Loe raamatut: «DarkZone»

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Juryk Barelhaven

DarkZone

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Inhaltsverzeichnis

Titel

DARKZONE

1.Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Impressum neobooks

DARKZONE

1.Kapitel

„Bei Windsurf-Pros sieht alles immer so spielend einfach aus. In diversen Videos fliegen die Sunnyboys stets perfekt und fehlerfrei übers Wasser. Dass aber auch selbst die Superstars des Sports immer mal wieder einen Abgang par Excellence machen, beweist dieser witzige Clip.“

(Extremsport-Ausgabe März, 2034, S.34)

Oberhalb des Bergmassivs löste sich eine Eisplatte und rutschte nach unten. Ehemals stabile Eisfelder hatten sich wie Adern jahrhundertelang in den Sedimenten gebildet und wurden durch das Schmelzwasser mehr und mehr ausgehöhlt, bis alles zusammenbrach. Der Prozess hatte schon im Frühling begonnen und durch den nahenden Winter – fast ein halbes Jahr später – den Ablauf beschleunigt. Die Kälte der Nordwinde festigte nicht den Grund, sondern beschwerte die obere Fläche mit zunehmenden Neuschnee, was zum Einsturz der Sedimente führte. Während immer neuere Schichten kollabierten, setzte eine Kettenreaktion ein, die nicht mehr aufzuhalten war. Die letzten stabilen Strukturen wurden just gegen Mittag von den herunterstürzenden Massen zermalmt und der ganze Südhang geriet in Aufruhr. Zum Südwesten hin fiel die Bergwand in mehreren Terrassen zwar senkrecht in die Tiefe, was die Wucht der Lawine erheblich abmildern würde aber bei den Massen gab es kein Halten mehr: der Berg würde reagieren und würde das Schrecklichste aller Ungeheuer losschicken.

Der Mann auf dem Bord hätte eine … Erscheinung sein können. Eine orange und gelbe Figur in Snowboardjacke und Kapuze; ein gehülltes Meisterstück sportiver Kleidung. Flink und eins mit den Elementen raste die Gestalt auf der ersten Welle und lenkte das Board unter seinen Füßen über unsteten Grund, der sich sekündlich veränderte. Eine Drehung zu viel, und er würde abtauchen in einen tödlichen Wirbel aus Eis und Geröll. Der sichere Tod.

Eine Lawine war das schlimmste aller Ungeheuer. Es versetzte auch den abgeklärtesten Verstand in Panik, denn sie brachte Tod und Zerstörung und ließ sich nicht aufhalten. Der entstehende Sog des Bruchs zermalmte Steine wie auch Bäume und die Wellen rasten ringförmig nach allen Seiten los. Die gesamte Geröllmasse geriet in Schwingung und konnte bis an die vierhundert Stundenkilometer erreichen. Die erste Welle transportierte eine Million Tonnen Schnee und eine entsprechende Menge Energie. Kurz vor der eintausend-Meter-Obergrenze wurde der Boden flacher, was die Masse abbremste aber nicht verlangsamte. Die Schneemassen türmten sich auf, da der Boden flacher wurde und die Welle erreichte eine Höhe von zwanzig Metern. Der Mann balancierte seinen Körper auf dem Board, während sein Verstand berauscht und fasziniert die verschiedenen Eindrücke verarbeitete: donnerndes Crescendo um ihn herum, der sichere Tod unter und hinter ihm, während sich sein grinsendes Gesicht schneeweiß vor Anstrengung färbte. Vor ihm wurden massive Kiefern wie Streichhölzer mitsamt Wurzeln umgeknickt und plattgedrückt; aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Blockhütte, die solide aus festem Stein erbaut worden war - doch es war nicht nur weicher Schnee, der mit der Gewalt von Riesen auf die Mauern eindrosch: Bäume und Steine trommelten ein Stakkato, Baumstämme rasten durch die Fenster, zerstörten das Mobiliar, als wären sie aus Pappe und begruben alles unter sich mit Schnee. Zum Glück hatte die Bergwacht schon vor einer Woche die Gefahr erkannt und den gesamten Galdhöppigen evakuiert: Menschen konnten erschlagen oder aufgespießt werden, von dem Sog mitgerissen und Gefahr laufen gegen die Wände geschleudert oder zermalmt zu werden. Wer sich unter Tonnen von Schnee und mit heiler Haut wiederfand, lief Gefahr zu ersticken oder zu erfrieren. Während die Natur ihr Recht auf Zerstörung einforderte, raste der einzige Mensch auf der heranrollenden Kuppe wie ein buntgecheckter Herold ins Tal und spielte mit seinem Leben.

