Fürstin des Nordens - Trilogy

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Fürstin des Nordens - Trilogy
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Fürstin des Nordens

Chronik in drei Teilen

Die jüngste Fürstin
1

Der Soldat taumelte die letzten Schritte auf die Kante der Klippen zu. Am Rande des Abgrunds fiel er auf die Knie. Weit unter ihm breitete sich die weite Schneeebene aus. Während die Sonne sank, ließ er den Blick über die vereiste und felsige Landschaft schweifen, ein Spiegelbild seiner Seele. Aus dieser Höhe sah er, dass viele seiner Kameraden wie er auf die gleiche Idee gekommen waren – hinweg über Meilen einer fast schon geraden Fläche lagen die gefallenen Körper seiner Legion. Zwischen den zahllosen blauen Tupfern stachen auch größere, braune Flecken auf: berittene Einheiten hatten dem Feind nichts entgegenzusetzen vermocht.

Es war ein von Gott verfluchtes und dämonisches Land. Sie hätten niemals herkommen sollen.

Der Mann namens Francesco de Palma riss sich den Soldatenhelm vom Kopf und schleuderte ihn hinter sich. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen stieß er sein Schwert tief in den kalten, harten Boden. Der Knauf mit dem Zeichen der Neuen Republik und das Heft bildeten vor dem Hintergrund der sinkenden Sonne ein Kreuz.

Der Mensch betete um Erlösung, um Vergebung, um Errettung.

Er war ein Soldat aus dem Süden des Kontinents, der zusammen mit seiner Armee im Auftrag seines Landes dieses nördliche Land namens Norfesta einnehmen sollte. Mit seinen eigenen Händen hatte er vor einer Woche den Dörflern am Rande der Grenze die Kehlen aufgeschlitzt. Seine Einheit hatte geraubt und geplündert – die notwendigen Begleiterscheinungen eines Feldzuges gegen das Königreich Norfesta, das seinem Land schon immer den Reichtum neidete - doch die Menschen waren nicht das Problem gewesen. Vor wenigen Minuten hatten sie dem wahren Herrscher des Landes ins Antlitz gesehen. Die Schreie seines letzten Kameraden hatten ihn bis zu diesem Vorsprung oben auf der Klippe verfolgt.

Aber schließlich waren alle verstummt.

Das Gemetzel war vorüber.

Das war also Norfesta.

Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf über die Tatsache, dass er sich noch vor einigen Wochen über Langeweile beschwert hatte. Zusammen mit seinen Männern schwelgte er darin, was sie mit ihren Reichtümern anfangen würden; voller großen Ideen und großer Träume. Als sie davon hörten, dass sie das nördliche Norfesta von seinen Werwölfen befreien und in die Republik eingliedern sollten, hatten sie sich im Recht gesehen und über die dummen Tiere gelacht, die es gegen eine ganze Legion aufnehmen würden.

Von wegen dumme Tiere!

Jetzt konnte er zurückkehren. Statt mit Truhen voller Reichtümer und Wundern im Gepäck, das eines Königs würdig war, würde er allein zum nächsten Hafen gelangen müssen. Dort wartete bestimmt ein Boot, das ihn in seine Heimat zurückbrachte. Dort würde er seiner Garnison Bericht erstatten und einfach auf den nächsten Befehl warten. Geduldig alle Fragen beantworten. Zum Beispiel, warum er als Einziger überlebt hatte.

„Sie sind flink, wenn sie ihrem Tod ins Gesicht sehen.“

Es war die dröhnende Stimme eines sehr großen Mannes, die ihn erschauern ließ. Hinter ihm lösten sich Gestalten aus den Schatten und kamen hinter großen Felsbrocken hervor. Es waren Männer und Frauen – ausnahmslos nackt, beharrt und groß – und ihre Leiber glänzten von Schweiß und Blut der gewonnen Schlacht. Sie brauchten keine Rüstung und keine Waffen. Mit eigenen Augen hatte der Mann gesehen, mit welcher Leichtigkeit nur einer dieser verfluchten Geschöpfe in der Lage war! Eine Armee aus Monstern, die sich die Kraft der Wölfe teilte… geschaffen aus Wut, Zorn und bestialischer Kraft.

