Loe raamatut: «30 Jahre Deutsche Einheit – eine Bilanz»

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Für Anton Philip

Inhalt

Vorwort

Danksagung

Prolog im Osten

„Die Überlegungen sollten davon ausgehen, dass es keinen Krieg mehr gibt“

„Erster Spatenstich fürs Grab“

Ungarn reißt den Eisernen Vorhang ein

Furcht vor „Chinesischer Lösung“

Geheime Begegnung auf Schloss Gymnich

„… um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“

„Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“

„… damit der friedliche Dialog möglich wird. Es sprach Kurt Masur“

„Mit dem klugen Volk der DDR ein demokratisches Land aufbauen“

Letztes Faustpfand der DDR-Führung

„… nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“

Aus „Wir sind das Volk!“ wird „Wir sind ein Volk!“

Der Aufruf „Für unser Land“

Kohls Zehn-Punkte-Programm

„Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen! Jetzt sind sie wieder da!“

„Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich lieber zwei als eines davon haben möchte“

Eine „äußerst dreiste Einmischung“

„Bringt Glasnost nach Ost-Berlin!“

Neue DDR-Verfassung oder Beitritt zum Grundgesetz?

„Mein Ziel bleibt – wenn die geschichtliche Stunde es zulässt – die Einheit unserer Nation“

Der Sturm auf die Trutzburg der Stasi

„Kommt die DM, bleiben wir …“

„Ein guter Tag für Deutschland, ein glücklicher Tag für mich“

Modrow kehrt mit leeren Händen aus Bonn zurück

Kohl beeindruckt von struktureller Stärke der „schmutzigen Brüder“

Diestel sträubt sich gegen „schmuddelige Joppe“

Lafontaine warnt vor „nationaler Besoffenheit“

„Genossen, wir haben nichts zu verschenken“

„Beide deutsche Staaten sollten sich um der Einheit Willen aufeinander zu reformieren“

