Loe raamatut: «Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist»
Die verriegelte Tür hinter dem Paradies
Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist
Karis Ziegler
Bildnachweise
Umschlagbild:
© Copyright by Karis Ziegler
unter Verwendung einer Fotografie von Ursula Niemann
Anhang:
4. Otto Dix, "Abgekämpfte Truppe geht zurück - Sommeschlacht". Radierung, 1924, aus dem Zyklus "Der Krieg". (c) VG Bildkunst, Bonn 2019
„Doch das Paradies ist verriegelt...
und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist...
Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? - Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“
Heinrich von Kleist, „Über das Marionettentheater“
Inhaltsverzeichnis
TEIL I - „Im Paradies“
1. „Im Paradies“
2. Ballons
3. Lehrer Mäuthis
4. Alte Knochen
5. Die blaue Maske
6. „Reise um die Welt“
7. Die Mauer
8. Reue
9. Nomi
10. Gewonnen - verloren
11. Wettkämpfe
12. Fritz
TEIL II - Die Reise
1. Zeitreise
2. Krieg!
3. Abschiede
4. Mars und die Grazien
5. "Aufschreibsel"
6. Im Lazarett
7.
8. Die Wunde
9. Ein Ausweg
10. Neubeginn
11. Im „Blauen Max“
12. Die lila Maske
13. Am Hafen
14. Das Kind
15. Goldfieber - ein anderes Leben
16. Rekonvaleszenz
17. "Missing Link"
18. "John Reiser's Clan"
19. Helen
20. Ambiguus Tribus Reiserii
21. Geschichten vom Anfang der Welt
22. Heinrich
23. Einsamkeit
24. Wasserwege
25. Der Welt abhanden
26. Wieder auf See
27. Amerika
28. Verirrungen
TEIL III - Die Hintertür
1. Die Grube
2. Pinus Coulteri
3. Völker-Bund
4. Kingsborough
5. Im Hotel
6. Wiedersehen
7. Villa Wissmann
8. Zeitläufte
9. Das fremde Mädchen
10. Der Hundebezwinger
11. Im Paradies
12. Kinderspiele
13. Weltverbesserer
14. Im Bergkloster
15. Siddhartha
16. Seiltänze
17. „Memorial für Isaak“
18. Das Leuchten
ANHANG
Memorial Concert / Gedenkkonzert
Vorwort
Über Christian Kuberkas Symphonische Reflexion „Memorial für Isaak“
The Poems / Die Gedichte
Texte aus der Matthäus-Passion:
Quellen
Nachwort zur zweiten Auflage
Von derselben Autorin:
TEIL I - „Im Paradies“
1. „Im Paradies“
Nein, ganz ehrlich: dies hier war ja wohl alles andere als ein Paradies. Kein Mensch hätte zu sagen gewusst, wie dieses trostlose Stück Gasse zu seinem Namen kam, am wenigsten sicherlich ihre Anwohner, die allerdings auch weiß Gott andere Sorgen hatten als sich mit der Etymologie ihrer Adresse zu befassen; das vergessene Ende eines vergessenen Viertels in den Randbezirken der riesigen und immer noch wachsenden Großstadt; noch Teil der Stadt selbst, kein Vorort also, aber zum eigentlichen Zentrum war es doch schon eine längere Reise. Ein Relikt aus vergangenen und immer entschiedener vergehenden Zeiten, umgeben, umzingelt fast von Elendsquartieren jüngerer Provenienz und noch einmal ganz anderer Art, von hochaufgeschossenen, dicht an dicht sich drängenden, Luft und Licht aussperrenden, vor Menschen vibrierenden, schreienden, stinkenden Mietskasernen. Und allenfalls hätte man in einem gewissen Unterschied im Grad der Verwahrlosung und Ärmlichkeit zu diesen Nachbarn eine Rechtfertigung für den Straßennamen sehen können: Es fehlte nicht an Licht und Luft, wenn diese auch etwas düster gefärbt vom schwarzen Staub einer Kohlenhandlung und, je nach Windrichtung, manchmal unangenehm beißend vom Gestank einer Gerberei auf Dächer und Bewohner sich niedersenkten. Gegen die geradlinig abweisende Hässlichkeit jener Häuserzeilen der Umgebung