Er erbleichte und wich zurück; jetzt wusste er, dass er tatsächlich verflucht war.

Die wahren Herrscher Norfestas näherten sich ihm.

Gekommen, um ihn in die Hölle zu zerren.

Der Größte von ihnen sprang zu ihm hin, stieß ihm das Schwert aus der Hand und packte ihn am Kragen, als wäre er ein Kind mit einem Stock. Mit nur einem Arm hob er ihn hoch, die Krallen bohrten sich ohne Mühe in seinen wattierten Waffenrock und Francesco gellte schmerzerfüllt auf. Der Hüne ließ sich Zeit. Seine gelben Augen ruhten auf den Mann, taxierten ihn und schienen mit ihrem unheimlichen Schein ein stummes Versprechen zu senden.

Die Beute schloss die Augen und erwartete den Tod.

Mit einem Ruck landete er im Dreck und bibberte vor Furcht, als die Scharr näher und näherkam. Männer und Frauen starrten nicht ihn an, sondern den Hünen, der sich ihnen zuwandte. „Holt Claudile her“, ächzte er grollend.

Lange geschah nichts.

Dann kam sie. Ein Mädchen.

Schmal und nackt, nicht älter als zehn vielleicht zwölf Lenze und weit von der Reife einer Frau. Ihre Haar, schulterlang und flammendrot, bewegten sich wie wallend über ihre Schultern. Sie würde in ein paar Jahren eine schöne und begehrenswerte Frau werden – doch für derlei Gedanken hatte der Soldat gerade keine Zeit. Ihre Augen glühten nicht weniger unheilvoll, und da wusste er, was die Stunde geschlagen hatte.

„Töte ihn“, grollte der Hüne und blickte sie streng und mitleidlos an.

Der Mann wich vor ihr zurück, doch hinter ihm war die Klippe und vor ihm die Monster aus seinen Alpträumen, die ihn bald nicht mehr heimsuchen würden. Mochte sie noch ein Kind sein – der Soldat zweifelte nicht daran, dass sie ihn mit Leichtigkeit töten würde. Er schluckte hart und wimmerte laut – nicht aus Kummer, weil er wusste, dass er heute sterben würde. Sondern weil er versagt hatte. Norfesta würde sich niemals beugen.

Gnadenlos, unaufhaltsam kam das Kind auf ihn zu.

Sein Schrei zerriss die Nacht, aber alles, was Francesco de Palma hörte, war ein kleines Wort.

„Nein.“

Er blinzelte verwirrt, machte die Augen auf und blickte zu dem Mädchen, das ihn traurig ansah.

„Nein“, wiederholte sie und stellte sich dem Hünen entgegen, der sie funkelnd anstarrte.

Ein Ruck ging durch die Menge. Während der einsame Soldat sich vor Schmerzen wand, bekam er mit, wie die Wölfe sich teils sprachlos teils verwirrt ansahen. Die Gesichtsfarbe ihres Anführers wechselte ins Dunkelrote.

„Was… hast du gesagt!?“

FÜNF JAHRE SPÄTER

Es war ein Tag, an dem man sich wünschte, dass er nie vergeht. Die Luft war kristallklar, von den Hügeln im Osten konnte man bis zu den schneebedeckten Bergen im Westen blicken und eine frische Brise wirbelte das tote Herbstlaub der Eschen auf. Von den Bergen aus zog sich der Fluss Freen zweihundert Meilen südwärts bis zum Meer. Am Anfang, dort wo er die steilen Hänge der Gebirgsläufer hinunterstürzte, war sein Lauf schnell, verlangsamte sich aber, je näher er dem Vonsingh-See kam, in dem er sich strudelnd ergoss, um dann in den tiefen Höhlen am Südufer zu verschwinden aus denen er in einer Kaskade wie der Schwall aus einem Krug hervorsprudelte und zwanzig Faden tief in das Becken darunter stürzte.

