Loe raamatut: «Montagsmeeting»

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Kai Preißler

Montagsmeeting

© 2014


1. Auflage September 2014

©2015 OCM GmbH, Dortmund

Gestaltung, Satz und Herstellung: OCM GmbH, Dortmund

Verlag:

OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de

Printed in Germany

ISBN 978-3-942672-28-3 (Print)

ISBN 978-3-942672-29-0 (eBook)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Über dieses Buch

Thomas Krallmann, von seinen Freunden „Hirni“ genannt, hat es geschafft! Nach dreiundzwanzig Semestern Germanistikstudium hat er endlich den Abschluss in der Tasche und beginnt seinen ersten richtigen Job – als unterbezahlter Praktikant in einer Eventagentur. Gefangen im aberwitzigen Irrsinn des Agenturalltags stolpert er von einer Absurdität in die nächste. Bis er gebeten wird, das Projektteam für „Private Events“ bei der Planung einer opulenten Hochzeitsfeier zu unterstützen. Die Braut ist keine Geringere als seine Ex-Freundin Imke. Hirni ahnt, dass er in den kommenden Wochen verdammt clever improvisieren muss.

Inhaltsverzeichnis

Pappkameraden

Sechzehntausend

James Bond

Der Arschlutscher

The Sky is the Limit

Einen im Tee

Ausgeblasene Eier

Wasser findet immer einen Weg

Voll auf die Zwölf

Dampfbad

Pfefferspray

Brockhaus

Die Kuh auf dem Eis

Vitello tonnato

Top of the Flops

Niederkunft

Simarik

Mission Impossible

Hohlraumdübel

Pappkameraden

„Ja, ist die denn bescheuert?“, denke ich und starre auf einen kleinen handgeschriebenen Zettel, den ich gerade eben in meinem Briefkasten gefunden habe. Um zu begreifen, lese ich die Zeilen noch einmal:

Herr Krallmann,

da ihr Fahrrad trotz mehrfacher Ermahnung erneut im Hausflur neben den Briefkästen stand, habe ich mir erlaubt, selbiges den Entsorgungsbetrieben zu übergeben.

Gruß

E. Rieke

Mein Blick wandert nach rechts und tatsächlich steht dort nichts, das auch nur annähernd an mein altes Hollandrad erinnert.

„Rieke, du blöde Kuh“, murmele ich und stapfe entschlossen hinaus auf die Straße, doch auch dort findet sich nicht der Hauch einer Spur meines Rades.

Passanten auf dem Weg zur Arbeit trotten an mir vorbei. Einige mustern mich geringschätzig, andere schmunzeln und zwei Jugendliche mit Rucksäcken lachen sich schlapp. Schadenfreude kann offenbar so schön sein! Aber woher wissen die denn bitte, was passiert ist? Hat Frau Rieke ihren Brief etwa auch als Anzeige im Lokalteil der Zeitung geschaltet? Auf Facebook gepostet? Getwittert?

Ich zeige den beiden Jugendlichen einen Vogel und will die andere Hand möglichst lässig in meiner Hosentasche vergraben, nestle aber etwas unbeholfen dort herum, wo die Finger in der Öffentlichkeit nichts zu suchen haben und in diesem Fall auch gar keine Tasche ist. Ich blicke an mir herab, richte meinen Blick dann wieder auf und atme tief durch. Es sind nicht allein meine für einen Mann recht untypischen Hausschuhe im Bärentatzen-Look, die die Leute amüsieren, auch nicht meine vom Kopfkissen zerknautschte Frisur im Stil eines Rosettenmeerschweinchens. Es ist schlichtweg vor allem mein alter Pyjama, der für Erheiterung und Unverständnis sorgt – das Oberteil nach ungezählten Maschinenwäschen schlabberig und die Hose so aus der Form geraten und eingelaufen, dass sie den UFA-Filmschauspielerinnen der Zwanzigerjahre schon fast wieder stehen würde. Ich sehe aus wie eine vermännlichte Marlene Dietrich, die der Nervenheilanstalt entflohen ist.