Charlie O´Neill breitete die Arme aus, als das Gefährt immer mehr an Fahrt aufnahm. Der Lenker muss über ein extrem gutes Reaktionsvermögen, ein hervorragendes „Bahngefühl“ und eine ausgeprägte Feinmotorik verfügen. Schon kleinste Lenkbewegungen an der falschen Stelle können im schlimmsten Falle einen Überschlag verursachen! hörte er seinen Schneesportlehrer im Geiste zitieren, während sich alles nach unten neigte und stürzte. Sein anfänglich ungläubiges Staunen ging in einen erstickten Schrei über. Ihm hüpften die Eingeweide bis zum Hals. Er versuchte zu erkennen, wohin er raste, doch das Board unter seinen Füßen kannte nur eine Richtung, die von der Lawine vorgegeben wurde. Euphorisch grinsend balancierte er auf der Welle des Todes, während Kiefern und Felsen an ihm vorbei donnerten. Hinunter sauste er über Felsbrocken, hüpfte über Schneekämme, schoss durch eisglatte Tunnel und hochaufragende Felsspalten. Schneewehen bremsten die Fahrt der Lawine ein wenig, bevor er durchstieß und wie ein Kreisel auf der anderen Seite hervorkam. Er wagte nicht nach hinten zu schauen. Das konnte niemand verlangen. Hätte er es getan, hätte er einen ganzen Berg auf sich zu stürzen sehen und jede kleinste Abweichung hätte den Verlust der Balance und den sicheren Tod bedeutet.

Pfeilgerade schoss das Charlie mit seinem Board durch den Wald, passierte Bäume, Sträucher und gefährlich aussehende umgestürzte Bäume, die ihn ohne Probleme aufgespießt hätten, hätte er mit seinem Gewicht nicht dagegen gelenkt. Die Augen weit aufgerissen, sah er, dass das Gefährt nach rechts schwenkte, in die Öffnung eines eisbedeckten Tunnels: eine glatte, grünliche Rutschbahn, die schräg durch den Wald und wieder zurückführte und auf diese Weise den Hang mehrere Male kreuzte, bis sie in immer sanfteren Kurven in der Talsenke endete. Die Kraft der Lawine verebbte langsam, er sank tiefer und tiefer bis statt Schnee Gras und Steine das Board straucheln ließ. Wie durch ein Wunder wurde er sicher zum letzten Hügel über den Berg getragen, als er schließlich doch die Kontrolle verlor und wild überschlagend in eine Schneewehe landete, während der Ausläufer der Lawine mit Schnee und scharfen Geröll über ihn hinwegdonnerte.

Hier, auf dem letzten Stück seiner schwindelerregenden Fahrt, kam Charlie langsam zur Ruhe und duckte sich zu einer Kugel zusammen, während das katastrophale Ereignis wie ein Betrogener mit letzter Kraft an ihm rüttelte, um sich sein Recht einzufordern.

Mit angehaltenem Atem, zitternden Knien und zahlreichen blauen Flecken wartete Charlie – noch immer grinsend – in Sicherheit und lauschte auf die vorbeiziehende Kraft, die mehr und mehr an Kraft verlor.

Eine Decke aus Eis und Dunkelheit legte sich über ihm. Der Lärm ließ endlich nach. Charlie grub sich frei, stemmte sich gegen kiloschwere Hindernisse und stieg unsicher auf, schnupperte und machte ein paar taumelnde Schritte bevor er zusammenbrach. Der Berg, die Bäume, der Fluss, alles kippte und schwankte und kam nur langsam zu Ruhe. Zum Berg starrte er benommen zu einer ehemals weißen Fläche, die nun wie eine hässliche Narbe zum Tal führte und deutlich machte, welche Kraft gerade entfesselt worden war. Mühsam versuchte er die Welt anzuhalten, während sich alles drehte. Sein Board war gesplittert, feuchtkalte Stellen suggerierten ihm, dass sein Anzug undicht war … aber er hatte es geschafft! Er setzte sich unsanft in den Matsch, während sein Verstand wieder zur Ruhe kam. Schweratmend ließ er sich auf den Rücken fallen, reckte beide Arme zum Himmel und juchzte vergnügt, während das Adrenalin langsam abflaute.

