Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen

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2.3.2Komorbide und Persönlichkeitsfaktoren

Neben der Frage des aktuellen Zustandes der Patienten gibt es noch weitere wichtige Aspekte für die Orientierung:

•komorbide bzw. zusätzliche Störungen, einschließlich der Persönlichkeitsveränderungen und Persönlichkeitsstörungen,

•prä-, peri- und posttraumatische Faktoren.

Als komorbide Störungen werden dissoziative Störungen, depressive Störungen, Somatisierungsstörungen, Essstörungen, Angststörungen, Zwangsstörungen, sexuelle Funktionsstörungen, Substanzmissbrauch, Suchterkrankungen, Störungen der Affektmodulation und Impulskontrolle, psychotische Störungen, Persönlichkeitsveränderungen und Persönlichkeitsstörungen genannt (Hecker u. Maercker 2015, S. 552; Dammann u. Overkamp 2004, S. 14; Senger 2019, S. 12). Die Liste möglicher physischer bzw. somatischer Folgen, die bei traumatisierten Patientengruppen im Vergleich häufiger nachgewiesen werden konnten, ist lang: erhöhtes Waist-Hip-Ratio2, Adipositas, Hypertonus, Dyslipidämien (Fettstoffwechselstörung), kardio- und zerebrovaskuläre Erkrankung, Tachykardie, metabolisches Syndrom, nicht zirrhotische Lebererkrankungen, Diabetes mellitus, frühzeitiger Tod, Infektanfälligkeit, Magengeschwüre, HIV-seropositiver Status, rheumatoide Arthritis, Psoriasis, Schilddrüsenerkrankungen, chronische Schmerzen, Fibromyalgie-Syndrom, muskuloskelettale Fehlfunktionen, Knochendemineralisation, Osteoarthritis und Schlafstörungen (Langheim 2019, S. 56). Die Angaben basieren auf einer klaren Vorher-nachher-Einschätzung und beschreiben psychische und somatische Erkrankungen, die sich als Folge von Traumatisierungen bzw. im Zusammenhang mit Traumafolgestörungen entwickeln.

Bei der Behandlung von Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen einschließlich komplexer dissoziativer Störungen, die einen hohen Grad an Komorbidität aufweisen, finden wir hinsichtlich der zusätzlichen Erkrankungen sowie der beeinflussenden und möglicherweise erschwerenden Faktoren eine Schwierigkeit, die man als Henne-oder-Ei-Problem beschreiben könnte. Was war zuerst? Lag beispielsweise eine Depression oder eine Persönlichkeitsstörung bereits vor dem traumatischen Geschehen vor und erhöhte die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung einer Traumafolgestörung bzw. erschwerte die Symptomatik dieser Störung oder führten die meist frühen komplexen Traumatisierungen zusätzlich zu einer depressiven Störung, Persönlichkeitsveränderungen oder Persönlichkeitsstörungen?

Ein weiterer wichtiger Aspekt besteht darin, dass frühere Traumatisierungen die Wahrscheinlichkeit der Ausprägung einer Traumafolgestörung nach erneuter Traumatisierung erhöhen, was auch als Bausteineffekt (»building block«) beschrieben wird (Hecker u. Maercker 2015, S. 550).

Bei Typ-I-Traumatisierungen im Erwachsenenalter lassen sich diese Fragen am einfachsten beantworten, da sich das Leben und das Befinden vor dem Trauma gut explorieren lassen. Gab es psychische oder somatische Erkrankungen vor der Traumatisierung? Das Fehlen von psychischen, somatischen oder sozialen Störungen bzw. Belastungen vor einer Traumatisierung bedeutet jedoch nicht, dass die Traumafolgestörung automatisch milder verläuft. Es bedeutet nicht, dass die Symptome in diesem Fall weniger stark ausgeprägt wären.

Eine Vorher-während-und-nachher-Betrachtung sollte in jedem Falle durchgeführt werden, da prä-, peri- und posttraumatische Faktoren die Entwicklung, die Schwere und den Verlauf einer Traumafolgestörung beeinflussen können (Hecker u. Maercker 2015, S. 550). Der Blick richtet sich gleichermaßen auf Störungen bzw. erschwerende Faktoren wie auch auf Ressourcen.