Damit die hübsche Verkäuferin aus der Kamps Bäckerei schräg gegenüber nicht auch noch herüberschaut, drehe ich mich langsam um und gehe auf den Eingang des Mehrfamilienhauses zu, in dem ich seit einigen Wochen eine winzige Wohnung mit Blick auf einen Parkplatz gemietet habe. Ich habe die Tür fast erreicht, da öffnet sich diese einen Spalt und ein grauer Pudel an einer Leine tritt hinaus. Am Ende der Leine folgt ihm eine erschreckend rüstige Frau von gut und gerne achtzig Jahren. Ihre graue Krause, wie man die Dauerwelle hier im Ruhrgebiet nennt, ist Ton in Ton mit ihrer Garderobe und harmoniert prächtig mit der des Pudels. Elvira Rieke, meine Nachbarin, tritt hinaus und wirft einen fachkundigen Blick zum fast wolkenlosen Himmel. Sie entscheidet, ihren mitgeführten Knirps nicht aufzuspannen, womit in diesem Fall nicht der Pudel gemeint ist, und marschiert energisch los, nicht ohne mir einen ‚guten Start in den Tag‘ zu wünschen. Mein Gesicht bekommt einen wächsernen Ausdruck, so wie bei Auftragskillern im Film, unmittelbar bevor sie ihren Job erledigen.

Mit einem kurzen Nicken zieht sie an mir vorbei und ich blicke ihr fassungslos hinterher. Die Art, wie sich diese ehemalige Oberstudienrätin mit Altersstarrsinn im Endstadium triumphierend entfernt, macht mir Angst und vor meinem geistigen Auge entwickelt sich der Plan zum Gegenschlag. Im Hausflur ist nämlich heute ein Parkplatz freigeworden und ich sollte mal schauen, ob das nichts für meinen alten Polo wäre.

Im Moment freue ich mich jedoch auf ein wohlduftendes Wannenbad, um mich einzustimmen auf eine feucht-fröhliche Schicht im ,Wash & Go‘, wo ich diese Woche Dienst am Hochdruckreiniger habe und die in knapp zwei Stunden beginnt. Nein, ich arbeite nicht als Friseur, sondern ich jobbe in einer Waschstraße. Das ist zwar keine Tätigkeit, die man sich in den Lebenslauf schreiben würde, aber solange ich noch nicht Programmdirektor beim ZDF oder Werbetexter bei Mercedes-Benz bin, kommen so einige Hundert Euro im Monat zusammen, mit denen ich mir wenigstens die Miete für meine Wohnung unter Elvira Rieke und den Sprit für meinen Polo leisten kann. Grundsätzlich sind zwei Stunden natürlich eine Menge Zeit, um zur Arbeit zu gelangen, nicht jedoch, wenn man den ,Wash & Go‘-Overall am Vortag mit Himbeersirup versaut, über Nacht in der Waschmaschine vergessen hat und mit einem handelsüblichen Reiseföhn wird trockenblasen müssen. Da der Morgen bisher nicht besonders glücklich begann und gewiss noch das ein oder andere Pech dazukommen wird, habe ich gute Chancen, den Tag in klammen Klamotten verbringen zu müssen. Halbnasse Overalls kleben gerne am Körper und tragen in der Regel auch unschön auf. Das mag bei Brad Pitt ganz sexy sein, bei mir weckt es eher Mitleid.

Als ich meine kleine Wohnung betrete, höre ich meine eigene Stimme. Nein, ich bin nicht reif für die Klapse, obwohl ich für die schon das passende Outfit trage, sondern stolzer Besitzer eines automatischen Anrufbeantworters, auf dem ich soeben einen Anrufer begrüße.