Eine schwarze Kutsche rollte über eine Straße, gezogen von schwarzen Pferden, die den Weg auch ohne den Kutscher kannten. Das Wappen des Hauses Alemont – zwei Hermeline auf blutroten Grund – prangte als Zeichen für alle Bewohner Norfestas sichtbar auf den Wagentüren. Die älteste und wahrscheinlich bekannteste Familie von Werwölfen und bekanntermaßen ein Machtfaktor in der Region, baute ihre Beziehung zu den anderen Regionen aus. Im Innern saßen zwei Personen, so verschieden wie Tag und Nacht: ein Soldat namens Francesco de Palma aus dem Süden und seine Schülerin und einzige Tochter des Hauses Alemont.

Claudile Alemont wippte unruhig auf ihrem Sitz hin und her, während der Mann vor ihr sie scharf ansah. Der wache, unruhige Blick, der energische Zug um ihren Mund und die kleinen, zielbewussten Bewegungen; das war alles ein Mädchen, das die Welt bereisen und von ihr lernen wollte. Ein Werwolf.

„Sitzt stehts aufrecht“, mahnte er und schlug zum wiederholten Male ein Buch auf, das den bedeutungsschweren Titel trug: Adelshäuser und ihre Sitten – rund um Norfesta und drüber hinaus. „Wiederhole, was wir heute durchgenommen haben.“

Claudile stöhnte leise und wischte ihre widerspenstigen roten Locken vor dem Gesicht fort – ein Zeichen, das Francesco nur zu gut kannte. „Auch wenn es Eure Ladyschaft heute an Geduld mangelt.“

„Francesco“, murmelte sie leise quengelnd und ruckte hin und her. „Ich will raus aus diesem Käfig.“

„Das Buch der Etikette ist gewiss sehr anstrengend zu lernen“, sagte der Privatlehrer, und sein Blick fügte lautlos hinzu: Und was zum Teufel geht mich das an?

„Wir sind seit einer Woche auf der Straße“, begann sie nach einer Weile, als Francesco keine Anstalten machte, von sich aus das Gespräch zu eröffnen. „Ich will raus und neben dem Karren laufen. Ein bisschen jagen oder vielleicht schwimmen. Sind wir nicht eben an einem See vorbeigekommen? Lass mich raus!“ Ihre gelben, großen Augen blickten ihn an und aus den Augenwinkeln konnte der Mann sehen, wie sich ihr Nackenfell am Haaransatz sträubte – untrügliche Zeichen, die er auch gelernt hatte zu deuten.

„Was sollen eure Untergebenen denken, wenn Ihr wild und mit Grasflecken auf dem Kleid an eurem neuen Stammsitz ankommt? Die Fürstin von Blaqrhiken, die Herrscherin des Nordens, tollt mit Füchsen und Hasen herum!“ Er suchte einen Moment krampfhaft nach Worten. „Eure Mutter, die ehrwürdige und gewaltige Schattenprinzessin selbst, hatte wirklich das Gefühl, dass Ihr so weit seid. Zum Herrschen!“

Claudile machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte. „Du schuldest mir was, Francesco. Stell dir nur vor, meine Brüder hätten dich statt Meiner erwischt.“

 

Der Mann erinnerte sich gut an ihre Brüder, Zurric und Pjotr, die ihrem Vater Miquel Alemont an Wildheit und Kraft in nichts nachstanden und daran gewohnt waren, ihre Lehrer einfach aufzufressen, wenn ihnen danach war.

