Loe raamatut: «Fürstin des Nordens - Trilogy», lehekülg 2
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Einige Meilen weit verlief die Straße breit und eben in östlicher Richtung durch das Weite Tal. Sie führte schnurgerade durch den Wald am Rande der Hochwasserebene des nördlichen Flussufers entlang, wo die Bäume hoch und ungehindert wuchsen. Den Reisenden bot sich ein freier Blick auf den Gebirgsfluss, und nicht selten konnten sie die Tiere des Waldes sehen, die zum Flussufer kamen, um zu trinken.
Die Wildheit eines Wolfes zu zähmen bedeutet Geduld und Selbstdisziplin aufbringen zu müssen. Die menschliche Form halten können, bedeutete, Herr über das eigene Schicksal zu sein und galt bei den Aufgeklärten als höchste Form. Ein verwandelter Mensch verspürte immerzu dieses Jucken, dieses Zerren, den Trieb sich zu verwandeln. Es war, als hätte man eine schlecht verheilte Narbe auf dem Rücken, an der man nur schwer hinkam, um sich mal richtig zu kratzen. Doch all die Selbstbeherrschung nützte nichts, wenn der Vollmond zu sehen war. Dann war das Verlangen da und die Nacht verwandelte sich in Farben und Gerüche, die nur ein Wolf verstehen konnte.
Erschöpft aber sichtlich zufrieden hatte Claudile es sich in der Kutsche bequem gemacht, während um sie herum die Welt wieder ihre normale Fülle an Geräuschen und Gerüchen annahm. Tiere flohen vor ihr, selbst die Gefährlichen. Einmal hatte sie eine Bärenfamilie aufgestöbert, die ihr Territorium verteidigen wollten. Nun, ihre Felle hingen zuhause am Kamin. Werwölfe diskutierten nicht.
Sie schlief langsam ein und träumte von der Jagd.
Je mehr sich die Straße dem östlichen Rand des Tales näherte, desto weiter entfernte sich sie sich vom Fluss, wurde immer schmaler, ging erst in einen Karrenweg über, dann in einen Feldweg und endete schließlich in einem Trampelpfad, der so überwuchert war, dass der Kutscher gelegentlich davon abkam.
Zur Mittagszeit erreichten sie Blagrhiken, das in einem Hochtal unweit einer Weggabelung lag. Die meisten Hütten waren nichts anderes als Bretterbuden, manchmal erblickten sie auch kleine Zelte dazwischen, nur über Stöcke gespannte Planen. Im Gegensatz dazu überragte eine große Burg aus festem Gestein alle anderen Gebäude. Zwei aus Kragsteinen gesäumte Türme ragten, wie zum Gruß erhobene Arme, neben der heruntergelassenen Zugbrücke auf. Sonnenschein fing sich in den an den Fahnenstangen aufgezogenen Bannern und glitzerte auf der silbernen Oberfläche des Burggrabens. Als sie näherkamen, meinte Francesco, es müsste ihnen eine Schar von Rittern zur Begrüßung entgegenkommen.
Doch es kamen keine Ritter. Es gab keine Begrüßung. Je näher sie dem Dorf und der Burg kamen, umso mehr wich seine Freude und Erleichterung einem Gefühl des Unbehagens der unheilvollen Ahnung. Unter den Kiefern sangen keine Vögel. Kein Tier regte sich in den Feldern und Wäldern.
Ein ärmliches Dorf mit rauen Gestalten, die misstrauisch alles und jeden beäugten. An diesem Ort, der grau und wenig einladend schien, lächelte niemand und erklang keine Musik. Eine Gruppe von Männern saß an einem schwelenden Feuer und tranken mürrisch vor sich hin. Drei Waschfrauen grummelten leise, als sie die Kutsche ankommen sahen und tuschelten aufgeregt. Zwei Kinder sahen neugierig rüber und klaubten einige Steine vom Boden auf.
Francesco erinnerte sich gerade rechtzeitig an seine Pflichten und kletterte umständlich nach hinten, um nach ihr zu sehen. „Wir sind bald da. Jetzt wird sich angezogen!“
„Das Kleid ist… gerissen. Ich kann nichts dafür.“ Die Stimme klang fast weinerlich hinter zugezogenen Gardinen.