„Hallo, hier ist der Anschluss von Thomas Krallmann. Ich bin gerade nicht da, aber hinterlasst mir doch einfach eine Nachricht.“

Dann erfolgt ein kurzes Piepsen und eine Frauenstimme, der es gelingt, durchgängig in einer Tonhöhe zu sprechen, räuspert sich.

„Guten Morgen Herr Krallmann, Pinella Dahlke von LIVE COMMUNICATION. Sie waren vor einigen Wochen zum Gespräch bei uns und wir würden uns über einen Rückruf freuen …“

Ein weiterer Piepston und mein Anrufbeantworter lässt mich mit ähnlich gleichgültiger Stimme wissen, dass der Speicher voll ist und die Restspeicherzeit noch null Minuten beträgt. Bingo!

Für einen Moment bin ich geneigt, meine durch Frau Rieke angestaute Wut an diesem verdammten Gerät auszulassen, besinne mich jedoch eines Besseren. Im heillosen Durcheinander meines Schreibtisches finde ich die Telefonnummer von Frau Dahlke. Auf ihrer Visitenkarte wird sie als ,Assistance Hospitality and Promotions‘ ausgewiesen, was beeindruckend klingt und auf eine bedeutende Tätigkeit in einer der kreativsten Eventagenturen des Landes hinweist. Bei LIVE COMMUNICATION hatte ich vor Wochen ein Vorstellungsgespräch und den Laden ehrlich gesagt schon fast vergessen. Nervös und etwas zu hastig wähle ich die Nummer. An irgendeiner Stelle muss ich gepatzt haben, denn statt der Dortmunder Agentur meldet sich die Duisburger Fettschmelze. Da ich mir gar nicht vorstellen mag, was das ist, lege ich kommentarlos auf und wähle erneut. Nach mehrmaligem Tuten habe ich auch tatsächlich die Frau am Apparat, deren Stimme so aufregend klingt wie eine Homöopathiebehandlung gegen Nagelpilz.

„Pinella Dahlke von LIVE COMMUNICATION?“, meldet sich Frau Dahlke beeindruckend emotionslos, jedoch mit fragendem Singsang in der letzten Silbe. Ich will spontan mit ‚ja‘ antworten, beschließe dann jedoch, mich einfach nur vorzustellen, da Frau Dahlke den Mördergag sicher nicht verstehen würde.

„Guten Tag Frau Dahlke, Thomas Krallmann hier – Sie baten um einen Rückruf.“

„Ach, das ging ja schnell. Ich hatte schon befürchtet, Sie seien bereits unterwegs.“ Den Satz hatte sie ohne die geringste Satzmelodie geschafft – stark!

„War ich im Prinzip auch schon. Bin aber noch mal kurz reingekommen“, lüge ich und mache mich so wichtig wie möglich.

„Wir wollten fragen, ob Sie noch Interesse an der Stelle haben. Bei uns haben sich kurzfristig ein paar neue Projekte ergeben und wir wollen das Team erweitern. Müsste aber schnell gehen.“

„Wow“, sage ich. „Dann habe ich Sie also tatsächlich überzeugt?“

„Ich habe hier eine Liste mit zwanzig Personen. Durch Zufall sind Sie der Erste. Wenn Sie sagen, Sie kommen, kann ich mir die weiteren Telefonate sparen, ansonsten wird’s halt der Nächste.“

Frau Dahlke ist ein richtiger Schatz mit ihrer wunderbaren Art, dass man sich gleich willkommen fühlt.

Ich überlege einen Moment, der für Frau Dahlke offenbar zu lang ist, denn sie bellt in den Hörer: „Hallo, hör’n Sie? Sind Sie noch da?“

„Ja, sicher. Ab wann brauchen Sie mich denn?“

„Na, sofort!“, antwortet sie, was aber eher wie eine empörte Frage klingt.

„Heute schon?“, frage ich offenbar einen Tick zu ungläubig.