Er stöhnte leise und legte kurz das Buch beiseite. „Darf ich Euch daran erinnern, dass ich euch den Rücken deckte, als Ihr mal … ganz kurz… auf das Fest im Dorf gehen wolltet? Eure Mutter hätte mich fast gehäutet, während Ihr mit einigen Bäuerinnen über die neueste Sommermode geschwatzt habt. Ich konnte mich gerade noch im Schrank verstecken!“

„Sommermode“, wiederholte sie und lächelte schief. „Ich vermisse das bunte Treiben. Ich will raus! Kannst du das nicht verstehen?“ Ihre Finger zupften am engen schwarzen Brokatkleid, das ihr jeden Bewegungspielraum nahm. „Ich bekomme keine Luft mehr...!“ Sie hechelte leise. Das Tier in ihr windet sich, stellte er kühl fest. Trotzdem war er lieber mit ihr hier drin als mit ihrer Verwandtschaft. Ihre Mutter Cesarel, eine stolze und große Frau, hatte ihn in der Wut gegen das Bett geschleudert. Werwölfe hatten in der Regel wenig Geduld mit Menschen.

Das Königtum Norfesta erstarkte vor 890 Jahren, zerfiel aber unter einem blutigen Kampf um die Krone in kleinere Fürstentümer – einem losen Bund aus kleineren Reichen, die sich fast zweihundert Jahre lang nicht auf einen König einigen konnten. Wenngleich sich noch lange Zeit danach keine „norfestische Identität“ entwickelte, verband alle Menschen eine Abneigung gegen Andersartige – wie Zwerge, Hexen, Elfen und Werwölfe. Nicht überliefert, aber dennoch factum, war, dass Elfen, Zwerge und Hexen systematisch vertrieben wurden. Der letzte Elf starb in der Ersten Republik vor zwei Jahren an Altersschwäche. Seine Werke über die Pogrome zählten bis zu 36 Bänden und gehörten zu den meistgelesenen Werken der Republik. Francesco de Palma hatte sie als Kind lesen müssen. Damals eine anstrengende Pflichtlektüre, heute sein Garant für ein recht bequemes Leben als Privatlehrer am Hofe des Adels von Norfesta, das in der Regel keine Gefangenen machte.

Seit 600 Jahren teilen sich die Menschen Norfestas mit den Werwölfen die Wälder, die bis dato in Rudeln oder vereinzelt für Schrecken sorgten. Erst nach der Krönung des ersten Königs Grosny („Grosny, der Pfähler“) begann die Nacht der Blitze, in der Jägerkolonnen gezielt Jagd auf die Wölfe machte. Nach dem Tod des menschlichen Königs verlor das Königtum Norfesta an Macht und Einfluss und die Zeit des Khanats begann. Die Werwölfe unter der Führung des Khans der Blutklauen begannen die Silbermienen und die Depots der Armeen systematisch anzugreifen und zu schließen. Seit 5 Jahren war der ungekrönte Khan, Claudiles Vater, verschwunden, doch die Khane der Acht Regionen hielten noch immer das Reich stabil und pflegten lose diplomatische Beziehungen zu den Vampiren im Süden. Momentan war das Königtum in einem Wandel: die Werwölfe waren bestrebt die Monarchie weiter auszubauen. Die neuen Herrscher waren offenbar sehr bestrebt, sich mit neuen Wappen zu schmücken und sich für Etikette und Manieren am Hofe zu interessieren.

Claudile kratzte sich mit den Hinterpfoten am Nacken.

„Bitte nicht wieder!“ ermahnte er sie. „Wir haben bloß noch das eine Kleid. Wollt ihr nackt vor den Dörflern stehen?“

„Diese dumme Kutsche“, maulte sie und fuhr mit einem heftigen Nicken fort: „Habe ich etwa darum gebeten, Fürstin zu sein? Auch noch im Norden. Da ist nichts, Francesco.“

„Stopp“, ermahnte er erneut und hob dabei den Finger. „Was haben wir gestern gelernt?“

