Loe raamatut: «RedStar», lehekülg 3
2.Kapitel
Um zehn vor zehn wachte er schweißgebadet auf und sah, wie sich die Silhouette des Kopfkissens neben ihm gegen das aus dem Bad fallende Licht abhob. Und es war Marlon Goyer, der schmerzverzerrt, zerschunden und wahnsinnig neben ihm lag, die Augen weit aufgerissen und ein Messer bereit zum Stich haltend. Er war nicht in der Lage, seinen Kopf herumzudrehen, um ihn anzusehen. Sein Gehirn jaulte wie ein Feueralarm, bis er endlich seine Hand austreckte und trockenen Bezugsstoff ertastete.
Dies verschaffte ihm unverzügliche Erleichterung. Er stand mit klopfendem Herzen auf und zog sich an, kochte sich einen Kaffee und starrte zur Uhr. Er hatte noch drei Stunden, bis seine Schicht begann.
Er mochte die Abgeschiedenheit der Station. Linda hatte wie alle eine pessimistische Meinung, doch genau das gefiel ihm so an Falberg. Alles war geordnet und schön übersichtlich, ganz anders als auf den anderen Stationen, die im Zentrum der Gesellschaft laufend bereist und beliefert wurden. Manche Stationen wie Neu-Tokyo, Salem oder Meteor waren riesige Metropolen im All, die durchaus über einen eigenen Stadtstaat und sogar über eine eigene Souveränität verfügten. Er hatte seine Gründe, hier zu sein. Er spürte, dass er reagieren musste, wenn er noch ein paar Jahre die Unschuld Falbergs erhalten wollte.
Nicht auszudenken, wenn das RedStar hier ankommt.
Vor seinen Augen würden die Kriminalität ansteigen, die Zahl der Drogentoten würde ihnen Kopfschmerzen bereiten und langsam einfallende Mafiastrukturen das Leben als Ordnungshüter schwer bis unerträglich machen. Jonathan und der Rest der Kollegen konnten oder wollten sich nicht kümmern. Sein Boss übergab das Problem an seine Vorgesetzten, die zu weit entfernt lebten und sporadische Anregungen geben würden. Vielleicht würde sich das FBI oder Interpol darum kümmern,…
Vielleicht aber auch nicht.
Gideon stellte die Tasse Kaffee ab und nickte sich selbst bekräftigend zu.
Nein, es war Zeit selbst aktiv zu werden.
Zeit, den Riesen um Rat zu fragen.
Die kleine und einzige funktionierende Bar an der dichtbesiedelten Straße, hinter dessen Tresen aus Panzerglas und carbonbeschichtete Fläche sein Bekannter Bruce Thomas arbeitete, war ein Laden voller aufgegebener Träume und stummer Resignation. Gideon Nikolaeff öffnete die Tür und stand im Vorraum, wo schon lange kein Kaffee mit Gebäck mehr ausgeschenkt wurde. Das Spins war eine gemütliche Taverne für bezahlende Kundschaft, die nach Feierabend noch was trinken und dabei vielleicht ein wenig relaxen wollten. Dunkle Holzvertäfelung, warme Beleuchtung, runde Tische und billige Stühle, ein Dartspiel und sogar ein Billardtisch wirkten auf die Besucher wie abgenutzte Relikte aus einer Zeit, in der jahrelang Trucker Fahrer und Biker auf den staubigen Highways zuhause gewesen waren. Rechts von ihm hing ein Kondomautomat– zumindest dieses Objekt wurde regelmäßig genutzt.
Er wandte den Kopf und sah, wie eine zwei Meter große, lebende Dampfwalze in Motorradkluft hinter dem Tresen hervortrat und in seine Richtung rollte. Bruce war ein breiter Amerikaner mit feuerrotem Bart und einem Gemüt wie einem Vulkan. Bruce erkannte ihn von weitem und rollte mit den Augen.
„Immer, wenn ich komme, ist der Kaffee schon alle.“ Er nahm die Glaskanne und schob sie über die Theke.