hoben sich hier fast schon kurios noch eher ländlich anmutende und recht heruntergekommene Wohnhäuser ab, die meisten winzig, mit hölzernen Außentreppen und schiefen, eingesunkenen Dächern, oft hinter heuwagenhohen Bogendurchfahrten mit Werkstatt- und Lagerschuppen zu größeren Hofkomplexen zusammengefasst, eine in ungelenktem Wildwuchs und undurchschaubaren Beziehungen entstandene Wirrnis. Gras und Moos sprossen karg und staubig, wo immer Zwischenräume und Risse im Pflaster oder Streifen ungestörter Erde an Mauerrändern es erlaubten. Schmutz gab es die Menge schon allein durch den ewig aufgeweichten Boden der unbefestigten Flächen. Als mehr oder minder arm konnte man die meisten Anwohner bezeichnen, alle hatten sich zu mühen und zu rackern um das tägliche Auskommen und taten dies, nicht anders als überall sonst, mal mehr, mal weniger rechtschaffen und ehrlich. Aber die Leute hier hatten insofern Glück, als das ringsumher blühende Spekulantenunwesen diesen Flecken schlicht übersehen zu haben schien und sich an den niedrigen Mieten schon seit Ewigkeiten nichts geändert hatte. Die freien Flächen nutzten sie wo möglich zum Anlegen winziger Nutzgärtchen, um auf billige Weise die Kochtöpfe besser zu füllen, etwas Obst und Gemüse, ein Beet mit Kohl, weißen Rüben oder Kartoffeln, am Rand ein paar Beerensträucher; einige Hühner scharrten in der schwarzgrauen Erde, sogar eine Ziege hielt sich jemand. Die zahlreichen Kinder der Anwohner hatten Auslauf nach der Seite hin, über die man zwischen den Häusern hindurch und an der Gerberei vorbei zum Kanal gelangte, der in der Nähe vorbeifloss, und auf dem Gelände vor der hohen Mauer, wo die Straße endete, und das mit einem Wirrwarr aus Unkraut, staubigem Gebüsch und sogar zwei, drei mageren Bäumen in ihren wenig anspruchsvollen Augen eine richtige Urwaldlandschaft bildete; dort konnten sie sich in der allerdings knapp bemessenen Zeit, die ihnen zwischen Schule, Mithilfe im Haushalt und beim Verdienen des Familienunterhalts für unbeschwertes Spielen zur Verfügung stand, Bewegung an mehr oder minder frischer Luft verschaffen.
Regelmäßig spielte dabei die Mauer, die das „Paradies“ zur Sackgasse machte, eine Rolle: sie war außerordentlich hoch und abweisend, und nach keiner Seite hin konnte man an eine Stelle gelangen, von der aus in das umschlossene Gebiet hineinzusehen gewesen wäre: hier stieß sie an die blinde Mauer eines der benachbarten Mietshäuserkomplexe, dort endete sie hart am Wasserlauf des Kanals, an dem entlang das Gelände wieder durch eine Mauer gegen Blicke etwa von vorbeifahrenden Booten aus abgeriegelt war. Jeder Versuch, ihr auf irgendeine Weise beizukommen, schien sie nur noch immer höher wachsen zu lassen. Auch von den Eltern erhielt man keine Auskunft über das dahinter liegende Terrain, sie hatten sich dafür noch nie interessiert, oder wenn doch, war das schon so lange her, dass es ihnen ganz aus dem Gedächtnis geraten war. Warum auch sollte es drüben etwas anderes geben als das gleiche graue Alltagseinerlei wie diesseits? Die Kinder mochten sich damit jedoch nicht zufrieden geben, und so war die Mauer hervorragend geeignet, ihre Neugier, Phantasie und ihren Unternehmungsgeist aufs Schönste anzustacheln. Immer wieder einmal ergingen sie sich in Spekulationen darüber, und jedes machte sich ein eigenes charakteristisches Bild davon, was sich wohl dahinter verbergen mochte.