„Für sie waren wir Störenfriede der Entspannungspolitik“

Deutsche Forumpartei gibt Kohl einen Korb

Angela Merkels politischer Förderer als IM „Torsten“ enttarnt

„Ein sensationelles Ergebnis. Damit hat bestimmt kaum einer gerechnet“

IM „Maximilian“: die fünf Identitäten des Ibrahim Böhme

„Nicht Ministerpräsident, sondern Konkursverwalter“

„Wir haben genügend Geld da“

„Chancen, die kein anderes Land in Osteuropa hat“

„Diesen Wartburg, den Sie hier gezeigt haben, den kauft keiner mehr bei uns“

„Eine Aufgabe von nahezu furchterregender Dimension“

„… nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der DDR beschlossen“

„Der Bundesfinanzminister sitzt damit auf einem Pulverfass“

Zwei plus Vier gleich Eins – „Meisterwerk der Diplomatie“

Das neue Deutschland

„Kassandra gewinnt keine Wahlen“

Ein Wessi, vier Ossis, fünf Länder

„Die Maschinen gehören ins Deutsche Museum!“

„Großer Preis des Mittelstandes“ für erfolgreiche Unternehmensübernahme

„O Gott, was passiert, wenn Stolpe fällt?“

„Land, Fraktion und Regierung leiden unter diesem Ministerpräsidenten“

Kurt Biedenkopf beantragt DDR-Staatsbürgerschaft

„Das kann nicht die RAF allein gewesen sein“

„Kanzlerversprechen“ und „Eierwurf von Halle“

IM „Czerni“ macht Platz für Angela Merkel

Erste Niederlage in Kyritz, nächster Karriereschritt in Dresden

Mysteriöses Ende eines Großverlegers

„Beispiellose Verödung der ostdeutschen Presselandschaft“

„Und in diesem Sinne, liebe Genossinnen und Genossen – auf Wiederschauen!“

„Wenn die Russen abhauen, dann machen wir diese Flasche auf“

„Niemand wird uns besiegen, solange wir uns selbst nicht erniedrigen“

„Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“

„Wir mussten den Menschen wirklich sehr viel zumuten“

Der „kleine König von Thüringen“ baut Jenoptik um

„… nicht von ein paar wild gewordenen Glatzköpfen kaputtmachen lassen“

„Willkommen, Bundeskanzler Helmut Schröder!“

„Jedes Ostprodukt spiegelt einen Tag in der eigenen Lebensgeschichte“

„Unser schönes Geld aus dem Westen, verplempert im Osten“

„Wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen!“

„Insgesamt hat sich die PDS nur wenig kooperativ gezeigt“

„Wichtige, sehr glückliche Männer in Heiligendamm“

„Zukunftstreiber sind Humankapital, Kreativität und Weltoffenheit“

„Einfach besorgte Bürger“

„Wir schaffen das!“

„Eine widerliche Scharade. Ein deutscher Tabubruch!“

„Erste ,echte‘ ostdeutsche Richterin am Bundesverfassungsgericht“

„Was Helmut Kohl damals versprach, war eine Untertreibung“

„Deutschland rocks!“

Endnoten

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Bildnachweis

Impressum


19. Dezember 1989: Bundeskanzler Helmut Kohl wendet sich vor der Ruine der Frauenkirche an Tausende Dresdner.

Vorwort

Jeder dritte Deutsche im wiedervereinigten Deutschland ist zu jung, als dass er sich an die Euphorie und den Freudentaumel am 3. Oktober 1990 erinnern könnte; 25,1 Millionen Einwohner dieses Landes sind 30 Jahre oder jünger. Und bei uns Zeitzeugen haben sich drei Jahrzehnte gelebtes Leben auf die Erinnerungen gelegt, viele von ihnen sind verblasst, vergessen, verdrängt. Dabei lohnt es, die Ereignisse jener drei Jahrzehnte Revue passieren zu lassen oder sich die Bilder ins Gedächtnis zu rufen, um sich das Privileg bewusst zu machen, in einem demokratischen, friedlichen und von befreundeten Nachbarnationen umgebenen Deutschland leben zu können. Der Verlauf der jüngsten deutschen Geschichte war mitnichten vorgegeben, die Deutsche Einheit eine, aber keineswegs die einzige Option. Die große Mehrheit der Deutschen hat die Wiedervereinigung ersehnt und in demokratischen Wahlen angekreuzt, doch gab es mit dem Appell der DDR-Opposition „Für unser Land“ einen durchaus ernst zu nehmenden Gegenentwurf. Die Rahmenbedingungen für die Realisierung der Einheit in Freiheit waren 1990 einzigartig; wie Erfolg versprechend wäre es wohl heute, der Kremlführung sechs Milliarden Euro dafür anzubieten, sechs russische Armeen mit 546.000 Mann und 2,7 Millionen Tonnen Militärausrüstung aus Mecklenburg, Brandenburg und Thüringen abzuziehen?

Wer zu „Wendezeiten“ im mitteldeutschen Chemiedreieck unterwegs war, dem fehlte damals selbst in den kühnsten Träumen die Fantasie, sich einen blauen Himmel über Bitterfeld und Städte ohne den beißenden Schwefelgeruch der Braunkohleheizungen vorzustellen. Wer dagegen heute durch Görlitz, Naumburg und Wismar geht, dem fällt kaum eine treffendere Bezeichnung für sie ein als „blühende Landschaften“. Wer sie nicht sehe, sei entweder blind oder böswillig, hat der erste demokratisch gewählte und zugleich letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, einmal gesagt.

Der Stand der Deutschen Einheit stellt aller eindrucksvollen Erfolge beim Zusammenwachsen Deutschlands zum Trotz nicht alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen zufrieden; viele Menschen vor allem im Osten Deutschlands haben tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Umbrüche meistern müssen. Eine der großen Herausforderungen besteht darin, den Zuspruch zur Demokratie und zu ihren Institutionen zu stärken. Die politischen Wertüberzeugungen in den neuen und den alten Ländern seien eines der wenigen Felder, auf denen man noch ein unterschiedliches Bild finde, heißt es im aktuellen „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit“ der Bundesregierung. Dennoch belegen jüngste Umfragen ein höheres Maß an Zufriedenheit als zu jedem anderen Zeitpunkt seit der Wiedervereinigung.

