer der Bootsleute, »die will abgeschleppt werden.«

»Mit unserem Boot können wir keine vor dem Sturm treibende Tjalk schleppen«, gab Behrens zu bedenken.

Vormann Tiarks überlegte einen Augenblick, dann hatte er die Lösung gefunden. »Wir rudern zu dem Kriegsschiff dort drüben hin. Das soll uns helfen.«

Auf der vor Anker liegenden Kurfürst Friedrich Wilhelm war man bereits auf die Probleme der Tjalk aufmerksam geworden. Das Kriegsschiff nahm den Anker auf und dampfte dem Rettungsboot entgegen. Die Marinesoldaten ließen zwei Trossen hinunter, die Rettungsmänner ruderten damit zum Havaristen, der bereits nahe an der Mellumplatte trieb. Heinrich Behrens, der vorne im Boot stand, reichte dem Schiffer die beiden Trossen. In diesem Augenblick wurde das Boot von einer hohen Welle getroffen. Es holte über, die Männer klammerten sich am Dollbord fest, und als sich das Rettungsboot wieder aufrichtete, war Bootsmann Behrens verschwunden.

Die Männer beugten sich über die Kante, sie starrten ins Wasser, und als der Bootsmann wieder an die Oberfläche kam, griffen sie zu und zerrten ihn an Bord. Heinrich Behrens stand das Erschrecken im Gesicht. Er sagte nichts, er blickte nur auf das Wasser, das ihm in Strömen aus der Kleidung lief.

»Heinrich, bist du in Ordnung?«, fragte Tiarks besorgt vom Ruder her.

»Ja, ja, alles in Ordnung. Wollte nur mal sehen, wie kalt das Wasser ist.« Behrens versuchte, den Vorfall herunterzuspielen, doch sein Südwester war in der See verloren gegangen und die Leute im Boot sahen, dass er vor Kälte zitterte.

Inzwischen hatte der Schiffer der Tjalk die Trossen an Bord befestigt. Das Kriegsschiff zog an, die Leinen streckten sich – da zerriss die erste Trosse. Kurz darauf riss die zweite den Poller mitsamt einem Teil des Decks aus dem Segler. Damit war die Verbindung abgerissen und die Tjalk trieb weiter auf die Sandbank zu.

»Wir fahren zurück und holen noch eine Leine«, rief Tiarks und warf das Ruder herum.

Die Männer hatten die halbe Strecke hinter sich gebracht, da rauschte es hinter ihnen. Es war die Kurfürst Friedrich Wilhelm, die mit hoher Geschwindigkeit auf die Jade hinausdampfte. Die Männer im Boot hielten inne, sie glaubten, ihren Augen nicht trauen zu können. Wieso fuhr das Kriegsschiff jetzt weg, wo sie doch mitten in der Bergung waren? Als die Kommandobrücke auf der Höhe der Rettungsmänner war, nahm der Kapitän der Kurfürst Friedrich Wilhelm die Flüstertüte an den Mund. »Wir können euch nicht mehr helfen«, rief er von oben herab, »wir hatten eine Grundberührung. Wir müssen in tieferes Wasser.«

Die Rettungsmänner hingen über den Riemen und blickten ihren Vormann ratlos an. Tiarks reckte sich hoch, schaute zu der treibenden Tjalk, dann zu der Sandbank, die schon recht nahe war.

»Das Schiff ist verloren«, sagte er, »lasst uns wenigstens die Leute retten.«

Wieder legten sich die Männer ins Zeug, wieder pullten sie gegen Wind und Wellen an.

Endlich hatten sie die Tjalk erreicht. Dort schien die Besatzung ihre aussichtslose Lage erkannt zu haben. Als das Rettungsboot an dem Segler entlangschrammte, sprang die Frau des Schiffers ins Boot. Im Arm barg sie ein Bündel, es war ihr drei Monate altes Kind. Kurz darauf folgten die beiden Matrosen und schließlich der Schiffer.

Wieder stemmten sich die Männer gegen die Fußhölzer, wieder zogen sie die Riemen durch. Nur Heinrich Behrens schien nicht mehr die nötige Kraft aufzubringen, seine Bewegungen waren merkwürdig schlapp.