Aber für einen langen Moment fühlte sich Charlie O´Neill lebendig wie selten zuvor.

+ + +

-Zwei Monate später-

Das Roxcorp MainOffice in Woodhill, Utah feierte die Fertigstellung eines neuen Flügels, indem es eine exklusive Besichtigung veranstaltete, ehe er der Öffentlichkeit übergeben wurde. Eine Teilnahme war nur auf persönliche Einladung möglich. Eine gravierte Einladung – der Verwaltungsrat scheute keine Kosten, da er schon lange erkannt hatte, dass Hauptgeschäftsstellen, auch wenn sie für die eigenen Mitarbeiter gedacht sind, stets als Aushängeschild für Kunden und der Presse dienen.

Steve Parker wartete, während der uniformierte Wächter nach der Einladung fragte, ehe er das junge Paar eintreten ließ. Die Stimme des Wächters klang arrogant und feindselig zugleich. Der junge Mann griff in die Innentasche seines billigen Smokings und reagierte erfreut, aber nicht überrascht, als er feststellte, dass seine Mutter daran gedacht hatte, die Einladung einzustecken. Aber sein Versuch, sie dem uniformierten Wächter zu zeigen, wurde mit einer abwertenden Haltung vereitelt. „Highschool Musical findet hier nicht statt, Kleiner. Falsche Garderobbe.“

Schnell beeilte sich Steve die Karte zu zeigen, die mit spitzen Fingern entgegengenommen wurde. Der Wächter las den Namen unwillig, doch sehr zur Freude des Gastes veränderte sich seine Haltung in Sekunden: „Der Boss erwartet sie im Penthouse. Wünsche angenehmen Abend, Sir“, sagte der Wächter, ein serviles Winseln in der Stimme, das für stumme Schadenfreude sorgte. Steve blickte auf die Brust des Wächters und gewahrte ein Namensschild aus Messing. „Vielen Dank, Bruce“, sagte er und ging an den Absperrseilen vorbei in den neuen Flügel des Komplexes.

Der neue Flügel sollte „Hier und Heute“ heißen. Er war für aktuelle Themen von gesellschaftlicher und kultureller Bedeutung vorgesehen. Die erste Ausstellung „Die Größe und Bedeutung Roxcorp“, war bereits aufgebaut und zeigte die Entwicklung des Mischkonzerns von einem Pelzhandelsposten in der Wildnis über eine Firma, die in verschiedenen Bereichen investierte und heute mit zu einem der größten Mischkonzerne gehörte: Hotels und Immobilien, Häfen, Einzelhandel, Telekommunikation und Energie und Infrastruktur. Der neuntgrößte Mischkonzern der Welt verfügte über einen Börsenwert von mehr als 47 Mrd. Dollar. Der Leitspruch „RoxCorp – Besser. Schneller. Kundenzufriedenheit.“ prangte wie ein Mantra auf allen Karten, Geschäftsbroschüren und dem Banner, das in der Eingangshalle hoch über allen Besuchern hing.

Steve zeigte dreimal seine Einladung, bis er in einem Fahrstuhl stand und den obersten Knopf drückte. Während der Fahrt entfernte er sich mehr und mehr von der Halle und starrte auf die buntgewürfelte Besuchermasse der Reichen und Schönen – ein kleiner Vorgeschmack auf sein zukünftiges Leben, wie er hoffte.

Oben angekommen, durchsuchten ihn zwei Leibwächter äußerst gründlich bis sie ihm mit Widerwillen bedeuteten, weiterzugehen. Neben einem Konferenzzimmer, einem weitläufigen Büro und einem privaten Raum verfügte die oberste Etage auch über einen Fitnessraum, der gerade intensiv genutzt wurde.

Steve bewegte sich langsam hinüber zur Glastür und empfand schon jetzt ein leichtes Grauen vor der Begegnung, die jedoch unvermeidlich war. Dort trainierte der CEO – der leibhaftige „Boss“ von allem - und in wenigen Augenblicken auch Steves Vorgesetzter, der einmal im Jahr einen der begehrtesten Praktikumsplätze des Landes an einen einzelnen BWL-Studenten verlieh. Eine hervorragende Chance und ein Sprungbrett nach oben – wenn man es nicht vermasselte.