Dieses Buch möchte Meilensteine würdigen und Wissen vermitteln. Es schlägt den Bogen von der Friedlichen Revolution des Herbstes 1989 bis in die Gegenwart, beleuchtet die innenpolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen ebenso wie die außenpolitischen Weichenstellungen. Dieses Buch lässt Zeitzeugen zur Gestaltung des neuen Deutschland zu Wort kommen, zur bis heute umstrittenen Arbeit der Treuhandanstalt, zur moralischen und juristischen Aufarbeitung des SED-Unrechts, zur Neuordnung des Medienmarktes, die der Autor in den Potsdamer Filmstudios und beim „Morgen“ in Ost-Berlin aktiv miterlebte und über den dort zunächst noch verwendeten Bleisatz staunte.

Dieses Buch möchte aber auch jene 21 Prozent der Westdeutschen neugierig machen, die in den vergangenen 30 Jahren noch nie im zwischen Ostsee und Erzgebirge gelegenen Teil Deutschlands gewesen sind. „Wir miteinander“, so lautet das Motto der in Potsdam stattfindenden Feiern zum Jubiläum „30 Jahre Deutsche Einheit“. Die Jugend lebt dieses „Wir miteinander“ seit Langem; heute kommen für zwei ostdeutsche Studierende, die nach Westdeutschland gehen, durchschnittlich drei westdeutsche in den Osten. Wir Übrigen sind aufgerufen, nicht nur Meilensteine zu erinnern und Wissen zu vermitteln, sondern auch Dialoge zu führen und in ihnen einerseits die Faktoren zu benennen, die gleichwertigeren Lebensverhältnissen in ganz Deutschland noch im Wege stehen, andererseits aber die Gegenwart an unserer eigenen deutschen Geschichte zu messen – und viel stärker die in 30 Jahren vollbrachten Erfolge zu würdigen.

DANKSAGUNG

Verleger Peter Tamm junior und seinem Team danke ich für die Realisierung dieses Projekts und Lektorin Annette Krüger für die gründliche Durchsicht des Manuskripts und viele gute Hinweise.

Prolog im Osten


15. Juni 1971: Der 8. Parteitag der SED beschließt die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“.

„DIE ÜBERLEGUNGEN SOLLTEN DAVON AUSGEHEN, DASS ES KEINEN KRIEG MEHR GIBT“

Seit 17 Jahren ist Erich Honecker Erster Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), Vorsitzender des Staatsrates und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Am 14. Juni 1988 äußert er seine Befürchtung im Politbüro des ZK der SED erstmals laut: „Wir müssen den Zusammenbruch verhindern!“1 Die auf dem 8. Parteitag der SED im Juni 1971 beschlossene „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ ist de facto gescheitert. 78,5 Prozent des Staatshaushalts dienen der Finanzierung steigender Sozialleistungen und der Subventionierung von Mieten und Verbraucherpreisen, lediglich 18,8 Prozent investiert die DDR-Führung in die Wettbewerbsfähigkeit des Landes; 53,8 Prozent der Industrieanlagen und 67 Prozent der Bausubstanz sind verschlissen. Die Arbeitsproduktivität geht seit den 1950er-Jahren kontinuierlich zurück und liegt 1988 lediglich bei 20 bis 25 Prozent des westdeutschen Niveaus.

