Die Poesie des Biers

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Die Poesie des Biers
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Roth

Die Poesie des Biers


Jürgen Roth

Die Poesie des Biers

Mit Gastbeiträgen von Matthias Egersdörfer,

Marco Gottwalts, Christian Jöricke,

Friederike Reents, Michael Rudolf, Jörg Schneider

und Dieter Steinmann


Jürgen Roth, geboren 1968, lebt als Schriftsteller in Frankfurt am Main. Jüngst sind von ihm im Verlag Antje Kunstmann drei Hörspiel-CDs erschienen (Stoibers Vermächtnis, Der Untergang des Bayernlandes und Mit Verlaub, Herr Präsident …, die ersten beiden zusammen mit Hans Well von der Biermösl Blosn) sowie bei Zweitausendeins der Band Schrumpft die Bundesrepublik! (zusammen mit Michael Rudolf und F. W. Bernstein). Im Oktober Verlag liegen von ihm diverse Titel vor, darunter Anschwellendes Geschwätz, Fußball! (Buch und CD), Das perfekte Wirtshaus und, als Herausgeber, die Live-Lese-CD Der saubere Herr Rudolf.

2., korrigierte, überarbeitete und stark erweiterte Auflage

© 2010 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung

des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Claudia Rüthschilling

Umschlag: Tom van Endert unter Verwendung

eines Photos von Jürgen Roth

Alle anderen Bildnachweise am Ende des Buches

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-938568-91-0

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Ich hab’ nach vier Runden schon gemerkt, daß ich

so blau bin, da hab’ ich gemerkt: Oh, oh, das wird schwer!

Claudia Pechstein

Kann man einem Menschen trauen, der keinen

Alkohol trinkt? Ich habe da meine Bedenken.

Gerhard Polt

[…] dieses eine Bier hatte auf ihn gewartet, und

er hatte es noch nicht ganz ausgetrunken.

Malcolm Lowry: Unter dem Vulkan

Was soll man denn die Leute in den Geschichten immer trinken

lassen – nimmt man Whisky, muß man einen Revolver einbauen,

und bei Sekt wird die Beschreibung der Kleider der Weiber gleich viel

zu langwierig. Bei Bier schreibt man Bier, und damit hat es sich.

Franz Dobler: Bierherz

So sind zum Beispiel Bier, Wein und Denken

Reize, aber nur vom erstern ließe sich leben.

Jean Paul

Pilsner Bier ist das eigentlich einzige Alkoholgetränk,

das absolut für viele Leidende eine Medizin, ein Diätetikum, eine

Rekonvaleszenz, eine Erlösung, ein Heil erster Ordnung bedeutet!

Peter Altenberg

Bier ist unter den Getränken das nützlichste, unter den Arzneien

die schmackhafteste, unter den Nahrungsmitteln das angenehmste.

Plutarch

Da der Komfort das oberste Prinzip ist, so versteht es sich

von selbst, daß man Bier haben kann, wenn man einen

Menschen anzapft und ein Gefäß unter die Öffnung hält.

Karl Kraus: Varieté

Andere gehen am Vormittag in ein Wirtshaus und

trinken drei oder vier Gläser Bier, ich setze

mich hier herein und betrachte den Tintoretto.

Thomas Bernhard: Alte Meister

Trinkst du persönlich auch noch was?

Wirtin in der Frankfurter Gastwirtschaft Lokalteil

Bier hilft!

Jörg Fauser

Cerevisiam bibunt homines.

Es war alles Bier.

Heino

Man trank, um getrunken zu haben.

Jörg Fauser

Inhalt

Vorbemerkung zur zweiten Auflage

Vorbemerkung

Grußwort

Michl Rudolf, alter Seebär!