Einerseits liefert die Orientierung auf die verschiedenen Zeiträume bzw. Zeitpunkte Hinweise zu möglichen Risikofaktoren, andererseits bieten sie die Möglichkeit der Ressourcensuche. Ressourcen aus der Zeit vor einer Traumatisierung sind wichtige unterstützende Faktoren und Bausteine der Behandlung. In der Praxis können uns verschiedene Besonderheiten des Erlebens von Patientinnen und Patienten begegnen, die einen großen Einfluss auf die Behandlungsplanung und den Behandlungsverlauf besitzen. Dazu gehören:

•Fälle, in denen es kein ressourcenreiches Erleben vor Beginn der Traumatisierungen zu geben scheint bzw. dieses nicht erinnerbar ist

•Fälle, in denen komplexes traumatisches Erleben erst in höherem Lebensalter bewusst/zugänglich wird, nachdem die Person eine gewisse Lebenszeit aus ihrer Sicht beschwerdefrei lebte.

Die folgenden Fallsequenzen geben einen Einblick in diese Besonderheiten:

Wenn eine Patientin erklärt, den Schrecken kenne sie schon, solange sie denken könne und zusätzlich über Informationen von Familienmitgliedern oder weiteren Personen verfügt, die bestätigen, dass die traumatisierenden Umstände schon zurzeit ihrer Geburt oder auch vor ihrer Geburt herrschten, dann wird die Einschätzung sowie ein Rückgriff auf prätraumatische Ressourcen schwierig.

Fallbeispiel 4

Die Patientin berichtet von ihren Erinnerungen aus dem Luftschutzkeller am Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Angriffe konnten jederzeit erfolgen. Es herrschte tiefste Verunsicherung und Panik und es war nicht klar, wie viele dieser Bombardierungen sie noch überleben würden. Es war kein guter Zeitpunkt, ein Kind zu bekommen, und nicht die Art, auf der Welt willkommen geheißen zu werden, die sich Eltern für ihr Kind gewünscht hätten. Abgesehen von den Belastungen durch die Abwesenheit des Vaters und der Angst um ihn stellte eine bedingungslose mütterliche Zuwendung für das Kind in dieser anhaltend lebensbedrohlichen Situation einen Luxus dar, der für die Mutter unerreichbar war. Die Kriegserlebnisse sollten das Kind ein Leben lang begleiten, man könnte sagen: verfolgen.

Würden sich nun psychische, somatische und soziale Probleme unabhängig davon betrachten lassen? Die Spätfolgen von Kindheitstraumatisierungen und transgenerativen Traumatisierungen sind gut untersucht und zeigen uns, welche Auswirkungen derartige Erlebnisse haben. Lassen sich andererseits sämtliche Probleme im Leben auf diese Erlebnisse zurückführen? Besteht das Risiko einer Art »Generalerklärung«? In dieser Hinsicht ist ein behutsames Vorgehen wichtig, durch das voreilige Schlüsse und Beurteilungen vermieden werden. In den Fällen, in denen es kein bedrohungsfreies Vorher gibt, in denen das Leben mit Traumatisierungen begann, ist ein trauma- und generationssensitiver Umgang mit den verschiedenen Beschwerdebereichen und Problemen notwendig.

Viele traumatisierte Menschen verlieren ihren Bezug zur Welt. Sie verlieren ein Sicherheitsgefühl, ein Gefühl, sich selbstbestimmt in der Welt bewegen zu können, das eigene Leben und die Welt gestalten und anderen Menschen vertrauen zu können. Sie verlieren ebenso den Bezug zu sich selbst, zu ihrem Körper, zu ihrer Identität. Sie verlieren den Bezug zu ihrer Würde, zu ihren Überzeugungen und zu ihren Gefühlen. Das Erleben, plötzlich im fortgeschrittenen Lebensalter mit einer ganz anderen Biografie konfrontiert zu sein, völlig anders, als die eigene Geschichte bis dahin erinnert wurde, stellt eine Extrembelastung für Betroffene dar, wie im zweiten Beispiel deutlich wird.