»Pullt!«, rief Tiarks vom Ruder her. »Pullt, was ihr könnt! Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit an der Station sein. Wir müssen die Leute wärmen, sonst sterben sie uns weg.«

Die Rettungsmänner gaben ihr Letztes, doch gegen den Sturm und die Wellen kamen sie kaum vorwärts, da sie jetzt auch noch gegen den Ebbstrom ankämpfen mussten. Und unter Segel konnten sie auch nicht gehen, da der Wind von der falschen Seite wehte.

 

»Vormann!«, schrie plötzlich einer der Männer von vorne.

»Was ist los bei euch, Hauke?«,

»Ich habe einen Schatten gesehen. An Steuerbord.«

Tiarks legte das Ruder herum, kurz darauf kam ein kleines Boot in Sicht, halb mit Wasser gefüllt, in dem zwei Männer nur noch müde Ruderbewegungen machten. Mit vereinten Kräften zog man sie ins Rettungsboot. Wie es sich herausstellte, war es die Besatzung der gerade gesunkenen Tjalk Ettina, die auf der Jade leckgeschlagen war.

Die Rettungsbemühungen hatten den halben Tag gedauert, inzwischen war es dunkle Nacht geworden. Wegen des orkanartigen Sturmes konnte das Rettungsboot immer noch keine Segel führen, es musste weiterhin gerudert werden. Vormann Tiarks blickte über sein Boot nach vorne. Schemenhaft sah er seine Männer, wie sie die Hände um die Riemen krallten, wie sie verbissen ruderten. Zwischen ihnen kauerten die Schiffbrüchigen, frierend, mit unnatürlich weißen Gesichtern. Die Frau hielt den Säugling unter dem Mantel geborgen. Wir haben sie zwar gerettet, dachte Tiarks, doch noch sind sie nicht in Sicherheit.

Wieder richtete er seinen Blick auf die See. Die Wellen rollten heran, trafen auf das Boot, brachen sich am Bug, bäumten sich auf und überschütteten die Insassen mit Gischt. In solchen Augenblicken schien das Boot stillzustehen, ja sogar zurückzutreiben, trotz der Anstrengungen der Ruderer.

Immer noch orgelte der Orkan in unverminderter Stärke, die See brauste, es war dunkel und eisig kalt. Hoffentlich kommen wir rechtzeitig zur Station zurück, bevor die Unterkühlung einsetzt, dachte Tiarks. Er blickte auf den Kompass, jetzt mit besorgter Miene. Der richtige Kurs lag an, zusätzlich hatte er die Abtrift durch den Ebbstrom eingerechnet und auch den Wind berücksichtigt, doch in einer solch mörderischen Nacht war auf Erfahrungswerte keinen Verlass. Wenn die Flut nicht rechtzeitig einsetzt, dachte er, und wir immer weiter in die Nordsee hinaustreiben, dann könnte es gefährlich für uns alle werden. Lebensgefährlich.

Um 7.00 Uhr abends hörten die Rettungsmänner mit einem Mal ein bedrohliches Rumpeln und Poltern vor sich, das schnell näher kam.

»Da ist eine Brandung«, schrie einer der Bootsmänner, »direkt vor uns!«

»Wo sind wir?«, rief ein anderer erschrocken.

»Ruhe, Männer«, sagte Tiarks. »Das Festland kann es nicht sein. Dort hätten wir nicht diese Brandung. Wahrscheinlich ist es die Minsener Oldeoog-Platte.«1

Während man im Boot noch beriet, ob es möglich war, doch noch gegen den Ebbstrom auf das Festland zuzurudern, oder ob man die Landung auf der Sandbank versuchen sollte, waren sie plötzlich mitten in der Brandung. Kurz hintereinander schlugen drei Sturzseen über das Boot hinweg und füllten es bis zum Rand. Jetzt saßen die Leute im eiskalten Wasser. Das Boot schlingerte und rollte im Chaos der Brandung, alle mussten sich eisern an den Rettungsleinen festhalten, um nicht hinausgeschleudert zu werden.