„Nein, nicht…“

„Doch. Es muss sein.“

„Ich kann es doch…“

„Eure Ladyschaft“, begann er streng. „Was macht Blaqrhiken aus?“

Claudile seufzte, starrte eine Sekunde an Francesco vorbei ins Leere und zwang sich dann zur Ruhe. Aufrecht sitzend und beide Hände im Schoß, psalmierte sie: „Der Ort Blaqrhiken ist der nördlichste und entfernteste Ort in Norfesta. Jetzt, wo es für sein Sägewerk bekannt ist, sind es seine traumhaften Pasteten, für die Blaqrhiken so berühmt ist. Jeder köstliche Bissen ist wie eine warme Umarmung, aber das Besondere an dem Ort sind die Menschen, für die Nachbarschaft noch echte Werte besitzen. Diesen Geist verdanken die Stadt ihrem Wohltäter, Baron Ferou Hronghard der Dritte, der nach seinem Tode den Bürgern sein Vermögen überließ.“

„Wie viele Einwohner?“

„Zweiunddreißig Familien. Das Sägewerk, drei Lager, vier Ärzte, Tischler, Blechschmiede, Bäcker und so weiter und so fort. Dazu noch das Forstamt, die Burg und ungefähr sechzehntausend Hektar Fichtenwald.“

„Wie heißt der Stadtvogt?“

„Lyren. Mattes Lyren. Ihn soll ich als Erstes treffen.“

„Einer von euch, wie ich meine.“ Francesco hegte keinen Groll gegen Werwölfe. Er hatte sich damit abgefunden, seine Heimat nie wieder zu sehen und Herren zu dienen, die den Mond anheulten und wilde Jagden als angenehmen Zeitvertreib betrieben. In der Monarchie gab es bei den Menschen im Westen Könige und Fürsten, die ihre Untergebenen mit Pacht, Steuern und willkürlichen Zwangsversteigerungen das Leben unerträglich machten – gab man hier einem Werwolf die Gelegenheit zur Jagd, war er schon zufrieden. Baron Glofort im Süden, beispielsweise, konnte mit Gold nichts anfangen und ließ sich von seinen Untergebenen in Hasen auszahlen. Doch über Lyren erzählte man sich etwas anderes: „Seine Lordschaft wird nicht erbaut sein, dass Ihr seinen Platz einnehmt. Er soll ungehobelt und brutal sein, wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet.“

„Ist hiermit stattgegeben“, meinte Claudile und bewegte ihre Hand frei nach der Etikette, wie es sich einer Dame am Hofe gebührte. „Mir scheint, dass es dem Lord an Manieren mangelt“, bemerkte sie spitz gekünstelt. „Welch Affront!“

Francesco konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Ihr sollt es auch nicht übertreiben. Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon. Versteht ihr?“

Sie nickte knapp.

An den Fenstern zog die Landschaft dahin. Das Rumpeln und Krachen der Räder mischte sich mit dem gelegentlichen Wiehern der Pferde. „Eine Lady muss lange Zeit still und duldsam sein können. Sie ist die Repräsentantin des Hauses, wenn der Herr nicht Zuhause ist. Sie hütet die Kinder, übt sich in Geduld um dann ihrem Gemahl zu Diensten zu sein.“

Eine Bremse flog durchs Fenster, begutachtete die potenzielle Opfer und entschied sich für das Falsche. Behutsam landete sie auf ihren Nacken.

„Sie näht die Kleidung, stopft die Socken, wäscht die Wäsche und organsiert die gesellschaftlichen Pflichten, die da wären...?“ Francesco sah sie über das Buch kritisch an. Er konnte förmlich spüren, wie ihre innere Unruhe wuchs.