Fallbeispiel 5

Die Patientin sollte zwecks einer Burn-out-Prophylaxe eine Rehabilitationsbehandlung absolvieren. Dies war fast ein Standardvorgehen nach vielen Jahren engagierter und verantwortungsvoller Tätigkeit. Dann sei es gut, einmal auszusteigen, auch etwas für den Körper zu tun und die Anzeichen von Überarbeitung ernst zu nehmen. Früher hätte man gesagt: »Sie müssen mal zur Kur.« Was sich anschließend ereignete, hatte mit Kur nicht viel zu tun. Im Laufe der stationären Rehabilitationsbehandlung brachen bei der Patientin unkontrolliert Traumaerinnerungen hervor, so heftig und so schrecklich, dass die Patientin sicher war, nun verrückt geworden zu sein. Das Erinnerungsmaterial wurde jedoch derart deutlich und bezüglich ihrer Biografie eindeutig, dass die Patientin plötzlich mit einem völlig anderen Lebenslauf konfrontiert war, anders als der, den sie bis dahin verinnerlicht hatte. Sie schien nun jemand anderes zu sein: Ein Mensch, dem diese schrecklichen, nicht aussprechbaren Dinge passiert sind. Sie war nicht mehr die Person, die mit solchen Sachen nichts zu tun hatte. Sie hatte den Eindruck, somit auch nicht mehr liebenswert zu sein und die Eigenschaften verloren zu haben, die sie sich bis dahin zugeschrieben hatte, wie mitfühlend, hilfsbereit, verantwortungsvoll, engagiert, interessiert und kreativ. Sie hatte vielmehr den Eindruck, verachtenswert und unwürdig zu sein, nicht mehr dazuzugehören, das Recht auf Gleichbehandlung und Würde verloren zu haben. Die Patientin erlebte den Ausbruch der traumatischen Erinnerungen wie eine Art doppelte Buchführung. Es gab nun zwei Lebensverläufe, zwei Entwicklungen, zwei Identitäten. Es ging hier nicht um eine dissoziative Aufteilung der Persönlichkeit, sondern um das Realisieren und die Akzeptanz einer traumatisierten Biografie sowie um den Verlust einer unversehrten Lebensgeschichte.

Verschiedene biografische Zeitpunkte, Zeiträume und Zeitebenen werden je nach Relevanz in die Behandlung einbezogen: Solche,

a)in denen Traumatisierungen stattfanden

b)in denen Patientinnen keinen Zugang zu traumatischem Material hatten und ihnen das Vorliegen einer Traumafolgestörung nicht bewusst war

c)in denen sich Patienten gegen das Vorliegen einer Traumafolgestörung innerlich wehren

 

d)in denen sich die Symptome der Traumafolgestörungen spürbar entwickelten, d. h., dass den Patienten klarwurde, dass eine solche Störung vorliegt

e)unbelastete Zeiten vor den Traumatisierungen

f)das gegenwärtige Erleben

g)angestrebtes Erleben (zukünftig).

Vielleicht versuchen wir es mit einigen Basics:

1)Komplexe Traumafolgestörungen haben einen Einfluss auf die Entwicklung der Persönlichkeit und können Persönlichkeitsveränderungen sowie Persönlichkeitsstörungen nach sich ziehen, das heißt verursachen.

2) Traumafolgestörungen (Typ I und Typ II) können weitere psychische und somatische Erkrankungen sowie soziale Schwierigkeiten verursachen und deren Verlauf erschweren bzw. die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass solche auftreten.

3)Psychische und somatische Erkrankungen, einschließlich der Persönlichkeitsstörungen, können die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer Traumafolgestörung erhöhen und deren Verlauf erschweren.

4)Im Hinblick auf die transgenerative Weitergabe von Traumafolgestörungen haben sowohl diese als auch weitere psychische und somatische Störungen einen Einfluss auf das Auftreten und den Verlauf einer Traumafolgestörung der folgenden Generation.

5)Die Wahrscheinlichkeit der Ausprägung einer traumatischen Erkrankung steigt, je mehr sich traumatische Erfahrungen aneinanderreihen. Menschen werden nicht besser in der Bewältigung von traumatischen Ereignissen, sondern schlechter.

6)Die Frage, welcher Patient nach welchem Ereignis eine Traumafolgestörung entwickelt, ist nicht eindeutig zu beantworten.

2.4Orientierung mittels Klassifikation von Traumafolgestörungen

Für die traumatherapeutische Praxis sind die Fragen der diagnostischen Einordnung äußerst wichtig. Sie sind für die Behandlung wegweisend, helfen dabei, Entscheidungen über die Gewichtung der Behandlungsphasen (zum Beispiel den Umfang der Stabilisierungsphase), die Integration weiterer Behandlungsbereiche (zum Beispiel den Exkurs Schuld, Trauer oder die Therapie von Persönlichkeitsstörungen) sowie spezifischer traumatherapeutischer Interventionen (zum Beispiel die Konfrontation/Beobachtertechnik) zu fällen.