„Wir haben nicht nur mit den Rohren Probleme“, dröhnte ihm die Bassstimme direkt ins Ohr, dass sein Trommelfell schmerzte. „Darum trinke ich meinen Bourbon ohne Eis. Was willst du hier? Ist noch zu früh, um mir auf den Sack zu gehen!“
Gideon blickte zu der drallen Frau am anderen Ende des Raums. „Hi, Süße.“
Esmeralda stellte ihr Tablett beiseite und grinste, während sie mit der Hand über Gideons Bizeps strich. Sie war eine hochgewachsene Frau mit üppigen Brüsten und war vor langen Jahren einmal schön gewesen. Sie war Serviererin und Köchin in einer Person und nichts davon konnte sie gut. Blonde, hochtoupierte Haare, verschmierter Lippenstift und dunkle Augenringe – ganz zu schweigen von ihrem verlebten Körper. Zuviel Makeup, höchstens Eins sechzig groß und zwanzig Pfund Übergewicht. Dass das meiste davon vorne war, war der Grund, warum viele Männer auf sie standen. Einst hatte sie recht nett ausgesehen. Sie hatte in ihrem Dorf immer Verabredungen mit Jungen. Doch niemand hatte sie für besonders schlau gehalten. Da sie nicht mit genügend Grips gesegnet war, um die beständigen Niederschläge trivialer alltäglicher Enttäuschungen zu begreifen, war ihre natürliche Heiterkeit von einer bitteren Erkenntnis zerfressen worden, dass das Leben nicht besser werden würde, als es immer gewesen war – d.h. ziemlich enttäuschend. Über die Jahre hatte sie sich mit Männern eingelassen, die ihr schnelles Geld und Glück auf Erden versprochen hatten. Das Resultat ging einher mit ihrer aufkommenden Reizbarkeit, dem Dahinschmelzen ihres angenehmen Äußeren und dem Weichen des fröhlichen Lächelns zu einem Mund, der nun hart und brutal wirkte. Doch Gideon Nikolaeff fehlte noch in ihrem Beuteschema. Süß gurrte sie: „Du mich auch. Lieb gesagt. Wie nett du sein kannst.“ Dabei schmiegten sich ihre Brüste an seinem Arm.
„Was hat dein Bruder?“ fragte der Sheriff lächelnd. „Klingt, als hätte er Hämorriden.“
Sie grinste breiter und warf Bruce einen flüchtigen Blick zu. „Als könne er Gedanken lesen.“
Tatsächlich watschelte Bruce ungelenk hinter dem Tresen, und, als er spürte, das er zum Thema geworden war, wedelte er schon mit seinen Händen: „Du sollst nicht meine Probleme offen herumtratschen! Und du lässt mich lieber in Ruhe! Ich habe heute keinen Sinn für Späße!“ Trotzdem kam er näher und wischte mit einem verdreckten Lappen den Platz vor Gideon sauber. „Was willst du?“ Der Riese betrachtete ihn mit grimmig emporgezogenen Augenbrauen.
„Heute brauche ich mal deine Augen. Du kennst doch jeden und alles hier.“
„Du solltest mal zu meiner Therapiesitzung jeden Donnerstag. Ich stelle dich meinen Leuten vor.“
„Also eine Gruppe Erwachsene, die sich an die Händchen halten und über ihre Probleme quatschen? Das klingt sehr nach Sekte.“
„Käme dir echt gelegen, Mann. Niemand macht mir mehr Angst als du.“ Bruce warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Du mit deinem Kontrollwahn. Weiß doch jeder, dass du ein brodelnder Vulkan bist.“
„Momente wie diese schweißen eine Freundschaft so echt zusammen. Gib mir einen Lorry.“
„Um die Zeit? Was habe ich gerade gesagt?“
„Irgendwas mit Hämorriden oder so“, stichelte Gideon und zwinkerte Esmeralda zu.