„Dann müssen wir uns jetzt nach einer Alternative umschauen. Wir haben hier wirklich ’ne Menge zu tun.“

Das ist zwar keine Antwort auf meine Frage, sagt aber dennoch alles über Pinella Dahlke aus. Ihr Tonfall, den in dieser Form fast nur Frauen drauf haben, klingt unangenehm genervt.

„Sagen Sie mir einfach, wann ich da sein soll“, beruhige ich sie.

Die Antwort, die ich erhalte, könnte blöder nicht sein: „Vor ’ner halben Stunde.“

Wie ätzend ist DAS denn? Auf die Art von Terror stehe ich ja nun gar nicht. Wahrscheinlich wird man bei denen auch mit ‚Mahlzeit‘ begrüßt, wenn man fünf Minuten zu spät im Büro erscheint. Wochenlang melden die sich gar nicht und dann machen die den totalen Alarm.

Ich atme tief durch und sage: „Lassen Sie mich schnell ein paar Dinge erledigen und ich komme so bald ich kann. Wäre neun Uhr denn noch okay?“

„Prima, dann bereiten wir schon mal alles vor für den Arbeitsvertrag. Um zehn ist dann unser Montagsmeeting. Da lernen Sie alle kennen.“

,Geht doch‘, denke ich, ,das klingt doch schon viel netter.‘

Nach dem Telefonat sinke ich in meinen professionellen Regieklappstuhl aus dem Video-Planet, meiner ehemaligen Lieblingsvideothek. Als die vor fünf Jahren Insolvenz anmelden musste, war ich als Erster zur Stelle, um mir die Deko unter den Nagel zu reißen. So finden sich seither in meiner Wohnung nicht nur der Stuhl, sondern als riesige Pappkameraden auch Spiderman, Rocky Balboa und Mike Glotzkowski, das laufende Auge aus der Monster AG.

Ich versuche meine Gedanken zu sortieren und erinnere dabei ein wenig an Woody Allen, dem man gerade offenbart hat, dass sein Lebenswerk für die Goldene Himbeere nominiert wurde.

Um neun Uhr! Aber um zehn muss ich doch zur Waschstraße!

„Scheiß auf die Waschstraße“, sagt mir eine innere Stimme, „wenn ich bei LIVE COMMUNICATION erst mal durchgestartet bin, brauche ich den Job ohnehin nicht mehr.“

Oh Gott, was ziehe ich bloß an? Ich hätte nie geglaubt, dass es Situationen gibt, in denen sich auch Männer diese Frage stellen. Ich ermahne mich aber sogleich zur Ruhe und entwerfe einen Schlachtplan für die nächsten achtundfünfzig Minuten. Ich stehe unschlüssig vor meinem überschaubaren Kleiderschrank und entscheide mich für eine legere Kombination aus T-Shirt und Anzug. Von meinen vier Anzügen entschließe ich mich für den einzigen, der nicht zur Gattung der Schlafanzüge gehört, und kombiniere diesen mutig mit einem T-Shirt von P&C. In Ermangelung passender Schuhe wähle ich die sportliche Variante und schlüpfe in meine Sneaker, Modell ,Beckenbauer Allround‘. Die neigen zwar dazu, nach einem halben Tag Tragezeit ein wenig unangenehm zu riechen, jedoch gehe ich nicht davon aus, meine Schuhe ausziehen zu müssen, schließlich gehe ich zur Arbeit und nicht zu einem Rückbildungskurs für junge Mütter. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass für einen Kaffee die Zeit fehlt. Auf meinem Weg zum angehenden Kreativchef werde ich zukünftig allerdings mehr Kaffee konsumieren, als meinen Herzklappen langfristig guttun wird. Mit etwas Glück wird man mir sogar meinen eigenen Vollautomaten ins Büro stellen – da kommt es auf diese letzte Tasse wohl nicht mehr an.

Ich bin fertig und liege alles in allem verdammt gut in der Zeit. Mit einem tiefen Atemzug trete ich hinaus auf die Straße in die klare Luft dieses Morgens, wo ich heute schon einmal war. Ich bin bereit für meinen Weg in eine erfolgreichere Zukunft.