Als die am häufigsten verwendete Orientierungshilfe in der Behandlung von Traumafolgestörungen kann die Unterteilung von Störungsbildern und entsprechenden Diagnosen angesehen werden. Eine differenzierte Klassifikation und das Bemühen um die Festlegung einer Diagnose sind aus vieler Hinsicht notwendig und hilfreich. Sie erlauben Aussagen und Entscheidungen über das therapeutische Vorgehen, den Behandlungsplan sowie einzelne spezifische Interventionen. Weiterhin erleichtern sie die Abschätzung einer Prognose und schützen vor unangemessenen Zielvorstellungen. Nicht zuletzt stellen sie eine Anerkennung des Geschehenen und der Folgen dar. Diagnosen sind nicht als Stempel oder Stigmata zu verstehen. Sie sind jedoch, wie in vielen Bereichen der klinischen Psychologie und Medizin, für eine fundierte und verantwortungsvolle Behandlung notwendig. Wenn ein Onkologe dem mit einer Krebserkrankung konfrontierten Patienten erklären würde, dass er nicht so genau wisse, unter welcher Form der Krebserkrankung er leide und welche Tumor-Art vorläge, dass es aber auch nicht so sehr auf die genaue Diagnose ankäme, da diese ohnehin relativ sei und überbewertet werde, wäre der Patient verständlicherweise höchst beunruhigt.

Die Klassifikation und Diagnosestellung einer Traumafolgestörung in Verbindung mit einer angemessenen Psychoedukation kann Patientinnen erleichtern und ihnen Hoffnung geben, zum Beispiel, indem sie plötzlich ihre Symptome besser verstehen und einordnen können und indem ein konkreter Behandlungsplan abgeleitet werden kann. Sie kann sie jedoch in gleichem Maße stark verunsichern. Diagnosen können sehr erschrecken, einen Abgrund oder ein schwarzes Loch öffnen, vor denen viele Patienten verständlicherweise große Angst haben und die sie mit absolut besorgniserregenden Attributen verbinden, wie zum Beispiel bei der Diagnose einer Dissoziativen Identitätsstörung (DIS).

Im Fall von Hoffnung erhöhen sich Stabilität und Behandlungsmotivation deutlich, was die psychotherapeutischen Bemühungen entsprechend erleichtert. Im Fall von Erschrecken kann eine nachvollziehbare Aversion für erhebliche Behandlungsschwierigkeiten sorgen, beispielsweise allein schon deshalb, weil die Diagnose nicht wahr sein darf.

Die Diagnose einer Traumafolgestörung kann ungünstigenfalls einen prägenden Einfluss haben, wenn Patientinnen beispielsweise annehmen, dass sie nun unheilbar krank seien, sich alle Menschen von ihnen abwenden würden und ihr Leben auf dem absteigenden Ast besiegelt sei. Nicht zuletzt sind diagnostische Einordnungen für eine differenzierte Selbsthilfe hilfreich, da die Patienten wissen, worum es geht, wonach sie suchen müssen und welche Ansprechpartner neben der Therapeutin infrage kommen. Sie können nach Menschen mit ähnlichen Erfahrungen suchen, die beispielsweise im Heilungsprozess schon einige Schritte voraus sind, ihnen davon berichten und ihnen Mut machen.

Wir brauchen also eine Idee von dem, worunter unsere Patientinnen und Patienten leiden. Wir brauchen dafür Worte, wir brauchen Vergleichs- und Zuordnungsmöglichkeiten, ohne dabei Stempel, Schubladen und starre Kategorien zu verwenden. Wir brauchen Entscheidungshilfen, die die Auswahl der Interventionen ermöglichen und uns den Weg durch die Behandlung zeigen. Diese Wege unterscheiden sich drastisch voneinander und hängen von sehr vielen Faktoren ab. Im Folgenden wird ein Überblick über die diagnostischen Kategorien gegeben.

2.4.1Spezifisch belastungsbezogene psychische Störungen

In die ICD-11, die im Mai 2019 verabschiedet wurde und ab 2022 in Kraft treten soll, wurde erstmals eine Kategorie der »spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen« aufgenommen (siehe Übersicht in Tab. 1). In dieser Kategorie werden Störungsbilder zusammengefasst, die als direkte Folge des Erlebens verschiedener Arten von Belastungen entstehen können (Lotzin, Mauer u. Köllner 2019, S. 32). In die ICD-11 wurden neue Diagnosekonzepte eingeführt, die dazu beitragen, das breite Spektrum dieser Störungen besser abzubilden.

Die wichtigste Neuerung stellt aus meiner Sicht die lange überfällige Einführung der Diagnose der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung dar, die Judith Herman bereits Anfang der 1990er-Jahre vorgeschlagen hatte. Die Behandlung von Menschen mit dieser Störung machte und macht einen Großteil der psychotherapeutischen Arbeit von Traumatherapeuten aus, ohne dass sie bisher eindeutig diagnostizierbar war, d. h., ohne dass eine offizielle diagnostische Kategorie existierte. Die diagnostische Zuordnung war durch die bisherigen Klassifizierungsrichtlinien nur unzureichend möglich (Schellong 2013, S. 43). Sie geschah auf Umwegen und mittels Restkategorien, Ergänzungen oder phänomenologischen Beschreibungen. Eine klare diagnostische Definition komplexer Traumafolgestörungen ist nicht nur für die Forschung unabdingbar, sie ist ebenfalls für die traumatherapeutische Praxis essenziell.