An der Tür hielt er inne, um den Mann, der auf dem Laufband trainierte, einen kurzen Blick zuzuwerfen. Es war der Mann von den Broschüren von RoxCorp, das Gesicht der Firma, das man in einigen Werbespots einfach wiedererkennen musste, wenn man nicht gerade blind war. Charlie O´Neill, drahtig und schlank, bewegte sich wie eine Gazelle auf einem Laufband und wirkte wie ein Triathlet, der dem Körperkult ausgiebig frönte. Der fast 1,90 Meter große Mann trug seine Haare stets streng kurzgeschnitten und würde zum Ende des Monats zum „Sexiest Man alive“ gekürt werden – dafür hatte er selbst gesorgt. Viele seiner Kontakte arbeiteten seit langem schon an seinem Profil des perfekten Milliardärs und zukünftigen Politikers, der nicht nur schön, sondern zudem auch noch scharfsinnig und intelligent war. Laut wikipedia hatte er als Schüler Kurse in lineare Algebra besucht, hatte die volle Punktzahl im amerikanischen Uni-Eignungstest erreicht und an der Eliteuni MIT studiert. Er schrieb mehrere Bücher über mathematische, politische und sozioökonomische Probleme und konnte auf Koreanisch, Japanisch, Deutsch und Englisch kommunizieren. Das Magazin "Vanity Fair" und die Macher der TV-Show "60 Minutes" hatten die Abstimmung initiiert, an der 956 Befragte teilnahmen. Mit fast einem Drittel aller Stimmen konnte sich die notorische oder vielmehr Immer-wieder-Single-Mann an die Spitze setzen. 43 Prozent der Befragten waren der Meinung, er sei der attraktivste Prominente ohne ständigen Partner. Noch immer erreichten den Hauptsitz Liebesbriefe von männlichen wie auch weiblichen Singles. Er drückte beim Laufen seinen Rücken durch, war vermutlich Anfang Vierzig, von mittlerer Größe, mit einem in zwei dünne, gerade Linien geteilten Schnurrbart, der perfekt die dunklen Striche seiner Augenbrauen ergänzte, und einem markanten gefurchten Kinn.

Als hätte er den Blick des Neuankömmlings auf sich gespürt, wandte sich Charlie um ohne sein Lauftempo zu verlangsamen. Erstaunlicherweise reagierte der CEO mit einem strahlenden Lächeln, stellte das Band ab und winkte Steve zu sich, der wie in Trance alles in sich aufnahm. Der Praktikant betrachtete den hochgewachsenen, attraktiven Mann vor sich; einen Mann, der für sein Sportlerdress, den er trug, sicherlich mehr ausgegeben hatte, als er in einem Monat verdiente. Ganz zu schweigen von der Inneneinrichtung des Penthouse.

„Sie müssen Parker sein. Ihr erstes Pflichtpraktikum. Willkommen bei RoxCorp.“ Charlie O´Neill trat entschlossen heran und reichte ihm die Hand, während er mit der anderen sich den Schweiß von der Stirn abtupfte. „Ich möchte etwas klarstellen“, sagte er im Vorbeigehen und steuerte auf eine Bar an. „Eigentlich wollte ich mit dir die Ausstellung besuchen, aber mein Kater ist mordsmäßig. Also gebe ich mir Training, Antioxidantien, du weißt schon.“

Steve war überrascht, dass ein Mann, der so weit über ihm stand, so ungezwungen mit ihm redete. Sein Tonfall war weder herablassend noch kühl, und in seinen Augen funkelte echtes Interesse.

„Ja, Sir. Verstehe, Sir“, gab Steve zögernd wieder und kam sich deplatziert vor. „Danke für die Einladung. Sehr großzügig.“

Charlie blickte ihn aus schmalen Augen an und rieb sich das Kinn. „Kumpel, ich kann das nachvollziehen. Du bist schockiert.“

„Äh…ja?“

„Ja, du denkst: Oh, mein Gott, dort steht Charlie O´Neill und verdient mehr Scheine als meine ganze Verwandtschaft zusammen. Der Brötchengeber von vierzehntausend Menschen und Hauptaktionär von SpaceTec“, schmunzelte Charlie gelassen und winkte ab. „Vergiss einfach diese Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Scheiße. Wir sind nur zwei Typen in einem Büro. Ich will dich reden hören. Rede einfach mit mir. Teile mir deine intimsten Gedanken mit. Es gibt keine dummen Ideen. Lass uns unsere Gedanken teilen.“