„Vorsicht! Ich bin der einzige Barkeeper hier.“
„Hab dich lieb, alter Brummbär. Jesus ist der Weg.“
„Ich habe einen Navy, was interessiert mich der Weg? Wo das Ziel ist, wäre ganz cool zu wissen.“ Bruce stellte das Bestellte vor sich auf die Theke. Doppelter GlenMorren mit Eis. „Warum bist du hier und gehst mir auf die Eier?“
Schlagartig wurde Gideon ernst. „Lindas Sohn hat mir gestern versucht einen Scheitel zu ziehen.“
„Ich wusste, er taugt nichts. Wäre er mal zu mir gekommen“, verkündete Bruce in einer Lautstärke, als gelte es, sämtliche Stationen in der Galaxie darüber zu informieren. „Aber das er Drogen nimmt, weißt du schon, wie ? Oh, ich kann es in deinem Gesicht sehen.“
„Was weiß du über RedStar?“
Bruce schwieg kurz und nagte an seiner Unterlippe. „Nur das, was in den Medien kursiert. Designerdroge, leicht zu fälschen, aber wehe das kriegen die Zoepunder mit. Hector tötet nicht nur dich, sondern auch deine Familie. Auf Meteor ist seit einem Jahr eine Szene am Werk, die ich hier nicht haben will. Es gibt nur zwei Drogen: Nikotin und mein Bier. Und dabei soll es auch bleiben!“ Er beobachtete Gideon, der mit einem Stift auf einen Bierdeckel drei Worte schrieb: Zoepunder, Meteor, Hector. Als er geendet hatte, nickte er grimmig und beugte sich weiter vor: „Wenn du mir den Tag versüßen willst, dann frag doch mal Joe in Boulevard fourteen B. Das hast du nicht von mir.“
Gideon pfiff leise durch die Zähne und lächelte breit. „Warum hilfst du mir?“
„Um zu sehen, wie du mal richtig was auf die Mütze kriegst.“
„Im Ernst, Alter.“
Bruce Thomas war nicht nur Barkeeper, sondern auch Hehler, Vermittler, Bandenchef, Schmuggler und ein notorischer Lügner vor dem Herrn. Die Grundlagen seiner lockeren Geschäftsmoral hatten ihn schon oft gegen Gideon anrennen lassen, doch die beiden verband eine Art kameradschaftliche Hassliebe, die von gegenseitigem Respekt getragen wurde. Es war kompliziert. In einer anderen Welt hätten sich die beiden unterschiedlichen Menschen bis aufs Blut gekämpft, bis einer in Handschellen oder der andere tot im Straßengraben geendet hätte. Doch hier auf Falberg – wo wirklich der Hund begraben lag! – gab es wenig Grund für einen Kampf mit der Justiz oder lukrative Geschäfte für Bruce. Ein gestrandeter Wal. „Joe wollte den Laden mieten. Ich habe es in letzter Sekunde gecheckt, was er hier abziehen wollte. Jetzt mache es sauber. Aber nicht mit mir in Verbindung bringen, klar?“ Der Barkeeper zwinkerte kurz und klopfte hinter sich auf ein eingerahmtes Bild, das einen traumhaften Strand zeigte. „Irgendwann haben meine Schwester und ich genug, um auf Bora Bora einen Laden aufzumachen. Und dann kann uns diese Station mal kreuzweise. Kilometerweiter weißer Strand, ein einziges Paradies.“ Er lächelte versonnen. „Da stört eine Drogenszene nur. Das macht ein Viertel nur kaputt. Lieber schnell genug den Hahn zudrehen.“
Gideon steckte den Bierdeckel ein und legte einen Fünfzig-Credit-Schein vor sich hin. „Irgendwann wird es schon klappen.“
„Ja, man wird wohl noch träumen dürfen.“
„Grüße an deine Mutter, du Vollhonk.“
„Fick dich, und mach es gut. Sonst brauchst du dich hier nicht wieder blicken zu lassen.“
Gideon trank aus und klatschte Esmeralda beim Hinausgehen auf den Hintern. „Dein Bruder ist charmant wie immer.“
„Nerv ihn nicht. Und du schuldest mir noch ein Date.“
„Das Beste zum Schluss. Ich gehe mal rüber Hallo sagen.“
Mit einem sehnsüchtigen Blick starrte sie ihm nach.
Boulevard fourteen B.
Die Wohnungen in der besagten Straße waren Massenbauweise mit Nasszellen, von denen die meisten leer standen. Als Gideon vor dem Komplex stand, bemerkte er sein Problem: es waren knapp einhundert Wohnungen für Einzelpersonen. Der sogenannte „Joe“ (falls das wirklich sein Name war!) konnte hier wohnen oder auch nicht – problematischerweise wusste er nichts von dem Gesuchten, so dass er auch an ihm vorbeilaufen konnte, ohne ihm gewahr zu werden. Gideon betrachtete den Umstand als kaum durchführbar, aber er war nicht der Typ, der einfach aufgab.
Zuerst umrundete er das Gebäude ohne etwas Auffälliges zu bemerken – abgesehen vom Müll, der augenscheinlich aus den Fenstern von den Bewohnern geschmissen worden war, als wären sie auf der Erde in einem Kaff zuhause, und nicht auf einer Raumstation. Dann stattete er dem Hausmeister einen Besuch ab, zeigte seine Marke und erklärte ihm sein Anliegen. Tatsächlich konnte der Mann ihm helfen: sechs „Joes“ waren eingetragen und mit einer Liste in den Händen machte er sich auf den Weg. Der Erste war ein Familienvater, der beim Spielen mit seinen Kinder gestört wurde und kaum den Anschein erweckte, als würde er mit Drogen dealen. Gideon entschuldigte sich und besuchte den Zweiten, der sich auch als Niete erwies: sein Lebensgefährte berichtete, dass besagter Joe seit drei Wochen auf einem Spitalflug zu einem der größeren Stationen unterwegs war und nicht vor einem Monat zurück zu erwarten sein würde. Gideon strich den Namen durch und suchte weiter. Der Dritte war zwar anwesend, aber saß in einen Rollstuhl. Jene Auffälligkeit wäre Bruce, dem Riesen bestimmt aufgefallen, entschied Gideon für sich und versuchte es mit Nummer Vier.