Bei mittlerweile 400 westlichen Banken steht die DDR in der Kreide, Monat für Monat wächst die Verschuldung um 500 Millionen DM – seit 1986 um 61,4 Prozent auf 48,8 Milliarden DM, so wird es Plankommissionschef Gerhard Schürer im Herbst 1989 errechnen.2 „Erich, vergiss das nie“, hatte der damalige Kremlchef Leonid Breschnew seinem kommenden Mann in Ost-Berlin 1970 in Erinnerung gerufen, „die DDR kann ohne uns nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR.“ Nun, keine 20 Jahre später, ist aus Moskau keine Hilfe mehr zu erwarten. „So, wie es jetzt ist, geht es an den Baum, Totalschaden“, schwant dem für Wirtschaft zuständigen Politbüromitglied Günter Mittag im November 1988 im kleinen Kreis.3 Um die Subventionspolitik dennoch aufrechterhalten und selbst im Fünfjahresplan 1991 bis 1995 festschreiben zu können, ist Honecker sogar bereit, die Budgets von Nationaler Volksarmee (NVA) und Staatssicherheit um mehrere Milliarden Mark zu kürzen: „Die Überlegungen sollten davon ausgehen, dass es keinen Krieg mehr gibt“, heißt es im Vermerk über seine am 21. Februar 1989 geführte Aussprache mit Günter Mittag und Gerhard Schürer.4 „Entgegenstehende Beschlüsse des Nationalen Verteidigungsrates müssten aufgehoben werden.“ Doch das Kalkül der DDR-Führung, sich mit dieser Politik bei der Bevölkerung gesteigerte Arbeitsmoral, höhere Produktivität und politisches Wohlverhalten erkaufen zu können, geht nicht auf. Im Gegenteil: Die DDR-Wirtschaft fällt immer stärker hinter das „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“ (NSW) zurück. Zwischen 1984 und 1989 geht der Export ins NSW um ein Drittel auf 16 Milliarden DM zurück; mehrfach weist Plankommissionschef Schürer darauf hin, es sei 300 DM billiger, einen Videorekorder komplett im Westen zu kaufen, als ihn mit importierten Bauteilen aus dem NSW in der DDR produzieren zu lassen. Auch das milliardenschwere Projekt „Mikron“, im Rahmen dessen innerhalb von drei Jahren ein Ein-Megabit-Speicherschaltkreis entwickelt und 1990 in die Serienproduktion gehen soll, erweist sich als unrentabel. Der ostdeutsche Volksmund spottet über den „ersten begehbaren Chip der Welt“, während Honecker im September 1988 vollmundig von einer technologischen Sensation schwärmt: „Eure Leistungen sind ein hervorragender Beitrag im Wettlauf mit der Zeit“, lobt er das Kollektiv des Volkseigenen Betriebs (VEB) Carl Zeiss Jena bei der Übergabe.5 „Sie sind ein überzeugender Beweis dafür, dass die DDR ihre Position als entwickeltes Industrieland behauptet.“ Doch während sich der SED-Chef über die ersten in der DDR hergestellten Ein-Megabit-Speicherschaltkreise freut, produzieren IBM und Toshiba bereits Vier-Megabit-Speicher. Und während auf der Pilotlinie des VEB Forschungszentrum Mikroelektronik Dresden 1988 rund 5.000 Muster des U61000 und 1989 weitere 30.000 Megabit-Schaltkreise gefertigt werden, laufen bei Toshiba 100.000 Chips vom Band – pro Tag.


Bruderkuss von Leonid Breschnew und Erich Honecker, verewigt auf der Berliner East Side Gallery

Weniger die absolute Höhe der Schulden gegenüber westlichen Ländern als vielmehr deren steigende Tendenz und kürzere Zahlungsfristen stellen die DDR Ende der 1980er-Jahre vor existenzielle Probleme. Dass diese hausgemacht sind, konstatiert sogar das Ministerium für Staatssicherheit (MfS): „Die subjektiven Ursachen, die der weiter anhaltenden Tendenz der problembehafteten Entwicklung der Volkswirtschaft zugrunde liegen, haben keine feindlich motivierte Grundlage.“6 Seit 1973 ist der Kandidat des SED-Politbüros Gerhard Schürer Chefökonom der DDR. An ihm und seinen 2.000 Mitarbeitern führt kein Weg vorbei, wenn es im Rahmen des „Zentralen Plans“ um die Vergabe von Krediten, die Genehmigung eines Stahlwerkes oder die Förderung der Mikroelektronik geht. Schürer plant bis ins Detail: „Lieferte ein Züchter ein Kaninchen an den Staat, erhielt er dafür sechzig Mark. Kaufte er es danach geschlachtet und ausgenommen bei der Staatlichen Handelsorganisation (HO) zurück, kostete es trotz der aufgewendeten Arbeit nur 15 Mark.“7 Als wenig erfolgreich erweist sich auch, dass Schürer festlegt, wie viel Erdöl aus der Sowjetunion importiert wird, während sich Außenhandelsminister Gerhard Beil um die Preise kümmert.