Ein Abend in Aufseß

Neulich am Tresen

Die einzig wahre Flaschenpost

Ein Flecken

Arbeiterfrühling

Der Russe

Vom Russ’

Aus der Welt der Wahrheit

Der Staub der Seele und das Grün des Gemüts

Kino

Kneipenkomik

Die Gasthaushölle und die goldene Gerste

Das Verschwinden des dicken Luftraums

Bier im Schuh

Trotz Zahlkraft der Heimat so fern

Alles fahren lassen

Beim Bistrobier belauscht

Beckett guckt Beckenbauer

Daseinsbewältigung 2008

Das heilige Viereck

Kleine psychosoziale Biertypologie

Bohlens Bier (im Kontext)

Die Blaue Bierblume oder: Ein hehrer Halunke und harter Herold

Wrba contra Rehse

Der Poet des Bieres oder: Ode an Helmut Stier

Kafka in Pirmasens

Dorst und Dorf

Eins für die Chefin

Von Dieter Steinmann

Das Zelt der Zerberusse

Vom Briten lernen

Von Dieter Steinmann

Aufklärung à la Albion

Leberwurstbauch

Auf Hemdknopfhöhe

Blonde Bräute in spe

Der oder das Radler – akzeptabel?

Oberneuses

Bock around the clock

Mosers Mühen

Oberharnsbach

Karnevalskirche

Paradigmenwechsel in Jesbach

Das lohnende Los

Bald Barbarei in Borgentreich?

Trauer um Spuckesepp

Der Bischoff-Bischof

Dummheit + Bier = Mildernde Umstände

Alle Irren

Richtig trinken

Mehrere Männer und zwei Frauen

Über den Biersatz

Erwähnenswerte Ereignisse

Sieh an, ein Anagramm!

Neue Überlegungen übers und beim Bier

 

Was A sagt, muß auch B sagen oder: Sich verabreden

Schnitzel, quo vadis?

Total wahre Anekdote über und zu Ror Wolf

Von der mangelhaften Lautlosigkeit im Schnitzelgebirge

Stadt, Land, Fluß

Ursprüngliche Bierakkumulation oder: Bloß eine Jugendsünde?

Unser liebes Bätzibaby

Biermanieren

Witz aus der Flasche

Auf, zum Teufel!

A Hardy’s Night

Fuller Frühling

Irrtum

Bierpoesie

Die zehn besten Biere vom Niederrhein

Die zehn besten Biere aus Franken

Die zehn besten Biere aus Sachsen-Anhalt

Das modernische Dingsda

Erneute Ereignisse und erwähnenswerte Erwägungen

Kneipenkomik II

Pappkameraden

Singendes Sitzfleisch

Der Herumführer

Trier an der Nordsee

Im Dienste der vielfachen Völkerverständigung

Jetzt mal ein paar Worte zu Gießen

Teufelswerk im Kloster Machern

Obere Wiese, untere Wiese

Die Rühreifrage

Spafallera

Wie wir Weltmeister wurden

Aussicht auf nichts

P13

Wolkensuche

Zugglück

Achtung, aufgeschichtetes Holz!

Kettenrauchen contra Katarrh

Auf der Jagd nach einer Dose

Lustprinzip im Modus der konjunktivischen Vorvergangenheit

Bierdeckelarithmetik

Mein terroristischstes Erlebnis

Gemischte Völker- und Tierkunde (nach Robert Gernhardt)

Australien doch nicht!

Wer ist Kafka?

Trinkorte, Nicht-Orte, Gegenorte

Tratschort Trinkhalle

Skatskandal

Die Marmelade am Hering

Da lacht die Leber

Dosenbierkrise

Schöner reisen nach Afrika

Von der Kunst des Negerphotographierens

Dreierlei Maßarbeit oder: Ein Tresentriptychon

Sprachlos

Die Fünf-Promille-Hürde

Die Biervision

Die besten Elf*

Breakfastbierbrezeling

Rechenkünstler

Es tritt auf: das Arschloch

Godesberger Farben

Monsters Of Miltenberg

Sommerausklang

Winzer und Würstl

Weinberater Gonzales

Gegen das Klavierspielen

Zehn bemerkenswerte, vielleicht sogar gesellschaftsrelevante Bierlieder

Der Abschaffelverein

Die Sonne im Sonnenhof

Rauschende Spiele

Welcome Asia Bistro

Pizza-Connection

Zwei oder drei, du mußt dich entscheiden

Jürgen Roth kauft sich eine Hose und geht zu einer Lesung – Ein Drama in drei Akten und mit glücklichem Ausgang

Bierwart Jubb

Magnetbier oder Bountybier

Kaufen, kaufen!