Über den weiteren Verlauf der Rettungsaktion schrieb Vormann Tiarks in einem späteren Bericht:

»Unsere Versuche, das Wasser mit unseren Südwestern auszuschöpfen, waren vergeblich, da die Seen jetzt noch glatt über das Boot hinweggingen. Mein Bemühen war unter diesen Umständen darauf gerichtet, alle Insassen in Bewegung zu halten, damit sie nicht erstarrten. Jedoch, nicht lange danach, starb das Kind und dann die Frau, die ich vergeblich durch Einflößen von Kognak und Hoffmannstropfen aus der Bootsapotheke dem Leben zu erhalten versucht hatte. Nach und nach starben auch die übrigen Geretteten bis auf einen Mann, den Matrosen Smit von der holländischen Tjalk.«

Schließlich wurde das Boot von einer mächtigen Welle auf die Oldeoog-Platte gesetzt. Es krachte und splitterte, die Lebenden und die Toten fanden sich im Fußraum des Rettungsboots wieder. Mit einem Mal war Ruhe, gespenstische Ruhe. Das Boot lag ganz still, nur weiter hinten tobte die Brandung gegen die Sandbank und über den Rettungsmännern orgelte nach wie vor der Sturm.

Die erschöpften Ruderer hatten nicht mehr die Kraft, aus dem hoch am Strand liegenden Boot zu steigen, sie ließen sich von oben herab in den Sand fallen. Nur Bootsmann Behrens blieb sitzen. Er stierte mit roten Augen vor sich hin, das Gesicht war seltsam dunkel verfärbt, zwei seiner Kollegen mussten ihn auf den Strand herunterlassen. Dabei geriet einer von ihnen mit dem Bein unter das Boot, konnte jedoch glücklicherweise wieder freikommen, nachdem man einen Tunnel gegraben hatte.

Für die toten Schiffbrüchigen konnten die Rettungsmänner nichts mehr tun, jetzt galt es, das eigene Leben zu retten. Sie ließen die Leichen im Rettungsboot zurück und schleppten sich über den Sand. Der Sturm brauste immer noch, die Luft war mit Gischt angefüllt, doch zwischen den heranstürmenden Wolken fiel zeitweise etwas Mondlicht auf die Sandbank.

»Wenn die Flut kommt, ist es aus mit uns«, sagte einer der Bootsleute. Die beiden Männer, die Heinrich Behrens untergehakt hatten und ihn mit sich schleiften, nickten zustimmend.

Vormann Tiarks zeigte nach rechts. »Dort drüben müssen wir hin!«

Er war sich nicht sicher, ob ihn alle gehört hatten, denn einige der Männer waren schon weit zurückgefallen, doch das ließ sich jetzt nicht mehr ändern.

In der Ferne sahen sie die Bake, eine hohe Holzkonstruktion als Warnung für die Schifffahrt vor den gefährlichen Sänden. Der Anblick des hölzernen Schutzraums in Obergeschoss der Bake gab den Männern noch einmal Kraft. Dort waren sie vor dem eisigen Wind geschützt, es gab einen Ofen, Wasser und auch Decken, unter denen sie sich wärmen konnten. Schweren Schrittes schleppten sie sich weiter.

Die beiden Bootsleute konnten Heinrich Behrens inzwischen nicht mehr stützen. Da er von selbst keinen Schritt mehr machte, auch kein anderes Lebenszeichen von sich gab, also offensichtlich tot war, schleiften sie ihn hinter sich her.

Oben im Schutzraum zündeten die Männer den Ofen an und machten Wasser warm. Vormann Tiarks saß gegen die Holzwand gelehnt und beobachtete seine verbliebene Mannschaft, es war nur noch eine Handvoll. Im Geiste zählte er die Verluste auf: Vier Menschen der holländischen Tjalk gestorben, zwei von der Ettina. Und vier seiner Männer waren auf dem Weg über die Sandbank abhanden gekommen, die würde die Flut mitnehmen.

»Wo ist Heinrich?«, fragte er.

»Tot«, sagte einer der Bootsleute, »an Unterkühlung gestorben. Er war zu schwer, wir konnten ihn nicht die Leiter hochbekommen. Deshalb haben wir ihn mit seiner Rettungsweste unten an der Bake festgebunden.«

Sie zogen die nassen Kleider aus, wickelten sich in die Decken und wärmten sich aneinander. Sie tranken das heiße Wasser, dann glitten sie in einen unruhigen Schlaf.

Vormann Tiarks schlief nicht. Er saß gegen die Wand gelehnt, von Zweifeln geplagt. Was habe ich falsch gemacht, fragte er sich immer wieder, an welcher Stelle hätte ich anders entscheiden müssen? Oder war es von Anfang an zu gefährlich gewesen, hinauszufahren? Er kam zu keinem Ergebnis. Er hatte ein gutes Boot und eine erfahrene Mannschaft, doch in diesem Falle erwiesen sich die Naturgewalten als stärker.