Sechzehntausend

Eine erfolgreichere Zukunft? Ja, richtig – erfolgreicher. Die ersten fünfunddreißig Jahre meines Lebens entsprachen nicht gerade dem, was man sich unter einer Bilderbuchkarriere vorstellt, zumindest findet man nicht viel Verwertbares, wenn man meinen Namen bei Google eingibt. Jedenfalls nichts, das wirklich mich betrifft. Noch vor wenigen Wochen befand ich mich, mit fünfunddreißig Jahren, in der heißen Endphase meiner Ausbildung zum Vollakademiker und gehörte so zu einer Gruppe von Menschen, deren Alltag meist vollkommen falsch eingeschätzt wird.

Mein Leben als Student war nämlich weit weniger lustig, als oftmals angenommen wird, und Ferien hatte ich prinzipiell nie. Lediglich zweimal drei Monate vorlesungsfreie Zeit ließen mir kurze Atempausen zur Erholung. Mein Germanistikstudium absolvierte ich dank meines enormen Eifers knapp unter der dreifachen Regelstudienzeit in schlappen dreiundzwanzig Semestern. Ja, von den nackten Zahlen bin auch ich selbst immer wieder sehr beeindruckt, aber die Zeit vergeht einfach viel zu schnell, wenn man nur genug Interessen abseits der Uni hat.

Ein Praktikum hier, ein anderes dort und dazwischen eine ganze Reihe bedeutungsloser Auftritte als Gitarrist einer vollkommen unbekannten Band namens ‚Narcotic Mushrooms‘, deren Name mein Kumpel Armin verbrochen hat – Sänger und Frontmann der Mushrooms, in der neben uns noch ein Bassist, ein Keyboarder und ein Schlagzeuger mitwirkten. Gemeinsam träumten wir von Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll.

In meinem persönlichen Fall war das Angebot an Sex überschaubar und die Drogen beschränkten sich auf Bier und geschnorrte Zigaretten. Rock ’n’ Roll aber hat es tatsächlich gegeben. Wer erinnert sich nicht an unseren legendären Auftritt als Vorgruppe von Silbermond? Als wir um 14 Uhr wie in Zeitlupe die Bühne betraten, konnten wir ahnen, wie sich Stars in einer solchen Situation fühlen müssen. Ahnen, wohlgemerkt. Man sagt, von einer beleuchteten Bühne aus sei das Publikum so gut wie nicht zu erkennen. Es stimmt. Als ich voller Energie meine Gitarre in die Höhe reckte, konnte ich das Publikum tatsächlich nicht sehen. Wie auch, es war gar keins da. Außer uns lief dort lediglich ein halbes Dutzend Bühnentechniker herum, die mit professioneller Routine die Lichtshow für Silbermond programmierten. Dass die singenden Wimmerpimpanellen ihren Auftritt erst sieben Stunden nach uns haben sollten, war uns nicht wirklich klar gewesen. Auch nicht, dass erst nach uns und vor drei weiteren Bands, die im Gegensatz zu uns sogar die Fahrtkosten erstattet bekamen, der offizielle Soundcheck stattfinden sollte. Im Nachhinein ist mir noch heute peinlich, dass ich einen der schwarz gekleideten und noppenbehandschuhten Bühnenroadies angeblafft hatte, meine Monitorbox würde brummen – das sind jene Lautsprecher, die lässig auf der Bühne herumliegen und dafür sorgen, dass die Musiker ihre eigene Musik hören können. Natürlich nur, wenn sie in Betrieb sind. Meiner hat de facto nicht einmal gebrummt. Schlimmer noch – er war, wie ich hinterher sah, zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht verkabelt.