Medizin

Abstürze, Katerkunde

Schwund und Schund

Die guten Eindrücke von Lahnstein

Livealbum oder: Ein Remixroman in mehreren, nämlich ganzen drei Kapiteln

Anhang: Marken und mehr

Nachweise

Bildnachweise

Vorbemerkung zur zweiten Auflage

Jeden Autor freut es, wenn ein Buch von ihm vergriffen ist. Es wurde gekauft, womöglich sogar gelesen und weiterempfohlen. Also einfach geschwind eine Neuauflage drucken?

Nein. Bei Lesungen hat man gemerkt, daß dieser und jener Text an der einen oder anderen Stelle nicht richtig fließt, daß man hier ein wenig kürzen, dort hingegen eine Kleinigkeit einfügen müßte, daß sich ein Druckfehler, eine Wiederholung oder ein falsches Wort eingeschlichen hat. Die Suche nach dem »mot juste« (Flaubert), auf die man sich dann begibt, kann außerordentlich mühsam sein, denn sie verleitet einen dazu, die alten Sachen, die man Arno Schmidt zufolge fünfundzwanzig Jahre nicht mehr anschauen sollte, einer genauen Überprüfung zu unterziehen.

Das ist keine angenehme Arbeit. Ich habe alle Texte so penibel wie möglich durchgesehen, und das hat sich hingezogen. Deshalb erscheint die Neuauflage mit einem Jahr Verspätung. Zudem konnte ich es nicht lassen, noch etwelche Glossen, Reportagen, Geschichten, Aufsätze und Minidramen zu schreiben, und der Anhang ist auf das Fünffache des ursprünglichen Umfangs angeschwollen. Es werden dort jetzt 844 Biermarken inspiziert und bewertet. Ob es sie alle noch gibt, vermochte ich beim besten Willen nicht zu recherchieren. Wo das nicht der Fall ist, verweise ich auf das konservatorisch-eschatologische Moment von Literatur.

Im Verbund mit dem im Frühjahr 2009 erschienenen Band Das perfekte Wirtshaus liegen meine Texte zum Thema Bier nun gesammelt in Buchform vor. Dann kann es ja weitergehen.

Vorbemerkung

Vielfältig sind nicht nur die Lobgesänge, die die besten Dichter auf das Bier angestimmt haben, auf das älteste Getränk der Kulturgeschichte, die sinn- wie würdevollste Erfindung des Menschen. Eindrucksvoll vielfältig ist die Alltagspoesie selbst, die der Zungenlöser und Geselligkeitsförderer Bier anregt.

Die Poesie des Biers wendet sich einigen bemerkenswerten Aspekten und einigen abgelegenen Winkeln des unermeßlich weiten Bierkosmos zu, unternimmt Exkursionen in fränkische Bockbierparadiese und in Bierprovinzen, erzählt von Tresengesprächen und von konfusen Bierdiskursen – verpflichtet im wesentlichen den Gattungen und Genres Prosa, Polemik und Panegyrik. Zuweilen mogelt sich das Bier auch bloß vom Rande herein, was nicht bedeutet, daß es dann eine weniger wichtige Rolle spielt.

Im Anhang werden einige spezielle und nicht so spezielle Erzeugnisse der weltweit tätigen Brauwirtschaft begutachtet; mit 241 neu verkosteten Marken ist er als Ergänzung zu den Bänden Bier! Das Lexikon und Bier! Das neue Lexikon gedacht.

Der freundliche Hinweis auf Michael Rudolfs Opus 2000 Biere – Der endgültige Atlas für die ganze Bierwelt sei hier auch gestattet.