Mit einem perplexen Gesichtsausdruck starrte Steve den Eigentümer an. Er hoffte, dass sich Charlie O´Neill nicht als homosexuell entpuppte und ihn zu Dingen zwingen wollte, die Steve garantiert nicht machen würde – Erfolg hin, Erfolg her. Man erzählte sich am Campus, Charlie würde aus reichem Hause stammen und hatte einen eh schon erfolgreichen Betrieb in Rekordzeit anwachsen lassen während Steve selbst in einem stadtnahen Diner Teller wusch und Zeitungen austrug, um sich überhaupt die Studentengebühren leisten zu können. Die beiden Männer trennten Welten – und jetzt gab sich sein zukünftiger Chef freundlich und kollegial, als wäre die Kluft zwischen beiden kaum der Rede wert. Aus einem Impuls blieb er bei der Wahrheit: „Ich glaube nicht, dass ich das kann, Sir.“

Charlie runzelte leicht die Stirn, aber lächelte noch immer. „Dann stell mir Fragen. Ich werde unverwandt antworten. Persönliche Details. Kaffee?“ Zwei Tassen wurden zubereitet, während Steve mit hochroten Wangen sich Fragen überlegte.

„Geburtsort?“

„Broken Bow, Nebraska“, erwiderte der CEO gelassen. „Aber ich erinnere mich nicht mehr daran.“

„Erstes Haustier?“

„Wir hatten keine Haustiere. Vater hasste Hunde. Mutter hatte eine Katzenhaarallergie.“

„Keine Goldfische?“

„Haben nie lange überlebt.“

„Erster Job?“

Zu seiner Überraschung zögerte Charlie kurz. „Nach meinem Besuch der EF Academy in Pasadena jobbte ich hier. Welch Überraschung“, schnaufte er leise und starrte Steve unverwandt an. Der Praktikant hatte diesen Ausdruck schon früher gesehen – diesen tiefen, unendlichen Schmerz als würden selbst die Reichen und Mächtigen unter persönlichen Dämonen leiden. „Ich lernte so die Arbeit meines Vaters kennen. Stieg gleich als Stellvertreter ein. Das hat seine Vorteile. Man arbeitet nur die Hälfte der Zeit, aber man verdient das Dreifache als alle anderen.“ Das sagte er voller Sarkasmus, als wäre Reichtum eine Bürde.

„Klingt großartig.“

„Ist es nicht. Glaube mir. Nächste Frage.“

Steve zuckte mit den Schultern. Nein, er hatte keine mehr. Er war im Begriff zu gehen, eine Entschuldigung zu murmeln und das Penthouse zu verlassen, doch er spürte, dass sein Gegenüber etwas von ihm wollte. Nicht einen Augenblick lang glaubte er, dass der Magnat sich ernsthaft um einen einfachen, kleinen Praktikanten interessierte, der nur für zwei Wochen zu Besuch war und dann wieder in den überfüllten Hörsälen verschwand. Vermutlich hatte der reiche Bonze sich nur in den Kopf gesetzt, einen Plausch mit einem einfachen Studenten aus der Unterschicht, „dem kleinen Mann“ zu halten, sich einen armen Schlucker gegenüber gönnerhaft zu geben, um sich selbst zu beweisen, wie gerecht und nett er sein konnte. Reserviert von der raschen Erkenntnis lächelte er dünn und wartete einfach ab, bis man ihn aus der Unterhaltung entließ.

„Pass auf“, sagte der CEO und trat näher heran. „Ist ganz einfach: wir können nur das Nötigste miteinander reden, ich gebe dir Anweisungen und du befolgst sie. Wir haken die Punkte einer Liste ab, und dann machst du pünktlich Feierabend. Und wenn dein Praktikum zu Ende ist, wirst du feststellen, dass du eine Riesenchance hast verstreichen lassen – nämlich mit mir die Schönheit der Finanzwelt gemeinsam zu bereisen.“ Dabei lächelte er gewinnend und breitete die Arme aus.