„Die Geburtstage merken, natürlich die örtlichen Gegebenheiten wie Feste…“ Claudile verscheuchte das Insekt kurz und bemühte sich um Kontrolle. „Die Lakaien müssen stehts an ihre Pflichten erinnert werden. Müßiggang ist der Zerfall eines jeden Haushalts. Bestrafungen fallen in das Amt des Gatten…“ Für einen Moment hielt sie inne, als wäre ihr ein neuer Gedanke gekommen. „Wen soll ich heiraten? Will ich das überhaupt!?“

„Einen stattlichen Werwolf, möchte ich meinen.“ Francesco lächelte belustigt, als er ihre großen Augen sah. „Die Alemonts sind eine hochgeachtete Familie und eine lohnende Partie, möchte ich anmerken. Euer Vater hat schließlich die Khane der Reiche verbunden. Euch zur Frau zu nehmen, bedeutet, dem Thron einen gewaltigen Schritt nahe zu sein. Eure Mutter und eure Brüder wählen den Richtigen aus…“

Das Insekt stach.

Claudile wand sich, fauchte wie wild und schlüpfte schnell aus dem Kleid, bevor es zu einer Katastrophe kommen konnte. Francesco kannte diesen Ausbruch zur Genüge, drückte sich, soweit es ging, in die hinterste Ecke und verschloss die Augen, während die Natur ihr Recht einforderte.

Unsichtbare Kräfte formten Fleisch und Muskeln neu, während Sehnen sich wie Drahtseile wie ein Mantel um die Verwandelte legte. Sie waren die Quelle ihrer Macht und auch der Grund für ihre Unverwundbarkeit. Manches Schwert hatte sich schon an Werwolfshaut etliche Scharten zugezogen. Horn wuchs rasend schnell über ihre Finger- und Fußnägel, formten sie neu, während sich Fell um das rote Haar herumbildete. Sekunden nur – dann sprang ein Blitz aus Muskeln und Kraft aus der Kutsche.

„Eure Ladyschaft“, sagte Francesco gedehnt und schlug das Buch zu, während draußen die Pferde wild vor Angst zu wiehern anfingen. Äste brachen, irgendwo gellte ein Tier panisch auf. Francesco konnte es ihm nicht verdenken.

Die Kutsche war zum Halten gekommen. Der ehemalige Soldat stieg aus und begutachtete die Landschaft um sich herum. Mehrmals streckte er sich, während es um ihn herum im Geäst hier und da knackte.

Der Kutscher drehte sich verärgert zur Seite. „Schon wieder, was? In dem Tempo kommen wir nie an.“

„Schon wieder, ja“, bemerkte Francesco lächelnd. „Geben wir Ihrer Ladyschaft etwas Zeit.“ Er schlug die Tür hinter sich zu und setzte sich auf den Kutschbock.

Der Kutscher reichte einen Flachmann. „Unter uns: ich hasse sie alle.“

„Nicht so laut.“

„Die Werwölfe sind unnatürlich“, begann er leise. „Einer von ihnen hat meinen Vetter gefressen.“

Erinnerungsbilder huschten an Francescos inneren Auge vorbei. Vor allem Mahlzeiten aus der Zeit, als er ihr noch nicht gesagt hatte: das gehört sich nicht.

„Deshalb kann ich sie nicht ausstehen“, meinte der Kutscher und gab mit den Zügeln das Zeichen weiter zufahren. „Es heißt zwar, einen Wolf könnte man zähmen, aber ich finde, ein Wolf bleibt ein Wolf. Man darf ihnen nicht trauen. Die Bosheit liegt in ihrer Natur, stimmt´s? Sie können praktisch jederzeit zu einem wilden Tier werden.“ Dem Kutscher fröstelte es. „Es heißt, im Süden leben Menschen und Vampire in einer Republik. Seid Ihr schon einem Vampir begegnet? Können nicht so schlimm sein, finde ich.“

Anders als in Norfesta lebten in der Ersten Republik tief im Süden Vampire und Menschen zusammen – zumindest auf dem Papier. Es existierte nachweislich eine Aristokratische Republik, die von einem geschlossenen Kreis von Patrizierfamilien bestimmt wurde. Unter der Führung der Großen Gilden wurde seit zweihundert Jahren eine Erbmonarchie erfolgreich verhindert. Der letzte König war Brunoq Gediman III., der genau vor 213 Jahren in die Verbannung ging. In der Silent Ages, die fast 130 Jahre anhielt, hielt sich die Erste Republik aus den Machtkämpfen zwischen den Königen des Nordens und des Ostens heraus und baute ihr Machtzentrum weiter aus. Heute war sie eine reiche See- und Wirtschaftsmacht, die im Südosten mit der Grauen Schar und einem losen Piratenbund zu kämpfen hatte.