Im „Kleinen Kreis“ der für Wirtschaftsfragen verantwortlichen Politbüromitglieder redet Planungschef Schürer am 16. Mai 1989 Klartext: „In diesem heute hier anwesenden kleinen Kreis möchte ich mit aller Offenheit sagen dürfen, dass bei Fortsetzung dieser Entwicklung die DDR 1991 zahlungsunfähig ist. Wenn wir über die Zahlungsbilanz nicht strengste Geheimhaltung gewährleisten, kann der Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit noch früher eintreten.“8 Die Teilnehmer sind ratlos: „Was sagen wir dann dem Volk, wie treten wir dann dem Volk gegenüber auf?“, fragt der Vorsitzende des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes Harry Tisch irritiert.9 „Wir sollten jetzt nach vorne sehen“, rät Egon Krenz, seit 1984 Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates und damit zweiter Mann hinter Erich Honecker. „Es ist für mich gar keine Frage, ob die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik fortgeführt wird. Sie muss fortgeführt werden, denn sie ist ja der Sozialismus in der DDR!“10

„ERSTER SPATENSTICH FÜRS GRAB“

Dem „Sozialismus in der DDR“ erweist Egon Krenz am 7. Mai 1989 als Leiter der Zentralen Wahlkommission bei den Kommunalwahlen einen Bärendienst. Auch bei jener Wahl stehen nur Kandidaten der Einheitsliste der Nationalen Front auf dem Stimmzettel; der Antrag kirchlicher Gruppen in Berlin und in Dresden, eigene Kandidaten auf der Einheitsliste zu platzieren, wird abgelehnt. Doch diesmal beschränken sich die Bürger nicht aufs „Falten gehen“, auf das Einwerfen ihres lediglich gefalteten Stimmzettels, sondern nutzen in einem beispiellosen Ausmaß die Wahlkabinen, um jeden Kandidaten der Einheitsliste einzeln waagerecht durchzustreichen und auf diese Weise mit „Nein“ zu stimmen.

Zudem pochen viele mutige Bürger auf ihr im Wahlgesetz verankertes Recht, die Stimmauszählung vor Ort zu verfolgen. Aller Diskretion der Bürgerrechtsbewegung zum Trotz bleibt die Aktion „Wahlfall 89“ der Staatssicherheit nicht verborgen. In einigen Städten warnen die Bezirksbehörden des MfS die SED angesichts der geplanten Kontrolle der Stimmauszählung sogar vor einer Manipulation der Wahlergebnisse. Doch die stehen seit Langem fest: „Sechs Wochen vor der Wahl wurden wir ins Rote Rathaus einbestellt“, erinnert sich Günter Polauke, von 1986 bis Ende 1989 Bezirksbürgermeister von Berlin-Treptow, an diese „letzte Ölung“.11 „Dort bekamen wir kleine Zettel, auf denen Zahlengruppen draufstanden – das waren die zu erbringenden Ja-Stimmen im Stadtbezirk und die zu erbringenden Wahlbeteiligungsstimmen. Demzufolge wusste man, man kann so und so viele Gegenstimmen haben.“

In Berlin gelingt es den Kirchen-, Umweltschutz- und Bürgerrechtsgruppen, Beobachter in nahezu alle Wahllokale zu entsenden, die den Auszählern penibel auf die Finger schauen. In der gesamten DDR werden die Vertreter der oppositionellen Bürgerrechtsbewegung Zeugen, wie Wahlurnen vorzeitig geöffnet, Wählerlisten gefälscht, ungültige Stimmen als „Ja“ gewertet werden und der Anteil der Nein-Stimmen bewusst nach unten korrigiert wird. Insbesondere in Berlin, Potsdam, Leipzig, Dresden und Naumburg registriert die Opposition krasse Abweichungen von bis zu 20 Prozent.