Grußwort

Bis zum April 1999 dachte ich, Herrn Rudolf ganz passabel zu kennen; diesen distinguiert auftretenden, edle Lederjacken schätzenden, stets leidlich gescheitelten, kotelettenfreien Herrn, der während seiner Jahre als Sudingenieur c/o Greizer Vereinsbrauerei ein reines Gespür für Hopfen, Malz und die Solistenkunst Ritchie Blackmores entwickelt zu haben schien; der bei gelegentlichen Luftspeedgitarrenwettkämpfen gar nicht mal »schlecht« aussah und dem Moment des musikalischen Glücks meist wohltönende Lautreihen zu schenken verstand; der, und wann findet man so was schon in unsren verlotterten Zeiten, ein Freund war. Bis zum April 1999 –

– da wir gemeinsam die Fränkische Schweiz bereisten und keine drei Tage später getrennte Wege gingen. Gehen mußten.

Ich könnte Sachen erzählen. Wenn hier zum Beispiel einer den Arsch offen hat, dann der feine Herr Rudolf. Der saubere Herr Rudolf, der sich vertraulich gerne »Brüsteforscher Rudolf« nennt, peppt jenen Trank, den er »testifizieren« möchte, mit Zigaretten auf, »um der schalen fränkokanadischen Hopfenkaltschale wenigstens etwas Power« zu »verleihen«. Ernste Verkostung gehorcht gewiß anderen Regeln. Der honorige Herr Rudolf, die Schnapsdrossel und temporäre Whiskyleiche, pflegt jede halbe Stunde zu fordern: »Laß uns noch einen Liter Bierschnaps wegputzen, du fährst ja« – die häßlichste der bekannten Formen des Bierdopings.

 

Der superbe Herr Rudolf gestand mir am Schanktisch des Aufsesser Brauhauses, bevorzugt bei geschlossener Flasche und »per Anblick« zu verkosten. Es ist der anständige Limofan Rudolf, der im Grunde nur nach Weibern ächzt und einen Dreck um die Weiterentwicklung der Bierliteratur sich kümmert. Die Notizen und Notate des Rauchbierrauchers Rudolf erfüllen samt und sonders den Tatbestand des Betrugs und wollen, erklärt er gegen zwölfe steinvoll johlend, »eh bloß dem verfickten Kunstgedanken Genüge leisten«.

Der edle Herr Rudolf, der ab einse »Mein Freund, der Frauenarsch« intoniert, ist ein akkurater Lump und nur zum Schein ein manierliches Mitglied der Menschengesellschaft. Mein Vertrauen hat er verwirkt. »Ich fress’ jetzt ein Schnitzel«, waren die letzten Worte, die er an mich richtete, bevor er ein Warsteiner köpfte, sein Rad bestieg und in den blitzend roten Horizont entschwand, um »dieses Scheißbuch runterzusemmeln«.

Immerhin: Drei Wörter hier sind wahr. Mehr als auf den folgenden Seiten.

Michl Rudolf, alter Seebär!

So hatten wir zwar nicht gewettet; aber Du hast es so gewollt: im Greizer Wald, wo Du vor vierzig Jahren zusammen mit Deinen Großeltern sämtliche bekannten Pilz- und Reharten der nordöstlichen Hemisphäre in einem Akt spontaner Willkür komplett um- und neubenannt hast, kurz nach dem Rechten zu sehen und dann die Lebensnot- und -mutreißleine zu ziehen.

Michl, alter, guter Stiefel: Jetzt trinkst Du uns im Deutschen Brauer-Bund-Himmel die siedend schönen Bierkessel auf eigene Rechnung leer und weg, und bei solch sauberer Feinarbeit wollen wir Dich auch nicht stören, auch wenn wir’s zu gerne täten. Aber, good old Lump, hinauf zu Dir brüllen und jammern dürfen und müssen wir doch: Keep on rockin’ and drinkin’ in a Binding-free world!

Deine Schwermutmatrosen von stets Deiner

Titanic

Ein Abend in Aufseß

Ich weiß nicht, ob ich richtigliege – vielleicht weiß man ohnehin praktisch nichts von jenen Dingen, die relevant sind –, aber eine autobiographische Miniatur aus Michael Rudolfs seit Mitte der neunziger Jahre in dichter Abfolge erschienenen Büchern lese ich heute als eine Art Programmschrift, die mir die Augen öffnet für sein schriftstellerisches und sein Lebenscredo, die er beide nie explizit formuliert hat.