Dennoch gingen wir in der Rolle von Rockstars voll auf. Besonders glaubwürdig fand ich meinen Einfall, mit dem Schlussakkord einen dieser beweglichen High-End-Scheinwerfer umzutreten. Woher zum Teufel sollte ich auch wissen, dass High-End in dem Fall bei neuntausend Euro anfängt? Solche Missgeschicke sind es, die dafür gesorgt haben, dass ich bei meinen Freunden auf den Spitznamen ‚Hirni‘ höre und den, wie ich finde, unbegründeten Ruf genieße, nicht immer nur Entscheidungen von bestechender Sinnhaltigkeit zu treffen. ,Thomas‘ nennt mich außer meinen Eltern eigentlich kaum noch einer.

Es war aber irgendwie eine tolle Zeit. Man träumte vom ersten Plattenvertrag, von Groupies in der Hotelsuite und langen Fahrten im Tourbus – kurz: von Wein, Weib und Gesang. In meiner Suite, die ich dank einer mutig kalkulierten BAföG-Anleihe monatsweise mietete und mir mit drei weiteren Personen teilte, wartete nur ein Groupie, nämlich Susi, eine dickliche Jurastudentin, die jeden vierten Tag Spüldienst hatte und von einer wirklichen Sahneschnitte etwa so weit entfernt war, wie Barbamama von Shakira.

Und dann gab es da noch Imke. Imke war kein Rauhaardackelweibchen, wie der Name im ersten Moment irreführend suggerieren mag, sondern meine Freundin. Ja, sie war! Zuletzt vor drei Jahren, zehn Monaten und achtundzwanzig Tagen. Seitdem bin ich notgedrungen Single. Was als Notlösung begann, funktioniert inzwischen ganz gut. Was sage ich, es klappt prächtig, sodass ich mich gar nicht beklagen will. Bei genauer Betrachtung hätte ich die drei Jahre davor mit einem Rauhaardackel sogar deutlich entspannter und erfüllter verbringen können. Imke fand mich im Großen und Ganzen zwar gut, aber das meiste von dem, was ich tat, scheiße. Mein Studium fand sie belanglos, meinen Einsatz bemitleidenswert und die Mushrooms schlichtweg unterirdisch. Ihr eigenes BWL-Studium fand sie spannend, das von Papa gesponserte BMW-Cabrio sexy und ihre tranige ,Café del Mar‘-Mucke endgeil.

Imke gehörte zu jener Lifestyle-Generation, der ein Lounge-Würfel allemal lieber ist als mein alter Ohrensessel, an dem zwar viele Erinnerungen, aber eben auch eine gehörige Portion Patina haften.

Alte Ohrensessel gehörten in ihrer Welt auf den Sperrmüll, wie auch mein alter Röhrenfernseher, seinerzeit ein Hammerteil, aber leider ohne Ambilight und unbestreitbar tiefer als 4,9 Zentimeter.

Nach einer Weile muss Imke dann wohl klar geworden sein, dass aus mir weder ein wirklicher Rockstar, noch ein legitimes Mitglied im Nespresso-Club werden würde, sodass ich kurz und schmerzlos aus dem Drehbuch ihres Lebens gestrichen wurde. Mit wenigen Worten war die Sache beendet und der Ohrensessel ein frischer Single.

Ihr Vater, ein schnauzbärtiger Geschäftstyp irgendwo zwischen Dieter Zetsche von Mercedes und Antje, dem NDR-Walross, der allmonatlich ein kleines Vermögen mit seinem BMW-Autohaus scheffelt und Lieferantenrechnungen gerne mal ignoriert, muss darüber so erfreut gewesen sein, dass er seiner Tochter spontan einen Allrad-SUV spendierte, der im Skiurlaub ohnehin viel praktischer ist als jedes Cabrio. Gut erkannt!

Noch heute wirbt Imkes Vater, nennen wir ihn einfach den ,Imker‘, mit jenen Werbeslogans, die ich ihm vor Jahren getextet hatte, ohne dafür jemals einen einzigen Cent gesehen zu haben. Ein richtig feiner Kerl also, dieser Imker, und meine Ex ist die Garantie dafür, dass die besten seiner Charaktereigenschaften der Nachwelt erhalten bleiben.