Dann legte er sich die Worte zurecht, mit denen er Greta Behrens gegenüber treten wollte. Er verwarf sie wieder und überlegte sich einen anderen Beginn. Sie war jetzt Witwe, obwohl sie es noch nicht wusste. Witwe eines Rettungsmanns, der seine letzte Fahrt machen wollte. Seine letzte Fahrt, dachte Tiarks grimmig, wie passend. Die Kerze, die Greta vor dieser Fahrt angezündete hatte, war jetzt Heinrichs Totenkerze.

Danach ging er die Reihe der anderen Toten durch. Wie viel Hoffnung war noch heute Mittag im Boot gewesen, doch wie schnell war sie in Verzweiflung und schließlich in ein lang anhaltendes Grauen umgeschlagen. Und dann diese Abstufung des Schreckens. Dass man im Boot sterben konnte, war jedem klar, der sich für den Rettungsdienst meldete. Denn sie machten sich immer dorthin auf den Weg, wo die Not am größten war, und auf jeder Fahrt saß ein ungebetener Gast mit im Boot: der schwarze Geselle, der nur auf einen Fehler wartete.

Dass nicht nur Rettungsmänner, sondern auch Seeleute auf dem Meere zu Tode kamen, war nicht ungewöhnlich, das brachte der Beruf mit sich. Ärgerlich war nur, dass der Tod heute zugegriffen hatte, als sie die Leute bereits im Boot hatten. Dass allerdings auch die Frau und das Kind gestorben waren, bedrückte Tiarks schwer. »Frauen und Kinder zuerst« war das höchste Gebot in einem Seenotfall. Ja, doch, sie hatten die beiden zuerst ins Boot genommen, doch dann waren sie ihm unter den Händen weggestorben. Das Kind zuerst, weil die Mutter es nicht mehr wärmen konnte, und dann die Frau. Was nützen Hoffmannstropfen und Kognac gegen ein verzweifeltes Mutterherz?

Als der Tag graute, schreckten die Männer aus dem Schlaf hoch. Sie blickten über die Sandbank. Unten an der Leiter hing die Rettungsweste des toten Bootsmanns, doch er selbst war verschwunden, offensichtlich hatte ihn die Flut aus seiner Weste geschwemmt. Auch das Boot mit den Leichen lag nicht mehr am Strand.

Tiarks Blick wanderte über die Oldeoog-Platte. Kein Boot weit und breit. Doch da, ungefähr 400 Meter entfernt, auf der zweiten Bake, auf der es keinen Schutzraum gab, sah er vier zusammengesunkene Gestalten auf dem Holzgerüst kauern.

»Die können wir vergessen«, sagte Tiarks dumpf, »die sind erstarrt und erfroren. Aber wir müssen sie herunterholen. Sie sollen ein ordentliches Begräbnis bekommen.«

»Wie soll das gehen?«, fragte einer der Rettungsmänner. »Wir haben nicht einmal ein Boot, um uns selbst zu retten.«

»Der Herr ist auf unserer Seite, weil wir Retter sind«, sagte Tiarks mit fester Stimme.

Die Männer zogen ihre kalte, nasse Kleidung an und marschierten mit schweren Schritten über die Sandbank. Tiarks hangelte an dem Holzgerüst hoch, kletterte auf die Streben hinaus, in denen sich der erste Mann verkeilt hatte, und schaute in die starren Augen des Toten.

»Was willst du hier?«, flüsterte der Mann kaum hörbar.

»Ich dachte, du bist tot«, sagte Tiarks erschrocken.

»Bin ich auch. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich fühle nichts mehr. Ich bin tot. Und du bist ein Geist.«

Auch die anderen drei Männer waren zwar erstarrt, aber noch am Leben. Sie wurden mittels eines Flaschenzugs abgeseilt und zur Rettungsbake getragen.

Inzwischen hatte die Dampfbarkasse des Kriegsschiffs Kurfürst Friedrich Wilhelm die Oldeoog-Platte erreicht. Das Sanitätspersonal hastete mit Decken und der Medizinkiste über den Sand. Die unterkühlten Männer bekamen trockene Kleidung aus Marinebeständen, dann hauchte man ihnen mit heißen Getränken wieder Leben ein.