„Das muss doch anders gehen. Warte mal“, ächzte jemand im Innern. „Das muss dorthin, und hier stecken wir etwas fest…“
„Das tut weh! Sieh nur, es fällt von alleine ab! Es sollte halten, aber das tut es nicht.“
„Das ist doch Mist!“
„Ich kann nichts dafür!“
Der Kutscher hielt den Wagen an und klopfte aufs Dach. „Ähm, wir sind da“, erklärte er überflüssigerweise. Als Mann von Welt ignorierte er die fragenden Blicke der Bürger und starrte unverwandt auf die schiefe Mauer der Burg.
Eine Weile passierte garnichts. Einige Neugierige versuchten einen Blick ins Innere zu erhaschen.
Dann ging endlich die Tür auf.
Die Menge holte erwartungsvoll Luft.
Claudile spazierte im Soldatenrock, Männerhose und einem blauen Hemd und die Haare lässig über die Schulter gelegt auf die Straße und sah sich um. Zum Glück vermied es Francesco auszusteigen. Es wäre nicht gut ausgegangen.
„Hallo, liebe Bürger“, sagte sie und reichte dem ersten Mann die Hand. „Ich bin Claudile.“
Der Kutscher drehte den Kopf herum. „Ja, so geht es natürlich auch.“
Die Menge war im ersten Moment so verblüfft, dass niemand reagieren konnte. Alte wie Junge, Männer wie Frauen hatten sich eingefunden und blickten abwechselnd zur Kutsche und zur…Frau in Männerkleidern. Es waren verhärmte Gesichter, gealtert vom Last der Entbehrungen und der Arbeit, die ihr Leben bestimmte. Sie verstanden die Botschaft nicht, … wenn es eine war. Und der Zirkus kam äußerst selten in die Stadt.
Ein einsamer Wind stöhnte durch die Reihen. Jemand hüstelte leise.
„Das ist also Blagrhiken“, stellte Claudile fest und nickte zur Bestätigung.
„Wer seid ihr?“ wollte jemand wissen. Jemand holte einen Knüppel aus einem Eimer. Forken wurden gereicht. Die Blicke bekamen etwas Bedrohlicheres.
„Ich bin Claudile Alemont, eure Fürstin vom heutigen Tage.“ Sie wartete auf Reaktion, und als nichts kam, drehte sie sich um und sah zur Kutsche. „Francesco! Schau doch mal…“ Dabei wischte sie nervös ihre Haare fort und ihr Fellansatz im Nacken wurde zufällig sichtbar.
Die Menge stöhnte leise auf. Sofort rutschten wenige beiseite, machten Platz während Knüppel und Forken hastig versteckt wurden. Als sich Claudile umdrehte, hatte sich das Bild verändert: die erste Reihe kniete umständlich. Frauen verbeugten sich während Kinder große Augen bekamen. Ganz kleine Kinder fingen an zu weinen.
Sie lächelte und reichte dem ersten Mann wieder die Hand.
Es handelte sich hierbei um einen Schmied des Dorfes; einen breitschultrigen Mann mit gerötetem Gesicht und Armen wie Schiffstaue. Als sich die Menge zurückzog, sah er sich in der ersten Reihe und riss sich selbst die Kappe vom Kopf. „Ich habe nichts getan“, murmelte er hastig.
„Was meinst du?“ fragte Claudile.
Er war groß und… nun, gewaltig. Wenn der Schmied durch die Straßen wankte, wirkte er wie ein kleiner Eisberg und konnte schnell und hart zupacken. Doch vor der kleinen Frau verlor er fast die Fassung. „Nichts“, erwiderte schließlich. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass allgemeines Leugnen besser war als Abstreiten.
„Freut mich“, sagte Claudile und ergriff seine Pranke noch bevor er sie wegziehen konnte. „Ich bin von nun an eure Fürstin. Ich wünsche euch allen einen angenehmen Tag. Ist das deine Schmiede?“
Sie deutete über seine Schulter auf das Gebäude, wo in einer Esse glühende Kohlen langsam erkalteten.