Dennoch stellte meine Ausmusterung damals natürlich einen Einschnitt dar, der erst einmal alles durcheinanderwirbelte. In meinem persönlichen Fall löste er gleich eine ganze Reihe von Ereignissen aus, deren auffälligstes ein neuer Haarschnitt war – besser gesagt, überhaupt ein Haarschnitt – sowie ein ausgefeilter Businessplan zur Restfinanzierung meines Studiums, verbunden mit einem ersten Grobkonzept für meine Magisterarbeit, die knappe drei Jahre später auch tatsächlich fertiggestellt war und feierlich dem Prüfungsamt übergeben wurde, als handele es sich um die erste Gutenberg-Bibel überhaupt.

Von noch deutlich subtilerer Finesse war indes mein Finanzplan, der ohne jede richtige Arbeit auskam und im Wesentlichen eine Reihe von Besuchen in deutschen Fernsehquizshows vorsah. Den Start meiner Quizkarriere wagte ich mit einer Bewerbung bei Jörg Pilawa. Da ich mich mit dem Quizkonzept offenbar nicht ausreichend befasst hatte, klärte mich eine Redaktionsassistentin freundlich, aber bestimmt per E-Mail auf, dass nur Paare und keine Einzelkandidaten ausgewählt würden und man mich daher nicht für das Auswahlcasting vorgesehen hätte. Kurzzeitig war ich versucht, mich erneut zu bewerben, jedoch hätte mein Kumpel Armin sicher alles versaut, was er nämlich meistens tut.

Da ich mir ein Vorsingen bei ,Deutschland sucht den Superstar‘ oder eine Blamage bei ,Schlag den Raab‘ ersparen wollte und ich von ,Germany’s next Top Model‘ garantiert eine Absage erhalten hätte, blieben mir in Ermangelung von Wim Thoelke nur kleine Formate wie ,Quiztaxi‘ oder das Einsenden unscharfer Handyvideos bei ,Ups – die Pannenshow‘, bei der ich nach einer Reihe allzu schlechter Fakes auf dem Index stand.

Ich hätte jedoch nie geglaubt, dass man sich auf die Art geschlagene drei Jahre über Wasser halten kann. Beinahe hätte es sogar für ein halbes Leben gereicht. Den größten Batzen meines Etats, nämlich sechzehntausend Euro, erwirtschaftete ich schließlich bei Günther Jauch. Das klingt für einen Studenten spontan nach richtig viel Geld. Der routinierte Fernsehzuschauer weiß jedoch, dass die Zahl ‚Sechzehntausend‘ bei ,Wer wird Millionär?‘ nur zwei Dinge bedeuten kann: Entweder der Kandidat kennt zwar alle deutschen Sprichwörter, hat aber die Allgemeinbildung eines Viertklässlers oder aber er ist Opfer seines Halbwissens geworden und hat eine Menge sicher geglaubten Geldes verloren, respektive verzockt. Bei mir war Letzteres der Fall. Nach einem glanzvollen Start – keiner der übrigen Kandidaten hatte die Bremer Stadtmusikanten schneller von oben nach unten sortiert als ich – marschierte ich souverän durch eine ganze Reihe mehr oder weniger intelligenter Fragen und Günther Jauch schien hocherfreut, einen Kandidaten präsentieren zu dürfen, der nicht nur gebildet, sondern auch halbwegs unterhaltsam, charismatisch und eloquent ist. Zumindest war das mein Eindruck, bis ich erstmals bewusst auf die Monitorgrafik sah, der zufolge mich vom Gewinn der Million nur noch zwei läppische Fragen trennten. Doch dann kam der ungebremste Sturz aus den Höhen des gefühlten Geldadels in die Niederungen von Dortmund-Persebeck. Mit noch allen verfügbaren Jokern war ich bei der 500.000-Euro-Frage felsenfest davon überzeugt, dass Mangoldt entweder ein jüdischer Komponist war oder ein Botaniker mit Vorliebe für Gemüse. Einen Nationalökonom aus dem 19. Jahrhundert hatte ich definitiv nicht auf der Rechnung. Günther, der mir auf der anschließenden Aftershowparty spontan das Du anbot, offenbar auch nicht. Wenn man auf dem Weg zur Million beim Einbiegen auf die Zielgerade von einem Mann weggegrätscht wird, dessen Name klingt wie eine Zahnfüllung, hat man alles Recht der Welt, sein Hirn mit geistigen Getränken zu sedieren, insbesondere, wenn diese von RTL bezahlt werden. Ich bin mir nicht sicher, wie viele Wodka Cola ich an dem Abend getrunken habe und auch nicht, wer mir das Taxi gerufen hat.