Schließlich wurde die geschundene Rettungsbootsbesatzung und der gerettete Matrose der holländischen Tjalk mit dem Boot des Kriegsschiffs nach Wilhelmshaven gebracht und von dort mit zwei Pferdewagen nach Horumersiel gefahren, wo sie endlich, zweieinhalb Tage nach ihrer Ausfahrt, eintrafen.

Seinen Bericht über diese Schreckensfahrt beendete Vormann Tiarks mit den Worten:

»Keiner von uns will hoffen, je eine solche Fahrt wieder mitmachen zu müssen, denn Wetter und See waren unbeschreiblich. Der verstorbene Mann unserer Bootsbesatzung ist der 55-jährige Schumachermeister Heinrich Behrens von hier.«2


DER TOD DER ALTEN LADY

Am 5. Oktober 1881 machten sich Schiffer Schütz mit der Brigg Luna von der englischen Südküste aus auf den Weg in die Nordsee. Ziel der Reise war der Hafen Burntisland in Schottland, wo eine volle Ladung Kohlen eingenommen werden sollte.

Die Reise verlief zunächst erfreulich schnell, denn das Schiff segelte im Ballast, also ohne Ladung. Im englischen Kanal blies der Wind von achtern und als Kapitän Schütz den Kurs an der englischen Ostküste entlang nach Norden änderte, drehte der Wind auf Südwest, so dass die Luna auch dort recht schnell vorwärts kam. Am 10. Oktober war die Brigg nur noch 120 Seemeilen vom Zielhafen entfernt.

 

Doch mit einem Mal änderte sich der Wind. Er drehte erst auf West, dann auf Nordnordwest und kam damit genau aus der Richtung, in die das Schiff segeln musste. Das war ungünstig, denn nun blieb der Besatzung nichts anderes übrig, als mühsam aufzukreuzen. Aber das war nun mal so auf einem Segelschiff, das bereitete niemand Sorgen. Viel unangenehmer war, dass der Wind ständig zunahm. Er brauste durch die Takelage, die aufgewühlte See rannte gegen das Schiff an, Gischt spritzte über das Deck. Die Mannschaft enterte in die Masten, um einen Teil der Segel zu bergen.

In der Kajüte beobachtete der Schiffer mit zunehmender Unruhe, wie das Barometer immer weiter in den Keller sackte. Das sah nach einem kräftigen Sturm, wenn nicht sogar nach einem Orkan aus. Er überlegte einen Augenblick, schaute zur Sicherheit noch einmal in die Karte, dann stieg er die Stufen zum Achterdeck hinauf. »Gehen Sie höher an den Wind, Steuermann«, sagte er, »wir müssen möglichst rasch unter Land kommen, bevor der Wind Orkanstärke erreicht.«

Wilhelm Kolmorgen, der Steuermann, wiegte bedenklich den Kopf. »Gehen Sie vorsichtig mit der Luna um, Schiffer. Die Brigg ist 40 Jahre alt. Die erträgt nicht mehr so viel wie ein neues Schiff.«

Schiffer Schütz wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. »Die Luna wurde im letzten Jahr in der Werft überholt. Es sind viele Planken ersetzt worden. Das Schiff ist fast neu.«

»Wenn Sie meinen«, sagte der Steuermann.

Es wurden zusätzliche Segel gesetzt und die Luna durch den Sturm geknüppelt, das Schiff schwankte und rollte beängstigend in den hohen Wellen. Im Logis hatten sich die Leute zwischen Tisch und Bank festgeklemmt, sie balancierten ihre Teller mit der Erbsensuppe in der freien Hand.

Einer der Matrosen lauschte auf das Knarren und Ächzen der Schiffsverbände. »Dass wir die little old Lady so quälen müssen«, sagte er und schüttelte verwundert den Kopf, »so einen Höllenritt hält sie sicherlich nicht lange durch.«

Einen Tag später, am Nachmittag des 11. Oktober, gingen die Leute bei Wachwechsel an die Pumpen, wie immer zu dieser Zeit. War das Schiff für gewöhnlich recht schnell lenz, so wollte jetzt das Wasser, das die Pumpen aus dem Laderaum holten, überhaupt nicht weniger werden. Die Seeleute schauten sich erschrocken an.

»Wir haben Wasser im Schiff«, meldete der Zimmermann.