Falten bildeten sich auf seine Stirn, als er herauszufinden versuchte, in welche Richtung die Frage zielte. „Nein. Das gehört mir nicht.“
„Ach?“
„Sie gehört Euch, wollte ich sagen.“
„So?“
„Ich habe immer die Steuern bezahlt“, betonte er und war fast den Tränen nahe. Alle anderen wandten sich weiter und weiter von ihnen fort. In der Schmiede starrten eine Frau und ein Kind herüber. „Muss Papa jetzt sterben?“ fragte der Bube leise.
Claudile war kurz verwirrt, lächelte aber und schien guter Dinge. „Nun, da ich nichts vom Schmieden verstehe, überlasse ich dir den Rest. Möge dein Stahl stehts gerade und deine Esse heiß sein!“ Sie lachte leise. Niemand fiel mit ein.
Claudile hüstelte verlegen. „Gute Leute, kann mir jemand sagen, wo ich den Stadtvogt treffen kann?“
„Bist du… seid Ihr wirklich die Fürstin?“ wollte der Schmied wissen. Er schien sich ein wenig zu entspannen. „Wir haben den Baron seit Wochen nicht mehr gesehen. Er wohnt dort in der Burg. Seht ihr?“ Er wies auf das graue Gebäude mit der Mauer und den Türmen, an die sich Claudile fast anlehnen konnte. „Dieser Hurensohn… ich meine, dieser Kerl kommt nicht vor der Tür! Verzeiht, Mylady, ich bin es nicht gewohnt mit Euresgleichen zu reden.“ Er wirkte jetzt weitaus weniger besorgt als am Anfang.
„Ja, das fällt auf.“ Claudile wandte sich um, zuckte mit den Schultern und erkannte ein Schild in der Nähe, dass einen Hammer und einen Gartenzaun präsentierte. Das musste die Stadtwache sein.
Vor der Wache am LangenBrunnenPlatz hatte sich eine kleine Menschenmenge eingefunden, als Hauptmann Gaver sich zum Mittagsschläfchen auf seinen Stuhl setzte. Bis dahin war es ein netter, sonniger Morgen gewesen. Er blieb sonnig, wurde aber weniger nett. „Das sind Fremde, weil sie nicht von hier sind“, stellte er ungerührt fest und stocherte mit seinem kleinen Finger in seine Nase. „Die sollten sehen, das sie weiterkommen, nja. Das ist meine Meinung.“
Gaver war ein breiter Mann, nicht besonders muskulös und schwitzte stark beim Gehen, so dass er seinen Dienst am Liebsten auf seinen Platz draußen an der Tür tat. Seine einzelnen Barthaare neben den Leberflecken zitterten, während er versuchte sich herumzudrehen, um über die Menschenmenge zu sehen. Neben ihm trat Korporal Axel mit zwei Bechern Wein aus der Tür und lehnte sich an die Tür. Wenn man Gaver und Axel nebeneinander patrouillieren sah, wirkten sie wie der Rosenkohl und die Rose. Axel war schlank, hatte zarte Hände und schien die meiste Zeit nur Beobachter zu sein, was Gaver sehr gefiel. Er stupste seinen Freund und Kollegen an und deutete mit dem popelverschmierten Finger nach vorne. „Da ist doch eine Kutsche vorgefahren mit einem komischen Kerl, der lange Haare trägt. Schneid sie ab, sage ich, nja! Das sind Störenfriede. Nicht so schlimm wie die Zwerge früher, aber wir sollten schon mal die Knüppel holen, sage ich. Oder was meinst du, Korporal?“
Axel schirmte seine Augen vor der Sonne ab und blinzelte. „Da ist ein Wappen auf der Kutsche.“
„Kann nicht wichtig sein, sage ich! Vielleicht haben sie die Kutsche nur gestohlen, nja. Können nicht wissen, was ihnen blüht. Nun, wir werden mal schauen, was es da zu schauen gibt.“ Gavers schweinsgleiche Augen verrenkten sich fast, während er angestrengt nachdachte. „Könnten Banditen sein, nja.“
Axel stöhnte genervt auf, stellte seinen Becher ab und nahm Haltung an. Die braven Bürger von Blagrhiken hatten sich schon lange darauf geeinigt, dass ihre Ortschaft eine Stadtwache brauchte. Und da niemand sonst die Arbeit machen wollte, erschien Gaver als die perfekte Person um das Tor zu bewachen. Gaver war nicht etwa böse – er war einfach nur Gaver.