»Topographie des Taumels« aus Der Pilsener Urknall (Leipzig 2004) ist die Hommage an den Bürgerhof überschrieben, an eine seiner zwei Stammkneipen während der Schulzeit in der DDR. »Die Schwerkraft wirkte höchstens symbolisch, damit die Leute auf den Stühlen blieben. Nicht daß es in dieser Topographie des Taumels einen einzigen Augenblick stille gewesen wäre. Immer gab es was zu erzählen und am meisten von denen, die ohnehin ihren ganzen Tag hier verbrachten. Selten waren die Gespräche ergebnisorientiert. Trotzdem funktionierte die vor der oralen Hysterie draußen hermetisch behütete – Achtung: Kalauer! – Oral history. Wohl weil deren Protagonisten stilsicher auch an den richtigen Stellen weinen konnten.«

Zwischen den »Distinktionsverlierern« und sozial Geächteten war ein Glück beheimatet, »da lebten sie auf, lebten sie vorübergehende Gleichberechtigung. Und fühlten sich als Subjekt.« Man sollte diese Sätze ganz und gar ernst nehmen. Michael Rudolf spricht hier ohne satirische Camouflage: »die Welt – und was für eine – in einer Nußschale.« – »Im Bürgerhof operierte die Kommandoebene eines Lebensverschönerungsvereines […]. Im Bürgerhof kam ich mir vor wie in einem Paralleluniversum: unendlich nah an der albernen Sinnestäuschung, die von der Menschheit als Leben hingenommen wird, und doch un(an)greifbar und Welten davon entfernt.«

Nicht greifbar und mitten im Leben – jedoch in einem Leben, das mit dem gewöhnlichen, realistisch abschilderbaren ›Leben‹ nichts gemein hat, mit dem Leben der Honoratioren und Dicketuer und »Kaufleute und Lokalpolitiker«, gegen deren herrschende Gegenwart eine Idee des Lebens steht, von deren Finalität Michael Rudolf im Rückblick auf den Abriß des Bürgerhofes etwas preisgibt, und zwar in einer kaum verschlüsselten absurden Figur: »Dem Wirt half dieser bittere Gegenschlag des Daseins wenigstens, den Kampf gegen seinen Selbsterhaltungstrieb zu gewinnen.«

Ich hatte das große Glück, Michael Rudolf 1994 kennenzulernen. Wir hatten bis dahin ein paarmal miteinander korrespondiert und telephoniert, und nun kauerten wir in der Frankfurter Messekoje seines Verlages Weisser Stein, mit dem er – unter beträchtlichem finanziellen Verlust – Autoren wie Gerhard Henschel, Susanne Fischer, Fritz Tietz und Eugen Egner die Tür zur großen Verlagswelt aufstieß.

Wir tranken irgendeinen hessischen Bierrotz und schienen uns zu verstehen. Zwei Jahre später kampierten wir dann in meiner Wohnung und schrieben Bier! Das Lexikon. Michael, der in der Titanic (4/1994) mit einer Parodie auf die Verkostungsliteratur die Blaupause für das schließlich juristisch von allerlei Seiten schwer bombardierte Buch geliefert hatte, war schon damals gesundheitlich angeschlagen – er machte vor allem die höllischen acht Jahre als Brauingenieur und Schichtleiter in der Greizer Schloßbrauerei für seine oftmals marode Verfassung verantwortlich –; aber in den zwei Wochen, in denen wir wie bekloppt zwischen Batterien von Bierflaschen aus aller Welt herumstaksten und nebenher unseren Unsinn in die Tasten klopften, war er nicht selten fast entfesselt ausgelassen. »Mit dir ist gut arbeiten«, sagte er plötzlich eines Abends strahlend, und ich muß gestehen, daß nahezu alles, was von dem Buch bleibt, von Michael stammt – natürlich auch mein Lieblingseintrag: »Beck’s Spitzen-Pilsener – 4,7% Brauerei Beck & Co. Bremen. Eigenartig: schmeckt immer so, wie man sich gerade fühlt, also meistens schlecht.«