Nach mehrmaligen Klingeln gab er es auf, holte eine alte Kreditkarte hervor und öffnete die Tür mit Gewalt. Die Wohnung war klein, schlecht gelüftet aber erwies sich als Volltreffer: unter dem einzigen Tisch standen mehrere Taschen voll mit Ampullen. Jene Ampullenart, die Gideon auch schon in den Händen gehalten hatte. Sechs Taschen mit je achtzig Ampullen. Genug Stoff, um die ganze Station süchtig zu machen.
Etwas perplex, aber zufrieden mit sich lächelte Gideon und steckte die Karte wieder ein.
Die Tür schloss sich hinter ihm. Lautes Klicken wurde vernehmbar. „Wegen des Kabelfernsehens bist du nicht hier, oder?“
Gideon drehte sich um und starrte in das Gesicht eines älteren Mannes mit Pockennarben im Gesicht, dessen Augen kalt und hart waren. Für einen Moment zeigte der Lauf seiner Waffe nicht auf Gideon, als der Mann ohne den Blick abzuwenden einen Schalldämpfer hervorholte und aufsetzte. Wertvolle Sekunden.
Gideon machte einen Ausfallschritt – keine Sekunde zu früh – und spürte einen scharfen Luftzug, als die Kugel schon an seinem Gesicht vorbeiflog. Schnell brachte er sich aus der Schussbahn, griff zur Stehlampe und schlug in einem perfekten Streich nach hinten. Der Killer wich geübt aus, ließ sich fallen und feuerte zweimal auf Gideon der das andere Ende der Lampe als Gegengewicht nutzte. Eine Kugel blieb im Fuß der Lampe stecken, die Zweite schlug ohne Konsequenz im Boden auf. Der Fuß der Lampe landete mit einem Knirschen im Gesicht des Gegners, der schreiend seinen Kopf hielt, ausrutschte und nach hinten fiel. Sofort war Gideon über ihm, entriss ihm die Waffe und packte ihn am Kragen. Mit dem Lauf an der blutverschmierten Nase hatte sich das Blatt gewendet. „DU musst Joe sein“, stellte Gideon klar und schlug mit dem Knauf zu. Jaulend ging der Killer zu Boden.
Nachdem sich die Gemüter etwas beruhigt hatten, setzte sich der Killer im Schneidersitz hin während Gideon auf einen Stühle Platz nahm. „Sag schon, wer ist dein Auftraggeber! Woher beziehst du den Stoff? Wie viele seid ihr?“
Der Killer lächelte kühl und betupfte sich die Nase. „Ohne Durchsuchungsbefehl kannst du mir garnichts. Es wird nicht mal zur Anzeige kommen. Ich werde sagen, dass sich jemand Zugang zu meiner Wohnung verschafft hat und ich mich schützen wollte. Tja, Pech für dich, Bulle.“
„Du weißt also, wer ich bin. War klar, dass ihr erst Erkundigungen einholt.“
„Wir sind eben schlau.“
„Ich bin nicht davon überzeugt. War ein Klacks, dich zu finden. Gib mir deine Brieftasche.“
Der Killer schmollte, aber gehorchte. Gideon schaute auf den Ausweis. „Ist der etwa gefälscht? Schäm dich was! Kommst hierher in meine saubere Station und verteilst Drogen. Tsss. Tsss. Tsss.“
„Kommt jetzt der Teil, wo der Einzelgänger-Cop mich über meine Rechte aufklärt und mir die Handschellen verpasst?“
„Scheinst dich auszukennen.“
„Bildungsfernsehen.“ Er zuckte die Schultern. „Das Ganze führt zu nichts. Gegen Abend bin ich wieder draußen. Ich fahre zurück, und nächste Woche kommt der Nächste. Und diesmal stattet er vielleicht dir und deiner Familie einen Besuch vorher ab. Man kann ja nie wissen.“
Gideon überhörte die Drohung geflissentlich. „Aber ruft vorher an. Dienstags lasse ich den Laminat bohnern. Aber du hast recht. Das bringt eigentlich nichts. Lassen wir den Teil also aus.“ Er stand auf und legte an. „Sag mir alles, was ich wissen will. Und dafür bekommst du eine Kugel in den Kopf.“
„Und wenn nicht?“
Der Lauf wanderte langsam runter zum Bauch.