„Gut, Sir. Ich will es versuchen.“

Zufrieden nickte Charlie ihm zu. „Sehr schön. Christine gibt dir ein Tablet, ein Headset und deinen Anzug. Das Headset immer drin lassen, wenn du im Gebäude bist. Die Erklärungen hast du gelesen, verstanden und unterschrieben? Gut, dann kann es ja losgehen.“ Plötzlich wandte er sich ab und trat raus auf den Flur, wo er ohne zu zögern an seinen Leibwächtern vorbeischritt. Einer der Männer hielt ihm die Bürotür auf, und ließ dabei den Neuen nicht aus den Augen. Steve beeilte sich aufzuschließen und folgte hastig seinem Chef, der mit verschmitzten Klamotten sich ungeniert in einen roten Ledersessel fläzte. Eine breite Glasfront hinter dem Mahagoni-Schreibtisch zeigte das Industriegebiet bei Nacht, während zur linken und rechten Seite hohe Breitbildfernseher die neuesten Nachrichten sowie Börsendaten anzeigten. Ein Mekka für arbeitswütige Unternehmer, die tagtäglich mit Millionen von Credits hantierten.

„Warum ich, Sir?“ stellte Steve die Frage, die ihm schon seit Tagen unter den Nägeln brannte. „Es haben sich fast einhundert Personen für dieses Praktikum angemeldet…“

Zu seiner Überraschung lächelte Charlie geheimnisvoll und zog einen Ordner aus einem Stapel hervor. „Ich brauche keinen Ja-Sager, der nur das tut, was man ihm sagt. Ich brauche einen Firmenangestellten, der mir spezielle Angebote unterbreitet. Der in der Szene drin ist. Der mich mit der Szene vertraut macht.“ Ohne ein weiteres Wort fischte er aus dem Ordner eine einzelnes Blatt hervor und reichte es weiter, und als Steve es in den Händen hielt, bekam seine Miene einen reservierten Ausdruck.

Als Steve den Eintrag eines polizeilichen Berichts las, glaubte er kurz, dass sein Herz aussetzen würde: es stand seine Name drauf, seine Adresse und die Tat, die er begangen hatte – noch nicht so lange her, um es unter den Tisch fallen zu lassen und schwerwiegend genug, um es nicht als Bagatelle abzustufen. Er schluckte trocken und schaute hoch. „Sir, ich kann das erklären…“

„Entspann dich, Steve. Du kriegst keinen Ärger.“ Er lächelte breit wie ein Lehrer, der einen Musterschüler dabei ertappt hatte, ein Satzzeichen im Satz falsch gesetzt zu haben. „Das ist der Grund, warum du hier bist.“

Sein Gegenüber blinzelte verstört und kam nicht mit.

„Parkour“, half Charlie aus und deutete auf das Blatt Papier in Steves Händen. „Ziemlich cool. Commissioner Brandon meint, dass du tief drinsteckst. Finde ich cool, also erkläre ich dir jetzt, wie das läuft: Such mir Kicks, die ich nicht vergessen werde. Abenteuerurlaub, wenn du es so willst. Je extremer, desto besser. Ich bin ein Riesenfan.“

Steve erwiderte das Lächeln nicht, aber sein Gesichtsausdruck verlor etwas von der Panik, als er die Infos bearbeitete, die gerade seine Ohren erreicht hatten. Er blickte ihn skeptisch an. „Ist das ein Test, Sir?“

Charlie setzte ein kryptisches Lächeln auf und nutzte die Gelegenheit, um ein wenig anzugeben. „Mach mich glücklich, Steve, und ich verspreche dir, dass niemand mehr es wagen wird, von dir zu verlangen den Kaffee zu kochen.“ Ohne ein Antwort abzuwarten, stand er auf und umrundete den Tisch. „Ich war schon überall. Cave-Jumping in der Südsee. Extreme- Abfahrt in den Alpen. Sogar bei einem Autorennen in Mailand. Aber du kennst das, nicht wahr? Diesen Thrill, wenn man eine Grenze überschreitet – und die nächste und die nächste. Aber trotz meines Geldes komme ich nicht überall rein und ich will … überall reinkommen. Manche Türen öffnen sich nur für Eingeweihte. Mir fehlen die nötigen Kontakte. Traurig, aber wahr.“ Er zuckte entschuldigend die Achseln, als täte ihm die Sache leid. „Aber du hast eine Grenze überschritten, Steve, und unter uns, denke ich, dass ein wenig Parkour niemanden schadet. Nur meine Meinung.“ Er grinste freundlich und reichte ihm erneut die Hand. „Hol Angebote rein. Ausgefallene Ideen. Brandgefährlich. Ich bin Charlie.“

„Steve, Sir.“ Er meint es ernst, dachte Steve und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, während er zögerlich die Hand ergriff und sie schüttelte.