Annäherungsweise begriffen habe ich erst Jahre danach, als er schlagartig keinen Schluck mehr vertrug und die peinigenden Schmerzen und multiplen depressiven Beschwerden den manischen Arbeiter zur wiederholten Krankschreibung zwangen, daß in dieser beiläufigen Biernotiz sein ganzes Lebensgefühl ausgedrückt war. Er schrieb trotzdem hartnäckig weiter und ließ ein bewunderungswürdiges Buch auf das nächste folgen: seinen wahrlich »wunderbaren Pilzführer« Hexenei und Krötenstuhl, den Roman Morgenbillich – die ostdeutsche Antwort auf den legendären Arnold Hau von Bernstein, Gernhardt und Waechter –, den in der Öffentlichkeit völlig untergegangenen, grandios albernen Kolportagepolitporno Chefarzt Dr. Fischer im Wechselbad der Gefühle oder die kleine monographische Liebeserklärung an die Artrockband Yes, Round About Jutesack. Michael war ein Genie.

Ich würde gerne von vielem erzählen; es ist hier kein Platz. Nie ist Platz. Ich würde gerne von unseren Forschungsreisen ins Böhmische erzählen, auf denen uns das montypythoneske Metal-Trio Primus erquickte, bis wir vor Vergnügen fast ins Auto kotzten, oder von unseren in jedem Frühjahr anberaumten Biertouren, deren erste in einer komatösen Pkw-Fahrt kulminierte, bei der uns der Allmächtige beigestanden haben dürfte und die wir mit einem Rockkassettenkonzert in meinem Wagen krönten, das die Bewohner des von Michael mehrfach porträtierten Dörfleins Aufseß nie vergessen werden.

Dieser duale Radau- und Klamaukkreis erweiterte sich auf Betreiben Michaels, der den normierten Gesellschaftsmenschen als Pest empfand und die freundschaftliche Geselligkeit über alles schätzte. Bald war ein stabiles Vergnügungsteam gebildet, das standhaft dem »Qualitätspilsener« (Michael) zusprach und es sich ein paar Tage pro Jahr sackrisch gutgehen ließ, inklusive der Kultivierung extraterrestrischer Katerphänomene.

Ich würde gerne erzählen von einem Abend in Aufseß, an dem wir uns ungeplant und stundenlang ausnahmslos in den allerdümmsten Phrasen unterhielten und dabei lachten, wie vielleicht noch nie gelacht worden war. Oder erzählen würde ich gerne von einem wahnsinnigen Verkostungsnachmittag bei Tucher-Bräu in Fürth, an dem uns der damalige Boß Franz Inselkammer nicht nur sein gesamtes Monstersortiment vortrank, sondern der Welt auch die Sentenz »Biertrinken ist erlebbare Realität« schenkte, die Michael in der Folge wie eine Art Zauberwort immer wieder aufgriff.

»Erlebbare Realität«: Das ist ein Schlüssel für Michaels Werk, im spöttischen und im emphatischen Sinn. An der Realität zu verzweifeln, zugleich verzweifelt zu versuchen, sie zu gewinnen, für sich und gegen die Wirklichkeitsmodellierungen derer, die einem immerzu nachstellen, indem sie einem über ihre Agenturen einhämmern, was man als ›Welt‹ zu akzeptieren habe – von diesen bisweilen grausamen Zwiespalterfahrungen erzählen Michaels melodiöse, grantige, bübisch übermütige, sorgsam krumme Geschichten und Satiren, und diesen Riß zwischen gelungener Welterfahrung, die Michael am Schreibtisch, unter Freunden, in der Familie, in der Rockmusik und in der idyllischen Natur ab und an machen konnte, sowie den unauslotbaren, tiefen Daseinszumutungen hat er, der von seinen Qualen hie und da in Andeutungen sprach, nicht mehr ausgehalten, als er am 2. Februar dieses Jahres um die Mittagszeit das Haus verließ, nur mit einem Rucksack, in dem ein Strick lag.