Entsprechend der neuen Diagnosekonzeption der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung müssen zusätzlich zu den drei Kernsymptomen einer PTBS:

a)Wiedererleben des Ereignisses

b)Vermeidung von Gedanken oder Aktivitäten, die an das Ereignis erinnern, und

c)ein anhaltendes Gefühl einer erhöhten Bedrohung

drei weitere Schwierigkeiten zutreffen:

d)Schwierigkeiten in der Emotionsregulation

e)negative persönliche Grundüberzeugungen und

f)Schwierigkeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten oder sich anderen nahe zu fühlen.

Fakultativ wurde die Dissoziationsneigung mit aufgenommen (Hecker u. Maercker 2015, S. 554).

Die anhaltende Trauerstörung wurde ebenfalls neu in die ICD-11 aufgenommen. Sie beschreibt eine Störung, bei der Betroffene nach dem Tod eines Partners, Elternteils, Kindes oder einer anderen nahestehenden Person mit anhaltender und tiefgreifender Trauer reagieren, die über eine normale Trauerreaktion deutlich hinausgeht (Lotzin, Mauer u. Köllner 2019, S. 34).

Bei den in der ICD-10 bestehenden Diagnosekonzepten wurden deutliche Veränderungen vorgenommen.

Die Konzeption des Traumakriteriums einer PTBS wurde dahingehend verändert, dass es in der ICD-11 weniger eng gefasst wird. Der bisher gültige Zusatz, dass das traumatisierende Ereignis »… nahezu bei jedem eine tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde«, wurde gestrichen. Weiterhin wurden die Symptomkriterien auf die zentralen Symptome komprimiert sowie die Lockerung des Zeitkriteriums vorgenommen.

Eine Modifizierung und Aktualisierung wurde auch für die Anpassungsstörung vorgenommen, die bisher vor allem als Verlegenheitsdiagnose galt. Bis zum Erscheinen des ICD-11 waren für die Anpassungsstörung keine positiv formulierten Symptomkriterien festgelegt, was u. a. die Abgrenzung zu weiteren Störungsbildern, wie Depression und Ängsten, erschwerte. Sie wurde als Ausschlussdiagnose für die Fälle genutzt, in denen die Kriterien anderer, spezifischer Störungen nicht erfüllt waren (Bachem, Lorenz u. Köllner 2019, S. 37). Maercker, Einsle u. Köllner (2007, zit. n. Bachem, Lorenz u. Köllner 2019) entwickelten ein neues Konzept der Anpassungsstörungen, in dem zwei Hauptsymptomgruppen definiert werden: (1) Präokkupation als gedankliches Verhaftetsein sowie (2) Fehlanpassung in Form von Interessenverlust gegenüber Arbeit, dem sozialen Leben, der Beziehung zu anderen und Freizeitaktivitäten, einschließlich möglicher Konzentrations- und Schlafprobleme. Die Diagnosekriterien nach ICD-11 umfassen:

a)maladaptive Reaktionen auf einen einzelnen oder mehrere psychosoziale Stressoren, die innerhalb eines Monats auftreten

b)Präokkupationen mit dem Stressor oder seinen Konsequenzen

c)Fehlanpassung

d)signifikante Beeinträchtigung in wichtigen Funktionsbereichen

e)die Symptome erfüllen nicht die Kriterien einer anderen psychischen Störung (Bachem, Lorenz u. Köllner 2019, S. 38).

Zwei weitere diagnostische Kategorien werden in die Gruppe der Belastungsstörungen aufgenommen: die reaktive Bindungsstörung sowie die Beziehungsstörung mit Enthemmung, beides Störungen des Kindesalters, die ausschließlich in den ersten fünf Lebensjahren diagnostiziert werden können. Kinder, die eine reaktive Bindungsstörung entwickelt haben, zeigen kaum sicherheitssuchendes Verhalten gegenüber Fürsorgepersonen und suchen diese selten auf, um Trost, Unterstützung oder weitere Formen von Fürsorge zu erhalten. Bei Kindern mit einer Beziehungsstörung mit Enthemmung zeigt sich das gegenteilige Bild. Ihr Verhalten ist durch ein nahezu wahlloses und vertrauensvolles Verhalten gegenüber Erwachsenen geprägt (Lotzin, Mauer u. Köllner 2019, S. 35).