„Morgen früh um zehn Uhr hier in meinem Büro. Du wirst es nicht bereuen, Steve.“

Steve blickte in die Augen und was er sah, ließ ihn kurz frösteln. Vor einigen Jahren, als Steve Parker auf der Flucht vor dem Gesetz gewesen war, hatte er diesen Blick wieder und immer wieder bei jungen Leuten gesehen, die … mehr wollten. Mehr vom Nervenkitzel, dem Rausch und dem Adrenalin. Steve kannte gut das Gefühl und hatte sich erst zögerlich, dann bestimmt von diesem Exzess verabschiedet, als gute Bekannte wie auch Freunde einen zu hohen Preis bezahlt hatten: einer war beim Diving mit einem Frachtzug gestorben und sein bester Freund hatte bei einem Sprung von einem Hochhaus einen irreparablen Hirnschaden davongetragen – das war der Moment gewesen, als Steve sich schweren Herzens losgesagt hatte. Und Charlie O´Neill…

… der schwerreiche Magnat und sein Chef…

… wollte mehr.

+ + +

Die mattgraue Limousine war unauffällig bis auf die Aufschrift REXCORP – SHUTTLE auf den vorderen Türen. Der Chauffeur saß hinter dem Lenkrad und steuerte den Wagen durch die Stadt.

Charlie O´Neill wirkte auf dem Rücksitz wie ein gelangweilt dreinblickender Dandy mit Gamaschen und eleganten Smoking, als wäre er an einem Samstagabend auf dem Weg zum Theater statt an einem Dienstagmorgen auf dem Weg zur Arbeit. Er hatte es sich nicht nehmen lassen persönlich Steve Parker aus dem Bett zu klingeln und ihn gleich mit zur Arbeit zu nehmen. Kaum sechs Uhr in der Früh hatte der CEO schon einen Drink in der Hand und plapperte drauflos, als würde er seine exzentrische Art geradezu feiern wollen. „Zwei Wochen lang werde ich dir alles zeigen. Von unserer Zweigstelle bis zum Mainoffice, von der Postabteilung bis zur Buchhaltung, von den EPGs bis zu den Teamkonferenzen. Ich betrachte die Welt aus der Makroperspektive; was bedeutet, dass mich die kleinen Probleme nicht interessieren. Denke groß, halte Schritt und mein Bericht für dich am Ende der nächsten Woche liest sich wie ein Lobgesang. Ich halte mein Wort, Steve, und was ich jetzt von dir brauche, ist dein Teil. Was hast du für mich?“

Jetzt geht es los, dachte Steve und holte seine Ausdrucke hervor. „Charlie, ich habe vier Vorschläge. Sie sind nicht ausgereift, aber… ich möchte darauf hinweisen, dass selbst die Veranstalter vor den Gefahren warnen. Bei allem, was Sie mir gesagt haben, wollen Sie wirklich etwas erleben, und ich habe nur die Angebote, wobei… man sterben kann.“

Charlie O´Neill drehte den Kopf und nuckelte an seiner Pina Colada. „Das höre ich gerne.“

„Extreme-Abfahrt und Bergtour am Mont-Blanc. Dauer: vier Tage, Kosten rund viertausend Credits und ein Sondertraining das ein halbes Jahr vorher gebucht werden muss. Der Veranstalter bräuchte ein unterschriebenes Dokument Ihres Hausarztes…“

„Lass mich dich unterbrechen“, sagte Charlie ruhig. „Das habe ich schon gemacht. Viermal.“ Seine Augen wirkten schläfrig, als würde er zum wiederholten Male einen alten Witz hören. „Aber ein guter Anfang, schätze ich.“ Charlie blickte ihn wohlwollend an, doch mit einem hungrigen Funkeln in seinen harten Augen. Einen Moment später verschwand dieser Hunger, und nun machte der Magnat einen beinahe väterlichen Eindruck.