Irgendwann zwischen meinem sechsten und siebten Glas stupste mich Peggy, die sympathisch sächselnde Aufnahmeleiterin, an und fragte:

„Herr Krallmann, menen Se nisch, Sie söllten longsam uf e pure Cola umsteigen?“

„Peggy“, bäuerte ich etwas unappetitlich hervor, „Punkt A, ich bin der Hirni, kannst ruhig ,du‘ sagen und Punkt B, Alkohol ist zwar keine Lösung“, jetzt bekam ich nicht nur Schluckauf, sondern musste zudem kurz, aber intensiv aufstoßen, „Cola aber auch, ups, aber auch nicht. Also pö-prösterchen!“, sprach ich verwaschen wie Harald Juhnke nachts um halb drei an der Hotelbar und führte das Glas weltmännisch zum Mund, wie es vor mir und Harald allenfalls Dean Martin auf der Bühne in Las Vegas gelungen sein mochte.

„Hirni, isch bitte disch.“ Blick und Tonfall waren nun flehend, was ich bei einer knackigen Neunzehnjährigen vermutlich ziemlich aufregend gefunden hätte – nicht jedoch bei einer Fünfundvierzigjährigen vom Fuße des Erzgebirges, die zudem noch den gleichen Namen hat wie das Pflegepferd meiner Cousine Lisa. Seither kann ich Peggy, also das Pferd, nicht mehr am Hals tätscheln, ohne den Geschmack von Jack Daniels, Cola und Erbrochenem auf der Zunge zu haben.

Höre ich seit jenem Abend Namen ostdeutscher Postmoderne, wie Peggy, Mandy oder Doreen, tauchen sie auf, wie von Geisterhand hingezaubert, diese unverkennbaren Symptome eines neunschwänzigen Katers – von leichtem Schwindel kaum zu unterscheiden, für mich, als an Seele und Körper versehrtem RTL-Veteran, jedoch eindeutig spürbar.

Mit exakt diesen Symptomen, nur ungleich intensiver ausgeprägt, hatte ich mich damals im Hotelbett wiedergefunden. Zu gern wüsste ich, wie sich der Dialog zwischen mir und dem Taxifahrer abgespielt haben muss, an den ich mich jedoch partout nicht erinnern kann. Als ich am Morgen erwachte, lag ich, komplett bekleidet, im komfortablen Doppelbett. Meine Jacke fand ich schließlich in der Minibar und die Schuhe fein säuberlich im Schrank, kunstvoll auf zwei Kleiderbügeln arrangiert. Weniger überzeugend war der Anblick des Badezimmers. Nach meiner nächtlichen Ankunft hatte ich offenbar die vielen Gläser Cola mit Schuss noch loswerden wollen und mich, da ich prinzipiell nicht im Stehen uriniere, auf die Toilette begeben. Nie wieder, so viel steht nach meinem Kölnausflug fest, werde ich in einer Quizshow am Joker und damit am falschen Ende sparen und noch viel weniger werde ich jemals wieder vergessen, einen Klodeckel aufzuklappen.

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