Als Wahlleiter Egon Krenz am Abend das vermeintliche Ergebnis verkündet, ist allen klar: Diese Zahlen sind gefälscht. „Die Kommunalwahlen im 40. Jahr unseres Arbeiter-und-Bauern-Staates wurden zu einem eindrucksvollen Votum für die Kandidaten der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik“, biegt sich der ZK-Sekretär die Wirklichkeit zurecht – 98,85 Prozent Ja-Stimmen und lediglich 1,15 Prozent Gegenstimmen. Auch Günter Polauke in Treptow frisiert schließlich seine Zahlen. Denn als der Bezirksbürgermeister seinem Stellvertreter nach Auszählung der Stimmen aufträgt, sechs Prozent Gegenstimmen und damit das tatsächliche Ergebnis ans Rote Rathaus zu melden, wird dieser am Telefon zusammengestaucht. Daraufhin ordnet sich Polauke der Parteidisziplin unter, schreibt die von der SED geforderten Zahlen ins Wahlprotokoll und unterzeichnet das Papier – Wahlfälschungen sind allerdings auch in der DDR ein Straftatbestand; Paragraf 211 des Strafgesetzbuches sieht dafür Haftstrafen von bis zu fünf Jahren vor. 1993 wird Polauke wegen Wahlfälschung zu sechs Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt auf zwei Jahre zur Bewährung, verurteilt. „Ich hätte Nein sagen können“, sinniert er später.12 „Was wäre mir passiert? Mir persönlich nichts! Vielleicht wäre eine Parteikontrollkommission vier Wochen später über Treptow hergefallen mit der Frage: Was ist los in Treptow? Da wäre ich vielleicht abgesetzt worden und würde irgendwo was anderes gemacht haben. Also eigentlich wäre mir nichts passiert. Darüber denke ich oft nach.“

Noch am Wahlabend gehen in Leipzig 1.000 Demonstranten gegen die Wahlfälschung auf die Straße. Fünf Tage darauf erheben Berliner Bürgerrechtler „Einspruch gegen die Gültigkeit der Kommunalwahlen“ beim Nationalrat der DDR, doch alle 300 Wahlanfechtungen, Strafanzeigen und Beschwerden werden abschlägig beschieden. Die Justiz erhält Weisung, Einsprüche gegen das Wahlergebnis unkommentiert abzulehnen, Staatsanwälten werden eigenständige Ermittlungen untersagt. Eine Woche nach Feststellung des amtlichen Wahlergebnisses ordnet Egon Krenz die Vernichtung sämtlicher Wahlunterlagen an – und wird zum Gegenstand bissigen Spotts: Egon Krenz besucht kurz vor der Wende eine LPG. Ein Zeitungsreporter fotografiert ihn für seinen Artikel im Stall. In der Redaktion grübeln die Redakteure über eine geeignete Bildunterschrift. „Egon Krenz unter Schweinen“, sagt der eine. „Bist du verrückt? Das können wir auf keinen Fall schreiben!“, werfen die Kollegen ein. Schließlich verständigen sie sich auf „Egon Krenz, dritter von links“.

Ein gegen Krenz eingeleitetes Ermittlungsverfahren wird 1997 vom Berliner Landgericht eingestellt; wegen seiner Verantwortung für die Todesschüsse an Berliner Mauer und innerdeutscher Grenze ist er zu jenem Zeitpunkt bereits zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt worden. Insgesamt werden 161 Personen in 76 Wahlfälschungsverfahren angeklagt und 124 Angeklagte rechtskräftig verurteilt.

Die gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 sind einer der Auslöser für die Demonstrationen im Herbst jenes Jahres. „Es wird für mich unbegreiflich bleiben, warum die Regierenden so reagiert haben, wie sie reagiert haben“, wundert sich der damalige Pfarrer und spätere CDU-Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann.13 „Denn dass wir in einzelnen Wahllokalen oder – wie in Friedrichshain – flächendeckend in allen oder fast allen Wahllokalen bei der Auszählung der Stimmen mit dabei sein würden, hat die Staatssicherheit Wochen vorher gewusst.“ Ein „Schlüsseldatum“ für die Herausbildung von „bürgerschaftlichem Widerstand“ und die Erlangung „demokratischer Grundrechte“ in der DDR nennt der in der christlichen Friedens- und Umweltbewegung sozialisierte spätere Bundestagsabgeordnete Thomas Krüger (SPD) die Kommunalwahlen, und für den Bürgerrechtler und späteren Bundestagsabgeordneten Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) sind sie der „erste Spatenstich fürs Grab“ des SED-Staates.