„Man sucht sich seine Herren nicht aus“, bemerkte Francesco und gab den Flachmann wieder zurück. „Ich stamme aus Lornti de la Vogh, das liegt nördlich an der Hauptstadt. Dort bin ich mal einem Vampir begegnet.“

„Wie war es?“ Interessiert rückte der Kutscher näher.

„Sie sind… alt. Die meisten von ihnen. Die jungen bewegen sich wie Elfen…“ Er dachte an das eine Mal zurück, als seine Familie Besuch von einem sehr alten und mächtigen Vampir bekommen hatte. Jener Baron, der über die Ländereien wachte und eines Abends an der Schwelle stand. Hochaufgerichtet, fein gekleidet und dünn. Aber von einer Aura umgeben, die Francesco bis heute nachdenklich stimmte: Seht meine Herrlichkeit! Ich schenke euch Leben oder Tod. Meine Berührungen sind wie kühles Wasser, meine Worte verwandeln jedes Bauernlied in eine Oper, ich bin dem Himmel und der Hölle näher als die Erdgebundenen! Er schluckte trocken. „Unser Meister verlangte jedes Jahr einen Blutzoll. Ich hatte eine Schwester, und…“ Er unterbrach sich und schaute den Kutscher von der Seite aus an. „Man kann Werwölfe nicht mit Vampiren vergleichen. Die Welt ist, wie sie ist.“

„Elfen kann ich auch nicht leiden.“

„Gibt auch nicht mehr viele von ihnen.“ Er griff in seinen alten Soldatenmantel und holte Pfeife und Tabaksbeutel hervor. Er begann, sie umständlich zu stopfen. „Aber etwas Gutes haben sie ja.“

„So? Und was?“

„Schaut euch um.“ Francesco entzündete seine Pfeife und schmauchte große Kringel, bevor er fortfuhr. „Norfesta hat keine Banditen mehr.“

Beide beobachteten, wie weit vor ihnen ein Grizzly aus dem Unterholz brach und kurz in ihre Richtung schaute, bis er sich beeilte fortzukommen.

„Die Kleine ist ja nett und so“, gurgelte der Kutscher, indem er sprach und gleichzeitig sich den letzten Rest seines Alkohols einverleibte. Er hustete kurz, dann fuhr er fort: „Claudile soll kein echter Werwolf sein, sagt man sich. Hat nur Flausen im Kopf. Sucht ständig die Nähe von Menschen. Ist vielleicht ein Seitensprung, so sagt man. Hatte wohl ein rothaariger Bauer ein Treffen mit der Königin…“

 

„An deiner Stelle wäre ich vorsichtig“, mahnte Francesco und sah ihn übertrieben scharf an. „Claudile ist scharfsinnig. Sie hat Feuer. Aber sie ist definitiv die Tochter vom Großen Khan der Wölfe. Glaub nicht alles, was die Leute reden.“ Die beiden älteren Brüder, Zurric und Pjotr, waren als Barone tätig. Ihre Mutter Cesarel war als „Schattenprinzessin“ die Anführerin des Rudels und als konservative Adelige und als Diplomatin ständig im Gespräch bei Hofe. Solche Reden – ob von Mensch oder Wolf – bedeutete mehr als nur Ungemach.

„Gleich behauptest du noch, das Ding hätte Gefühle“, ächzte der Kutscher schwer und bedeutete den Pferden anzuhalten, als eine völlig verdreckte, nackte Frau aus den Büschen trat und Anstalten machte einzusteigen.

Nein, dachte Francesco bedrückt, Claudile hat ein ganz anderes Problem.