»Auch nicht angezweifelt werden darf die Dignität einer funkelnd hellgrünen Zitronenfalterraupe beim Schlürfen der Bierpfützen unseres Tisches. Diese Kreatur hatten wir schon in Heckenhof angetroffen, wo sie ihrer Daseinsform weitere Glücksmomente zufügte.« Das steht im letzten Kapitel des Pilsener Urknalls, in der Eloge »No Sleep ’til Nankendorf«. Zugefügte Glücksmomente – ich bin mir sicher, Michael hat dieses Oxymoron, das durch eine kleine Verschiebung, eine winzige Abweichung vom konventionellen Sprachgebrauch (Glücksmomente, die sich fügen o. ä.) entsteht, bewußt gewählt.

Ich habe diese unscheinbare, kunstvoll verhüllte Formulierung erst in diesen Tagen als das wahrgenommen, was sie ist: als bedeutendes Beispiel oder Moment der Poetologie, auf der Michaels Texte aufruhen und die seinen Arbeiten jenen ganz und gar eigentümlichen, barocken, enigmatischen und zugleich luftigen Sound verleiht, jenes spielerische Flair, in dem sich das Dunkle, Bedrohliche, schwer Sagbare in der Posse, im witzigen Kniff, in der Wortverdrehung, im artistischen Jux, in der Pointe vermummt. Wovon man nicht sprechen kann, damit treibe man Schabernack.

Seltener griff Michael zu den Mitteln der uneingeschränkt und notgedrungen brachialen Polemik – zuletzt in seinem Streifzug durch die sprachlichen und allgemeingeistigen Verwüstungen, die der nicht endende Kapitalismus anrichtet (Atmo. Bingo. Credo – Das ABC der Kultdeutschen, Berlin 2007), früher in kulturkritischen Interventionen, die der Band Trost und Unrat (Mainz 2001) versammelt. Das Cover ziert ein Bild von Ernst Kahl, auf dem ein Mann mittleren Alters am Galgen baumelt und von einem Kind als Schaukel benutzt wird, und die »Abrechnungen« und »Grobheiten« berichten von »mottentief im Haarkleid der Mutter Erde verborgen liegen[den] ostdeutsche[n] Kleinstädte[n]«, sie verhöhnen die Religion, das Fernsehen und die Zeitschrift Rolling Stone, für die Michael im WM-Sommer 2006 eine anbetungswürdige Abrechnung mit dem Fußball schrieb, sowie »diese überflüssige Drecksblase« der Musikjournalisten überhaupt, und sie vernichten den Deutschen als Gattungswesen und das von ihm verunstaltete Land, für welche Michael das Arno Schmidtsche Verdikt von der »Faß=Zieh=Nation« verwandte. Dem Buch vorangestellt hatte er ein Motto von Emile Cioran: »Habe ich die Fresse von einem, der hienieden irgendeine Aufgabe hat?«

Auf der vorletzten Seite des Pilsener Urknalls ist ein Photo zu sehen. Drei schwarzgekleidete Gestalten, von hinten aufgenommen (rechts Michael, in der Mitte Ina, links ich), schlendern einen sacht ansteigenden Feldweg in der Fränkischen Schweiz hinauf; am blitzblanken Horizont lagert eine schöne, buschig ausfransende Hecke; die Bildlegende, die Michael daruntergesetzt hat, lautet: »Die Himmelsrichtung.«

Er hat sich in der Fränkischen Schweiz wohlgefühlt; vielleicht war er in diesen versunkenen Tagen auch stundenweise glücklich. Denn geschrieben hat er über unsere jährlichen Ausflüge ins Reich der Weltruhe: »Wiese, Wald und Weide wechseln wie nicht gescheit. Die Nachmittagssonne sengt auf die Hochalbflächen, die Luft flimmert, die Köpfe dampfen bedrohlich, und Flüssigkeitsaufnahme dürfte jeden Moment essentiell werden. Ein bißchen in den Schatten legen könnte auch nicht schaden – die Luft ankucken, schweigen, Gedanken fassen oder in süßen Albträumen schwelgen.«

Am Montag wurde Michael Rudolfs Leichnam in einem Wald in der Nähe von Greiz von einer Pilzsammlerin gefunden. Michael Rudolf hat sich erhängt. Er wurde fünfundvierzig Jahre alt und hinterläßt seine Frau Ina und seine Tochter Eva.