Axel salutierte knapp, als Claudile näherkam. „Entschuldigt bitte“, sagte Claudile und versuchte, ihre Nackenhaare daran zu hindern, sich aufzurichten. „Ich bin Fürstin Claudile Alemont und suche den Stadtvogt. Bitte zeigt mir den Weg.“
„Fürstin Alemont“, sagte Axel mit tiefer Stimme. Dabei vermied er es ihre Kleidung anzusehen. „Ihr wurdet schon vor zwei Tagen erwartet. Wir hoffen, Ihr hattet eine angenehme Reise.“
Claudile nickte höflich ihm zu, während sich Gaver umständlich aufzusetzen versuchte.
Als Werwolf nahm sie eine ganze Reihe von Gerüchen wahr: sie sah die Spur des Bäckers, wie er jeden Morgen zum Brunnen ging und erschnupperte den Geruch von Mehl, der noch zart in der Luft hing. Die Esse brodelte vor dunkler Energie und knisterndes Feuer versprühte ein dunkles Ambiente, während die feine Seifennote des Wachmanns vor ihr sich wie ein Blumenbouqette über allen legte. Naja, fast, denn die ungewaschenen Socken des dickeren Wachmanns sprachen eine ganz andere Sprache.
Claudile verzog das leicht das Gesicht und schnupperte erneut. Dort war noch etwas anderes…
„Ist der Baron öfters hier gewesen?“ wollte sie wissen.
Beide Männer warfen sich erstaunte Blicke zu.
„Können Sie sich ausweisen, nja?“ schnarrte Gaver wichtigtuerisch, während er umständlich sich die Hose hochzog.
Axel schüttelte nur den Kopf, trat vor und verbeugte sich leicht. „Sehr oft, sogar“, bestätigte er und führte sie kurz weg von seinem Kameraden. „Nehmt es ihm nicht übel, Eure Lordschaft. Mit der Zeit werdet ihr verstehen, wie Gaver denkt. Er ist harmlos.“ Er deutete auf die Burg vor ihnen. „Es stimmt, was Ihr sagt. Der Herr kam gelegentlich zu einem Kartenspiel. Aber ich fürchte, dass der Hohe Herr nicht zugegen ist. Wir haben ihn seit Tagen nicht gesehen.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „Es ist uns eine Freude, euch willkommen zu heißen.“
Claudile nickte zufrieden. „Danke. Wie ist Euer Name?“
„Axel, Maam. Zu Euren Diensten.“
„Angenehm.“
Er wies auf die Burgtore, die sich langsam der anrollenden Kutsche näherten. „Ihr seid ein Werwolf, oder?“ In seinem Blick lag eher Neugier als Furcht. Das empfand sie als beruhigend. „Ganz recht.“
„Die Leute haben Angst. Vor euch. Wir haben… Erfahrungen gemacht. Mehr sage ich nicht dazu.“
Sie nickte zur Bestätigung.
„Wir sind dazu angehalten, euch durch die Stadt zu führen und euch alles zu zeigen. Aber bestimmt wollt Ihr euch vorher frisch machen.“
„Danke, Axel. Ich komme darauf zurück.“ Etwas verlegen strich sie sich über die Kleidung.
Er salutierte knapp und wandte sich ab.
Sie schnupperte nochmal, schloss die Augen und spielte mit den Dufttönen. Unter dem Seifengeruch verbarg sich etwas anderes. Als es ihr einfiel, errötete sie leicht und ging fort.
3
Die Burg war in keinem guten Zustand. Claudile wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und sah moosbefallene Steine, roch fauliges Stroh und witterte Wasserschaden am Dach. Zum ersten Mal bedachte sie den Ort um sich mit Argwohn, als wäre ihr jetzt erst aufgefallen, dass Blagrhiken wirklich hoch im Norden lag.