Der zweite Ausdruck wechselte den Besitzer. „In Südfrankreich startet an diesem Wochenende die Meisterschaft im Parkour-Laufen…“

„Wie soll ich bei den Profis mithalten? Das ist die Meisterschaft, Steve, da falle ich nur auf. Die Investoren werden sich über mich das Maul zerreißen.“

„Zuviel Aufmerksamkeit, verstehe“, erwiderte Steve und griff zum nächsten Blatt Papier. „Also… Tschernobyl? Führung mit Zelten? Für rund dreihundert Credits. “

„Und im Hintergrund knattert der Geigerzähler, was?“

„Sie haben recht. Blöde Idee.“

Charlie schnalzte mit der Zunge und blickte aus dem Fenster. „Vor einem Monat war ich drei Tage bei einem Kopfgeldjäger in Ohio. Schnaps, Zigarren und Knarren. Wir haben einen Drogendealer hochgenommen, Steve. Für nur fünfhundert Dollar. Und du kommst mir mit radioaktiven Ferien! Fliegt man da nicht hin, um Geschwüre zu bekommen? Ich frage nochmal“, sagte er gedehnt. „Was hast du noch?“

Steve schluckte schwer und überlegte, ob er seinen Trumpf ausspielen sollte. Langsam zog er einen gefalteten Pdf-Ausdruck hervor, strich das Blatt glatt und reichte es herüber.

„Was ist das?“ wollte Charlie wissen und starrte auf einen engbeschriebenen Text mit Rechtschreibfehlern und unnötigen Ausführungen, die offensichtlich von einem Laien geschrieben wurden – eingerammt mit einem schlecht gemachten Foto einer Wohnanlage, vor der einige Palmen zu sehen waren. „KURGISIEN UND SEINE DARK ZONE– Chronik einer Katastrophe.“

Steve atmete leise aus, wobei er sich zwang, nicht gleich genervt zu wirken. Stattdessen beugte er sich vor und deutete auf den Artikel. „Das Hotel war noch im Bau, als der Aug-Vorfall Ende 2027zuschlug. Im Anschluss an diesem Vorfall wurde das Hotel aufgegeben und Kriminelle nahmen dort Zuflucht. Seit drei Jahren ist das gesamte Hotel besetzt. Da das Militär die Anlage nicht räumen konnte, haben sie eine Mauer drumherum gezogen. Dort leben auch Zivilisten.“

„Wieso?“

„Wieso? Das ist noch die einfachste Frage.“ Steve hielt inne, als ihn der CEO missbilligend anstarrte. „Man hört die übelsten Geschichten“, raunte er leise.

„Ich meine, wieso zeigst du mir das!?“

„Charlie, wenn Sie den Kick suchen, dann werden Sie ihn dort finden.“

Der Mann vor ihm schwieg, doch anstatt den Ausdruck in seinen Händen zu zerknüllen oder achtlos wegzuwerfen, setzte er eine nachdenkliche Miene auf und starrte lange auf das Blatt vor sich, während die Limousine weiter durch den zähflüssigen Verkehr schlich.

„Sie gehen rein, holen einen Beweis und schleichen sich wieder raus.“

„Klingt nach Tschernobyl.“

„Klingt nach Einmalig-Extreme-Hardcore, Sir“, sagte Steve geradeheraus. „Sie wollten etwas Extremes. Keine Kameras, keine Öffentlichkeit und jede Menge Gefahr. Sie bestimmen selbst das Tempo, und die Gefahr besteht darin … bloß nicht aufzufallen. Sozusagen im Schleichmodus. Sovereign Palace, in Buccaneers Bay, gibt es eine Bibliothek. Wenn Sie von dort ein Buch organisieren könnten…“

„Warum?“

„Der Stempel des Hotels gilt als Beweis.“

„Verstehe.“ Der CEO starrte auf das Papier vor sich, das voll mit wildesten Versprechen war und seinen Ehrgeiz herausforderte. Er war kein Narr: niemanden in der Welt musste er etwas beweisen, niemand würde so etwas von ihm verlangen – Charlie O´Neill war sein eigener Herr und hatte seinen eigenen Kopf. Etwas Neues. Und da war noch mehr… niemand hatte je so etwas unternommen. „Wow!“

„Wie finden Sie es?“

Steve konnte förmlich schmecken, wie sich bei seinem Gegenüber der Vorschlag am Rand seines Bewusstseins drängte, an den Nervenenden des CEOs sich wundscheuerte und ihn herausforderte. Ihn lockte.

„Wow!“ Charlie lächelte sanft auf das Blatt herab, als würde sich eine neue Idee zum Geldverdienen vor ihm präsentieren. „Das… hatte ich nicht erwartet…“ Ein Ausdruck der Erregung huschte über sein Gesicht, und in dem Moment wusste Steve, dass er gewonnen hatte. „Gute Arbeit, Steve.“

€7,49

Žanrid ja sildid

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ISBN:
9783754999912
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Selle raamatuga loetakse