Der Killer nickte verstehend. „Ja, das könnte schmerzhaft sein.“
„Und das ganze Blut überall! Ich werde der Reinigungsfachkraft ein dickes Trinkgeld geben müssen.“
Der Killer lachte. Schallend und gelöst. „Bei allem Respekt, aber das hier erlebe ich jeden Tag in meiner Heimat.“
„Auf Meteor landet doch jeder Zweite in einer Tortillakiste, oder? Deine Heimat hat mein Mitgefühl.“
Der Mann lächelte noch immer. „Also, so langsam verstehe ich das. So ein Cop bist du. Du suchst den direkten Stress. Aber du weißt nicht, mit wem du dich anlegst. Wir haben unsere Augen und Ohren überall. Uns gehören die Cops, und wir sehen dich schon von Weitem. Ich bettle nicht um mein Leben, Idiot. Egal, was du jetzt tust: es wird das Letzte sein.“
„Wo hast du das RedStar her? Wer ist der Mittelsmann?“
„Frag mich doch gleich nach meiner IBAN-Nummer! Soll ich dir vielleicht noch mein Sakko schenken? Jetzt verschwinde, und bete, dass ich Hector nichts davon erzähle! Oder bist du blöd?“ Er grinste böse und deutete auf die Brieftasche in Gideons Hand. „Nimm dir ein paar Scheine und mach dir ein paar schöne Tage. Das ist mein Angebot, und vielleicht vergesse ich ja, dass du mir die Nase gebrochen hast. Aber versprechen kann ich nichts.“
Gideon nickte, lächelte geistesabwesend und steckte sich ein paar Scheine ein. „Tja, ganz unrecht hast du ja nicht. Aber erstens bin ich kein Cop, sondern privater Sicherheitsdienst. Zweitens, danke für das Geld. Das lilafarbene Top in der Damenbekleidung lacht mich schon seit Wochen im Schaufenster an.“
„Witziges Arschloch.“
„Willst du wissen, wo ich meinen Job gelernt habe?“
Der Mann winkte gelangweilt ab. „Klar, immer raus damit.“
Gideon sagte es ihm, zog seine Jacke und sein Hemd aus und präsentierte sein Tattoo.
Der Killer schluckte trocken und begann sich zu winden.
Ab dem Zeitpunkt war die Verständigung kaum noch ein Problem.
Nach fünf Minuten schloss Gideon die Tür hinter sich ab, um die Schultern die schweren Taschen, die insgesamt unhandlich zu transportieren waren. Damit machte er sich auf zur Müllpresse. Kein Grund, die überlasteten Behörden damit zu behelligen.
Während die Müllpresse stumm und gehorsam ihre Arbeit verrichtete, setzte Gideon das Puzzle zusammen:
Zoepunder. Eine Gang, augenscheinlich. Groß genug, um Drogen in Labs herzustellen und über Versorgungssysteme an Stationen zu verteilen. Wer in solchen Mengen liefern konnte, musste auch über geheime Kanäle verfügen. Sowas transportierte man nicht in den Shuttles über das einfache Handgepäck.
Meteor. Die größte Station in der Galaxis. Sie war eine massive Station, fast achtzig Kilometer breit und diente als Freihafen und kommerzieller Außenposten im Sektor Zeta Aftali. Mit dem San Dyner Medical Facility, der Browns Synthetics Produktionsstätte und dem Towerlink Kontrollzentrum beherbergte sie fast viertausend Menschen. Ein neues Spielfeld, neue Regeln.
Hector. Der große Unbekannte hinter Zoepunder und auch hinter RedStar. Ihn zu treffen schien unmöglich. Aber Gideon rechnete sich gute Chancen aus, zumindest seine Aufmerksamkeit zu erwecken.
Sam Roves. Der Ex-Wich hinter „Joe“, der in Meteor zu finden war. Der zweite Kontakt, der Menge und Routen und wahrscheinlich den Bienenstock der Zoepunder kannte. Gideon würde auch ihm Hallo sagen.