Mit einem Tuch bekleidet stieg Francesco aus. „Das ist also Euer neues Zuhause“, stellte er ungerührt fest. „Was denkt Ihr?“
„Der Ort stinkt vor Furcht. Alte Klamotten, alte Gewohnheiten und viel Hunger.“ Sie nickte ernst und starrte auf den Boden. Die frische Luft im Hof konnte nicht verbergen, dass der Ort krankte. Es lag Misstrauen in der Luft- sprichwörtlich.
Er nickte knapp. Die Nase eines Werwolfes lag selten falsch. „Es gibt viel zu erledigen.“
„Meinst du… oh, ich verstehe.“
„Ja, genau. Ich werde mich mit dem Haushalter auseinandersetzen.“
Beide starrten zur großen Tür, die knarrend aufging.
„Der Hohe Herr ist nicht zugegen.“ Auf dem Hof eilte eine kleine Gestalt auf sie zu, die mit einer dicken Brille und einem Stock sich den Weg ebnete. Ein alter, sehr alter Mann mit Halbglatze und schlotterweißem Haar, dessen dünne Gelenke vor Arthritis quietschten. „Oh, Ihr seid es! Welche Freude, euch hier anzutreffen.“ Er blickte verwirrt zu Francesco, aber vermied es direkte Fragen zu stellen. „Ihr müsst Lady Claudile sein, die ehrwürdige Tochter des großen Khans, unserem Herrn und Meister.“ Er holte Luft. „Fürstin Claudile Salacia Aminata Urnie von Alemont. Ich heiße Fritz. Euer Haushalter.“
„Danke, Fritz“, sagte Claudile. „Du kennst dich gut aus.“ Claudile nahm den trockenen Grabesgeruch von Büchern wahr.
„Warum gehen wir nicht rein“, fragte Fritz leise und bedeutete ihm zu folgen. „Der Herr ist seit Tagen verschwunden. Ich befürchte das Schlimmste, Herrin. Jedoch wollen wir bei einem Plausch mit Gewürzkuchen, Fleischpastete und Wein von etwas anderem reden.“ Kurz darauf erreichten sie einen Saal, dessen Dunkelheit und Stille einen starken Kontrast zum Licht und Lärm auf dem Hof bildeten. Als sich ihre Augen an das Halbdunkle gewöhnt hatten, bemerkte sie Flaggen und alte Ölgemälde an den hohen Wänden. Es gab einige Fenster, aber die Spinnenweben und toten Fliegen davor ließen nur matte Gräue in den großen Raum hinein. „Die Burg wurde vor sechzig Jahren von Baron Ferou Hronghard der Dritte, gebaut, der nach seinem Tode den Bürgern sein Vermögen überließ. Der Ort Blaqrhiken ist der nördlichste und entfernteste Ort in Norfesta. Er ist bekannt für sein Sägewerk und seine Pasteten.“ Er humpelte langsam zu einem Tisch und hob ein Tuch von einem Tablett. „Wir haben leider keine Köche, so dass ich vor zwei Tagen diese herrlichen Pasteten vom Bäcker holte. Sind leider kalt.“
„Jeder köstliche Bissen ist wie eine warme Umarmung, aber das Besondere an dem Ort sind die Menschen, für die Nachbarschaft noch echte Werte besitzen.“ Claudile zwinkerte Francesco zu, der ihr begütigend zunickte.