Der Schiffer gab sich gelassen. »Das ist normal. Jedes Holzschiff macht im Sturm etwas mehr Wasser.«

Am Abend waren sie noch 90 Seemeilen von Burntisland entfernt, das mühsame Aufkreuzen hatte nur wenig Fortschritt gebracht. Wieder drehten die Matrosen an den Pumprädern, wieder wollte das Wasser kein Ende nehmen. Mit einem Mal verfärbte es sich schwarz, die Pumpen förderte kleine Kohlenstücke an Deck, dann versiegte der Wasserstrahl.

»Wir haben das Schiff lenz bekommen«, triumphierte der Schiffer.

»Nein«, widersprach der Steuermann, »die Pumpen sind verstopft.«

Schiffer Schütz stieg mit dem Steuermann in den Laderaum hinunter. Er hatte zusätzlich den Zimmermann mitgenommen, der die unumschränkte Autorität an Bord in Sachen Holzschiffbau war. Bereits auf der Leiter hörten sie das Wasser von einer Seite des Raums zur anderen rauschen. Unten im Laderaum stand es zwar nur eine Handbreit hoch, doch schon alleine das Geräusch des schwappenden Wassers ließ den Steuermann erschaudern. Mit der Petroleumlampe leuchteten sie die Bordwand ab. Durch unzählige Ritzen sickerte Wasser herein, Schiffer Schütz und der Zimmermann blickten sich betroffen an.

»Können wir die Leckage abdichten?«, fragte der Schiffsführer.

Der Zimmermann prüfte die Plankengänge und tastete im Wasser auf dem Schiffboden herum. Schließlich erstattete er Bericht. »Überall auf dem Schiff gibt es kleinere Leckagen. Auf dem Schiffsboden, an den Seitenwänden und sogar im Deck. Wir müssten das gesamte Unterwasserschiff andichten, Schiffer. Das ist mit Bordmitteln nicht zu schaffen. Und an die undichten Stellen hinter den Spanten kommen wir ohnehin nicht heran.«

Während sich der Schiffer und der Steuermann berieten, machte sich der Zimmermann zu einem weiteren Kontrollgang auf. »Hier!«, rief er plötzlich. »Der Kohlenvorrat für die Kombüse ist in die Bilge gerutscht und hat die Pumpe verstopft.«

Abwechselnd legten sich nun die Matrosen in die schwarze Brühe und versuchten, die Saugkörbe der Pumpe freizuräumen. Doch all die Mühe brachte nichts, denn es hatten sich Kohlenstücke weit oben in den Rohren festgesetzt, an die nicht heranzukommen war. So musste die Besatzung tatenlos zusehen, wie an den undichten Stellen das Wasser ins Schiff plätscherte und der Pegelstand im Raum zunahm.

»Vielleicht können wir das Wasser mit Eimern aus dem Raum holen«, schlug der Steuermann vor.

Schiffer Schütz blickte über die See. Gerade wieder hatte eine Welle das Schiff getroffen. Die Luna neigte sich zur Seite, eine See kam über die Reling und setzte das Deck unter Wasser. »Das bringt überhaupt nichts«, sagte er. »Dazu müssten wir die Luke öffnen, doch dann schlägt mehr Wasser in den Raum, als wir herausschöpfen können.«

Im Stillen musste Steuermann Kolmorgen seinem Vorgesetzten Recht geben.

Am 12. Oktober stand das Wasser bereits kniehoch. Der Schiffer und der Steuermann zogen sich zur Beratung in die Kajüte zurück, während der Zimmermann und die Matrosen wieder einmal erfolglos versuchten, die Pumpe in Betrieb zu nehmen.

»Das viele Wasser im Laderaum macht der Luna schwer zu schaffen«, sagte der Steuermann, »sie lässt sich kaum noch steuern.«

Der Schiffer nickte.

»Und der Wind hat noch einmal zugelegt. Wir haben jetzt 11 Beaufort, in Böen 12. Wir treiben zurück, weg von der Küste.«

Wieder nickte der Schiffer.