Pünktlich zu seiner Schicht erschien Gideon im Departement und sah Jonathan, wie er sich mit zwei Bundesagenten unterhielt. Es mussten Bundesagenten sein, denn niemand auf Falberg kam auf die Idee sich wie Bestattungsunternehmer zu kleiden und dazu Headsets und schwarze Sonnenbrillen zu tragen. Der Ältere fuchtelte mit einem Schreiben herum und machte dabei einen Radau, als müsse er einem Begriffsstutzigen den Inhalt klar und deutlich vermitteln. Ein offiziell wirkender junger Schnösel mit makellosem Haarschnitt wandte den Kopf und kam herüber. „Sie müssen Nikolaeff sein. Agent Smith, freut mich. Ihr Büro oder ihre Agentur, oder wie ich es nennen soll, hat sich natürlich mit uns in Verbindung gesetzt. Wir ermitteln in dem Fall. Wir haben schon mit ihren Kollegen gesprochen. Falls ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an“, schnarrte er wie einstudiert und reichte Gideon seine Karte. „Ich muss ihnen nicht sagen, dass das Zurückhalten von Informationen einem Bundesverbrechen gleichkommt und hart bestraft wird. Halten Sie sich für etwaige Befragungen ständig in Bereitschaft.“
Gideon nickte tapfer. „Ich bin froh, dass Sie sich ab jetzt kümmern. Danke, dass Sie so rasch reagiert haben.“
„Natürlich. Das ist unser Job.“
„Wäre es möglich, Sir, wenn ich mir Urlaub nehmen könnte? Ich bin noch ganz fertig von dem Überfall, Sie verstehen.“
Der Agent nickte knapp. „Klar. Machen Sie nur.“
„Danke, Sir.“
„Unterschreiben Sie dies hier, dass Sie nichts gesehen oder bemerkt haben, was wichtig für unsere Ermittlungen sein könnte.“ Er reichte aus einer Kladde einen Wulst an Papieren, die Gideon nicht erst überflog. Gideon nahm einen Stift und setzte sein Kürzel drunter.
„Was soll der Mist?“ Jonathan wurde übellaunig und rückte näher an seine Plexiglasscheibe heran, als könne er nicht glauben was er soeben gehört hatte. „Du willst Urlaub!? Jetzt? Muss das jetzt sein?“
Gideon versank in die Betrachtung des Druckknopfes seines Kugelschreibers. „Du hast es gehört, Boss. Jetzt sind die Profis sind am Werk. Da stören wir nur. Ich wünsche ihnen beiden Erfolg. Zeit, diese Banditen ins Kittchen zu befördern, was?“
Beide Agenten warfen sich kurz einen Blick zu. „Klar, was auch immer.“
„Konnten Sie schon mit Marlon sprechen?“
„Der weiß nichts“, warf der Schnösel ein und wirkte, als hätte er sich schon viel zu lange hier aufgehalten. „Sagen Sie, gibt es hier ein Restaurant oder ein sehr gutes Hotel? Es war ein anstrengender Tag.“
„Das Spins gehört einem Freund von mir.“ Er beschrieb ihnen den Weg und sah ihnen nach, während sie verschwanden. „Tja, das war das. Die werden wir nicht so schnell wiedersehen.“
„Was redest du denn? Das FBI kümmert sich jetzt.“ Unruhig geworden starrte Jonathan auf die Lagen Papier, die er unterschreiben musste. „Moment, die Zentrale des Federal Bureau of Investigation ist doch in Langley, oder? Und nicht in Leland, Illinois.“
„Spielt keine Rolle, ob gekauft oder unecht“, entschied Gideon für sich und stellte sich ganz nahe ans Plexiglas. „Die wollen, das wir uns raushalten und das machen wir. Sie haben uns nicht nach Marlon gefragt, oder nach Hinweisen oder Spuren. Sie wollten uns nur mundtot machen. Das bedeutet, dass die Sache groß ist. Ziemlich groß. Hier kommen wir nicht weiter.“
Jonathan sah ihn misstrauisch an. „Du hast eine Spur, was?“
„Ich will nur Urlaub machen“, sagte Gideon und zückte seinen Kugelschreiber. „Reich mir mal das Antragsformular. Der Urlaub beginnt jetzt. Meteor soll schön sein um die Jahreszeit.“
Nach einem siebzehnstündigen Flug verließ Gideon mit leichtem Gepäck den Ausgangsbereich der Shuttlerampe und machte sich zu Fuß zu seinem Hotel. Wenn er dabei auf ein Taxi verzichtete, lag es daran, dass er sein Geld zusammenhalten wollte – und ein Gefühl für Meteor bekommen wollte. Die Station war riesig, sie glich zwar in der Struktur wie der Falberg, aber besaß größere Gebäude, größere Namen und vor allem viel mehr Neonreklamen.
Die Luft war sauberer und es gab weniger Müll. Aber dafür bemerkte er Obdachlose, die mit Pappschildern um Arbeit baten. Jugendliche, die sich in Gruppen um ausgeschlachtete Autos versammelten und ihn scheel beäugten. Er kam an eine Schule vorbei, deren Fenster eingeschmissen waren, eine KiTa, die in einem ähnlichen Zustand war. Dafür Wachleute. Jede Menge, sogar. Seltsam.