Fritz nickte beeindruckt. „Gut gesagt, Herrin. Ihr versteht es mit Worten umzugehen.“ Er blinzelte glücklich und zeigte auf mehrere Schriftrollen auf dem Tisch. „Wenn Ihr es wünscht, kann ich euch die Geschichte der Heraldik der Burg Blaqrhiken erzählen. Sie ist lang und kurzweilig.“
„Ein anderes Mal“, bemerkte Francesco kühl. „Sagt, wo sind die Angestellten? Warum brennt kein Feuer im Kamin? Das Schloss ist in einem schlechten Zustand, Mann. Warum sieht es hier aus, als würde hier niemand leben?“
Fritz kam näher und besah sich den Sprecher aus nächster Nähe an. „Wer seid Ihr, dass ihr nackt und bloß mit mir sprecht? Hat Eure Herrin ein Herz für bemitleidenswerte Geschöpfe?“
„Er ist Francesco de Palma, mein Lehrer und Vertrauter“, half Claudile aus. „Ich wollte diese Frage auch stellen. Was ist hier passiert?“
„Wohl kein Geld mehr“, grunzte böse Francesco. „Der Narr hat alles ausgegeben.“
Fritz Gesicht verzog sich, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. „Nein, mein Herr. Wir haben Geld, aber… der Hohe Herr … war eigen. Die Kammern sind voll, aber es wurde nicht gehandelt. Keine Löhne gezahlt. Ich wünschte, er wäre hier. Nach dem schrecklichen Mordfall und dieser einen Sache“, stieß er mühsam hervor. Plötzlich hielt er inne. „Das ist alles so schrecklich. Das arme Mädchen.“
„Ich versteh kein Wort.“
Die Gestalt und die Dunkelheit wichen zurück. „Bitte, grollt mir nicht, Herrin. Ich bin nur der Haushalter. Als alle gingen, bliebe ich hier. Was sollte ich sonst tun? Ich bin Haushalter seit vielen Jahren und habe viele Kommen und Gehen sehen. Doch niemand war wie Baron Lyren.“ Er wackelte zu einem Gemälde und deutete mit dem Stock auf eine bedrohlich wirkende Person, die mit straffen Muskeln und freiem Oberkörper mit einem Bären kämpfte. Schwarzes Haar bedeckte sein rundes Gesicht, das hart und teilnahmslos zusah wie der Bär unter ihm sein Leben aushauchte. Diese Art der Selbstdarstellung war unter Werwölfen üblich. Sie sollte ihre Dominanz bezeugen. „Das ist Mattes Lyren, Baron von Blaqrhiken, der 745 ein ganzes Heer aus dem Süden mit seinen Pranken vertrieb. Der Schwarze Wind, wurde er genannt! Beachtet das Blut an seinen Stiefeln. Er watete vierzehn Wochen durch das Blut seiner Feinde und schützte die Grenzen. Er ist ein Held. Gewiss kennt Eure Ladyschaft die Geschichte. Kämpfte er doch mit Miquel Alemont Seite an Seite gegen die Neue Republik. Dieser verflixte Süden! Ich spucke auf sie. Sie sollen verfaulen.“ Langsam hielt er inne, als wäre ihm ein neuer Gedanke gekommen. „Woher kommt Ihr, sagtet ihr?“
„Süden“, zischte Francesco.
Inzwischen hatten sich Claudiles Augen an das flackernde Licht gewöhnt. Bücher füllten den Raum. Sie standen nicht in Regalen aufgereiht, sondern bildeten hohe Stapel. Neben dem Kamin stand ein alter Sessel. Sie kam langsam näher und nahm den Geruch wahr: ein herber Geruch von Erde und Moschus, Kiefernharz und einer Spur Traurigkeit. Sie schnupperte erneut. Nun, das war bedenklich.
„Hatte er Kummer“, fragte sie leise. Sie nahm ein zerfleddertes Buch hoch. Jemand hatte es in der Mitte durchgerissen. Das wäre nicht nötig gewesen, dachte Claudile. Und dann dachte sie, dass es auch nicht nötig gewesen wäre, die Burg verkommen zu lassen. Die Menschen schlecht zu behandeln. Menschen heilten zwar, im Gegensatz zu Büchern, aber sie vergaßen nicht.
„Das… ähm, es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, Herrin“, antwortete Fritz pflichtbewusst und wackelte zu einem weiteren Tablett, von dem er ein Tuch zog. „Probiert diesen besonders schönen Roten, aus unserem eigenen Anbau. Wir pflegen am Südhang eine besondere Rebe, die Wintertraube. Natürlich gehört das alles euch. Ich hole schnell einen Korkenzieher.“
„Ist es üblich, dass ein Baron auch das Amt des Stadtvogts einnimmt“, wollte Claudile wissen.
„Es musste sein, schließlich sah sich der Stadtvogt außerstande sein Amt weiter zu bekleiden.“
„Warum?“
„Weil unser Herr ihn tötete.“