Die beiden Männer horchten auf das Brausen des Orkans, das Dröhnen der Brecher an der Bordwand, das Rauschen des Wassers im Laderaum, das Ächzen und Stöhnen der Schiffsverbände. Schiffer Schütz trat an den Kajüttisch und blickte lange in die Seekarte. »Wir ändern den Kurs«, sagte er schließlich. »Wir segeln über die Nordsee mit Wind von achtern. Wir werden einen norwegischen Hafen ansteuern und das Schiff dort reparieren lassen.«

Steuermann Kolmorgen schreckte vor dieser ungeheuren Ankündigung zurück. Es grenzte an Wahnsinn, mit diesem leckenden Kahn quer über die Nordsee zu fahren. Da brauchte nur der Wind zu wechseln – und schon trieben sie hilflos mitten im Meer, bis ihnen das Wasser bis zum Hals stand. Andererseits gab es wohl keine Alternative, sosehr der Steuermann auch danach suchte.

Die Fahrt vor Wind und Wellen entlastete das Schiff zwar etwas, doch ungeachtet dessen stieg das Wasser im Laderaum weiter an.

»Ob wir es noch schaffen?«, fragte einer der Matrosen im Logis.

Die anderen zuckten hilflos mit den Schultern.

Steuermann Kolmorgen ging auf dem Achterdeck auf und ab, wie immer auf Wache. Ein paar Schritte nach vorne, Segelstellung prüfen, dann nach achtern mit einem Blick auf das Kielwasser. Doch bei diesem Sturm war kein Kielwasser zu sehen. Hohe Brecher rauschten heran, der Wind zerrte an den Wellenköpfen und zerfaserte sie im Wind. Die Wellen waren schneller als das mit Wasser vollgelaufene Schiff, sie rauschten rechts und links vorbei, der Rudergänger musste höllisch aufpassen, dass die Brigg nicht querschlug. Wie es wohl ist, zu ertrinken, dachte Wilhelm Kolmorgen. Er konnte es sich nicht richtig vorstellen, wollte es auch nicht. Er hatte so viel Geld und Zeit in seine Ausbildung gesteckt, und jetzt, wo er endlich Steuermann geworden war, sollte er ertrinken? Er blickte auf die kleine Nussschale am Heck des Schiffes, das einzige Rettungsboot. Sicherlich, es war groß genug für die kleine Besatzung, doch konnte es auch diesen hohen Wellen trotzen? Nein, sagte sich Wilhelm Kolmorgen, ich ertrinke nicht. Ich bin noch zu jung, es ist zu früh zum Sterben. Ich kenne die See seit meiner Kindheit, ich werde sie genau beobachten. Und dann werde ich für mich entscheiden, wann es Zeit ist, ins Boot zu steigen. Ich ganz alleine!

Am Abend des 14. Oktober sichtete die Besatzung der Luna das starke Feuer von Lindesnes an der norwegischen Küste, Hoffnung zeichnete sich in den Gesichtern der Seeleute ab.

»Wird auch Zeit«, brummte der Schiffer, »das Wasser im Raum steht schon zwei Meter hoch.«

»Ich wundere mich schon lange, warum die Luna noch schwimmt«, sagte der Steuermann.

Sie waren nur noch drei Seemeilen vom Hafen entfernt, da sprang der Wind plötzlich auf Nordost um. Er kam damit von vorne und trieb die Brigg von der Küste weg. Mit einem Schlag waren alle Hoffnungen zunichte gemacht. Die Männer standen schweigend an der Reling, sie waren unfähig, ihre Verzweiflung in Worte zu fassen.

Schiffer Schütz versammelte die Besatzung um sich.

»Männer!«, rief er, »wir können Lindesnes nicht mehr erreichen. Der Wind lässt es nicht zu und die Luna gehorcht kaum noch dem Ruder. Deshalb werden wir unseren Plan ändern. Wir segeln nach Süden durch das Skagerrak. Morgen früh setzen wir die Brigg an der dänischen Küste auf den Strand.«

Am Vormittag des 15. Oktober kam die dänische Küste in Sicht, doch angesichts der hohen Wellen entschloss sich der Schiffer, erst einmal in sicherer Entfernung zum Land weiter nach Süden zu segeln. Allerdings erfüllte sich seine Hoffnung auf eine ruhigere See nicht. Der Sturm heulte unentwegt in gleicher Stärke, die Wellen gingen hoch, und überall an der Küste stand die gleiche tödliche Brandung. Um 2.00 Uhr nachmittags lag die Luna so tief, dass jeden Augenblick mit dem Sinken des Schiffes gerechnet werden musste.