Der lange Fußweg erwies sich als äußerst anstrengend und seine schmerzenden Füße erinnerten ihn daran, schnell sein Hotel aufzusuchen. Auf seinem Weg wurde er ungefähr ein dutzend Mal um Credits oder Arbeit angebettelt, was seine Meinung über Meteor nur noch verstärkte.
Nach einer Stunde erreichte er sein Hotel, das Abu Simbel. Genau vor dem Eingang erlebte er eine kleine Überraschung: eine tätowierte junge Frau mit blau gefärbten Haaren - die Kleidung war abgetragen und passte so gar nicht zu dem Etablissement hinter ihr- verteilte Karten und Broschüren. Oder besser: sie versuchte es und redete zwecklos auf die ankommenden und gehenden Besucher des Hotels ein. Gideon wollte schon stoppen und später wiederkommen, als sie ihn erblickte. „Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass etwas bei uns nicht stimmt? Wir brauchen dringend ihre Hilfe.“
„Kann ich nur bestätigen“, pflichtete er ihr bei und suchte bereits nach einem Fluchtweg.
„Es ist doch so wichtig, bedeutendes zu leisten“, verkündete sie und drückte ihm ein Prospekt in die Hand. „Meteor hat nichts mit bürgerlichen Stolz zu tun. Die Schulen sind geschlossen, die Jugend rebelliert und unsere Kriminalität ist erdrückend. Gehen Sie ruhig in ihr angenehmes Hotel! Das Verbrechen hat seinen Ursprung in der Armut, die von Menschen gemacht ist. Hier hat das Darknet seinen Ursprung, RedStar ist hier geboren worden…“
„Ach, suchen Sie sich eine Kiste, stellen Sie sich darauf und halten Sie ihre Volksreden“, maulte Gideon, entließ die Frau mit einer geringschätzigen Geste und wollte weitergehen. Seine Füße schmerzten sehr und er wollte wenigstens etwas ruhen.
„Weshalb schließen Sie sich diesem Verein an?“
Er wandte sich um. „Welchen Verein?“ Ihm ging ein Licht auf. „Oh, das ist zwar ein Vier-Sterne Hotel, aber ich bin nur eine einfache Sicherheitskraft auf Urlaub. Rabattaktion, Sie verstehen. Ich gehöre nicht zu den Reichen und bin daher nicht ihr Ansprechpartner.“
Streitlustig hielt sie ihn zurück. „Ich richte mich nicht nur an die Reichen. Jeder kann dazu beitragen. Man muss nicht reich und mächtig sein, um etwas zu bewirken.“
„Glauben Sie, was Sie gesagt haben… das es die Armut ist, die das Verbrechen verursacht?“
„Sie trägt sicherlich dazu bei“, erwiderte sie. „Aber kein vernünftiger Mensch wird glauben, dass sie der alleinige Auslöser ist.“
„Es könnte sein, dass es eine bestimmte Art von Menschen sind.“
Erstaunlicherweise reagierte die Frau mit einem strahlenden Lächeln. „So ist es! Und obwohl wir die Antwort kennen, unternehmen wir nichts in diese Richtung.“
„Wer, genau...?“
„Kinder“, sagte die Frau. „Ich meine nicht, dass Kinder die meisten Verbrechen begehen – obgleich die Zahl der von Jugendlichen und Kindern begangenen Verbrechen sicherlich steigt – ich meine, dass die Misshandlungen von Kindern der Hauptgrund für ein späteres kriminelles Verhalten ist.“
Unsicher starrte Gideon sie und die Broschüre abwechselnd an. Er gab es nicht gerne zu, aber sie sprach etwas an, von dem er keine Ahnung hatte. Es hatte ihn nie gekümmert. Jetzt… keimte langsam Interesse auf.
Das schien sie zu spüren. „Ich spreche von Kindesmissbrauch. Ich bin Sozialarbeiterin beim Amt für Kinderfürsorge.“ Sie reichte ihm die Hand, die er verblüfft schüttelte. „Das heißt, ich war es. Das Amt ist vor zwei Monaten geschlossen worden.“
„Warum?“
„Die Verwaltung meinte, dass die Kinder für die meisten Verbrechen verantwortlich wären oder zumindest auf dem Weg dorthin wären. Also könnte man gleich den Laden schließen.“ Ihre Miene verdunkelte sich. „So spart man Geld, das woanders gebraucht wird. Die Kinder sind jetzt alleingelassen, und ohne ihre Hilfe schaffe ich es nicht. Wir müssen wieder zurück! Hunderte von Kindern werden unterdrückt, misshandelt und sogar getötet. Jede Sekunde, die wir warten, leidet eine Seele unendliche Qualen!“
Verblüfft starrte er in ihre Augen. Er hatte diesen Ausdruck schon früher gesehen – diesen tiefen, unendlichen Schmerz. Er schluckte trocken. „Das heißt… sie sind arbeitslos und verteilen die Prospekte?“ Er nickte anerkennend. „Das ist Einsatz.“
Sie lächelte nicht. „Wenn nicht ich… wer dann?“ Sie starrte plötzlich auf ihre Uhr und wandte sich um. „Ich muss gehen. Eine gerichtliche Verfügung erlaubt es mir nicht länger als zehn Minuten vor einem öffentlichen Gebäude zu stehen, Hotels eingeschlossen. Ich muss los. Tun Sie das Richtige.“
Gideon starrte ihr nach und war unsicher, ob er richtig verstanden hatte. „Und… jetzt? Wo gehen Sie jetzt hin?“
Sie wandte sich um lächelte traurig. „Zum nächsten Hotel. Es gibt elf Hotels, vier Einkaufspassagen, drei Altenheime, zwei Krankenhäuser und der Rotary-Club. Obwohl sie beim letzten Mal die Hunde auf mich losgelassen haben. Ich muss noch zu einigen Gebäuden des Kultur- und des Bildungswesens, Sport- und Freizeitstätten, Einrichtungen des Gesundheitswesens, Büro-, Verwaltungs- und Gerichtsgebäude, Verkaufs- und Gaststätten, Stellplätze, Garagen und Toilettenanlagen. Besser als fernsehen, finden Sie nicht?“ Sie wartete nicht ab, sondern lief weiter.
Gideon sah ihr stirnrunzelnd nach. Hatte sie ihm gerade einen Bären aufgebunden oder aber die Wahrheit gesagt? Ein Ehrenamt dieser Größe kam ihm sinnlos vor aber ihr Einsatz machte ihn dennoch verlegen. Das hatte was. Gideon kam sich plötzlich klein und unbedeutend vor.
Er betrat wenig zuversichtlich das herrschaftlich eingerichtete Foyer. Ein Vier-Sterne-Hotel, von denen es dutzende es auf Meteor gab. Genau wie das Admiral, das Hilton und das Astoria verströmte dieses die vornehmlich-kühle Atmosphäre. Sie waren Pforten zu einer unwirklichen Welt, die gewöhnliche Sterbliche normalerweise verschlossen war. Der Portier in seiner sauberer Uniform begegnete ihm mit einem distinguiert-herablassenden Blick, bis er seine Reservierung zeigte und sich die Schlüsselkarte geben ließ. Der blasierte Zug in seinem Gesicht machte einer unterwürfigen Miene Platz.
„Wurde ein Päckchen für mich abgegeben?“ Der Portier nickte und reichte es ihm. Zusammen mit seinem Gepäck und dem Päckchen in der anderen Hand machte er sich auf den Weg und stand wenige Minuten später in einem flotten Zimmer.
Nach einer Dusche fühlte er sich erfrischt und öffnete das Päckchen, das als Beweis galt, dass wenigstens die Post ihr Geschäft gut verstand: Gideon hatte sich selbst das Päckchen zugeschickt um unnötige Fragen am Zoll zu entgehen: ein scharfes Allzweckmesser, seine Walther P99 und eine Rolle Frische-Minze-Drops. Davon steckte er sich gleich eine in den Mund und legte sich schlafen.
Die Sozialarbeiterin hatte ihn beeindruckt- keine Frage. Sie war jetzt arbeitslos und arbeitete so hart für irgendwelche Kinder, die sie nicht mal persönlich kannte. Ohne Einkommen. Ohne Verdienst. Ein ganz neues Konzept für ihn.
Nun, arbeitslos war er auch mal gewesen…
Nach dem Einsatz in Khorgisien hatte Gideon Nikolaeff als junger Mann erwogen, seine Dienste als Speznas-Agent aufzugeben, um seine Eltern in Oimjakon zu schützen. Er konnte es nicht ertragen, dass Gina „Mama“ Colfex irgendwie es schaffte, freizukommen und sich schrecklich an ihm rächen würde – sein Name war bekannt, aber wenn er kündigte und als Söldner anfing, verlor sich die Spur möglicherweise für „Mama“. So dachte er damals zumindest…
Tasuta katkend on lõppenud.