2. Ballons
Eines spätsommerlich frischen, schönwetterdunstigen Sonntagmorgens konnte man eine Kinderschar, barfüßig, in abgetragenen, nicht immer sehr sauberen Kleidern von hier aus in die nächste Querstraße einbiegen sehen. Manche, besonders die Kleinsten, hatten sichtbar noch den Schlaf in den Augen, andere waren schon hellwach und plapperten durcheinander, und mit ihrem Barfußgetrappel, ihrem Stimmengewirr und dem Bollern und Quietschen eines Leiterwagens, in dem ein Mädchen offenbar ein paar jüngere Geschwister nachzog - übrigens kavalierhaft unterstützt von einem etwa gleichaltrigen Jungen - waren sie die ersten, die die frühe Sonntagsruhe unterbrachen. Ihr Weg führte entlang monotoner Straßenzüge, rechts und links begrenzt von den ewig gleich sich dahinziehenden Außenmauern der Mietskasernen, durch deren Toreinfahrten man in ganze Fluchten von Höfen, Hinter- und Hinterhinterhöfen sehen konnte, und Fabrikgebäuden, die mit ihren schmiedeeisernen Werkstoren, verschnörkelten Schriftzügen des Firmennamens und geschwungenen Gesimsen viel aufwändiger dekoriert waren; vorbei an den aufgerissenen Erdgruben und stehengelassenen Gerätschaften sonntagsruhender Baustellen und an den inkongruent über, zwischen oder gar durch die Häuser sich zwängenden Hochbahnbrücken. Hie und da gesellten sich andere Kinder zu ihnen oder liefen in separaten Gruppen in die gleiche Richtung. Erwachsene waren erst zu sehen, als sie später durch andere, bürgerlichere Viertel zogen. Dort sah man dann saubere Sonntagskinder in Matrosenanzügen, Sonntagskleidchen, glänzend polierten Lackschuhen und bänderwehenden Strohhüten brav zwischen Vater und Mutter oder an der Hand ihrer Kinderfräuleins gehen oder sogar in Droschken vorüberrollen, begleitet von manchem Blick aus der Gruppe der Barfüßler, in dem Neid und Verachtung eine unnachahmliche Verbindung eingingen. Je näher sie dem Stadtzentrum kamen, desto öfter sah man vollbesetzte Omnibusse und Elektrische die Straßen entlang rumpeln. Auch die „Paradieskinder“ hätten sich den weiten Weg sicher gern mit einer Trambahnfahrt erleichtert, aber wer von ihnen überhaupt ein paar Groschen dabei hatte, sparte die lieber für eine Süßigkeit oder Limonade später am Tag auf. Die Größeren waren außerdem längst gewöhnt, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen, und die Kleinen mussten eben die Zähne zusammenbeißen und mithalten.
Hier in der Innenstadt konnte man auch überall an Hauswänden und Litfaßsäulen die Ankündigung lesen, die so viele der Stadtbewohner heute in Bewegung versetzt hatte: Ein Internationaler Ballon-Wettbewerb sollte um die Mittagszeit bei der Gasanstalt auf dem Lerchenfeld starten, eine „Große Attraktion, erstmals hierzulande ausgetragen“, ein „unvergessliches Schauspiel“, das man auf keinen Fall versäumen solle. Ein paar der Kinder hatten die Plakate in den letzten Tagen entdeckt und sofort verabredet, dort hinzugehen. Seither hatten sie misstrauisch den Himmel beobachtet und gebetet, dass das Wetter halten möge, denn selbstverständlich hätte bei Sturm oder Regen die Veranstaltung ausfallen müssen.
Aber sie hatten Glück und keine Wolke stand der Vorfreude auf einen erlebnisreichen Tag im Wege, der gleichzeitig ein gebührender Abschluss für die zu Ende gehenden Ferien werden sollte. Ab morgen würden sie wieder zur Schule gehen müssen. Die größeren unter ihnen wussten schon, dass sie einen neuen Lehrer bekommen würden, weil Herr Schultze, der sie seit Jahren unterrichtet hatte, in den Ruhestand gegangen war - endlich! wie die meisten von ihnen seufzten.
„Schlimmer kann es mit dem Neuen jedenfalls nicht werden“, meinte einer der großen Jungs.
„Ich glaub nicht, dass es so was noch mal gibt - gleichzeitig so trottelig und so streng!“, vermutete ein anderer.
„Ich hoffe, der Neue wird nicht auch so tun, als zählten wir Mädchen überhaupt nicht.“
„Genau, als wären wir überhaupt zu doof für alles.“
„Ich hoffe bloß, dass der nicht so fest haut wie der Schultze, dann bin ich schon zufrieden“, ließ sich ein schmächtiger, blasser, grundsätzlich verängstigt wirkender Bub hören.
Einer der Jungen hatte sich noch überhaupt nicht am Gespräch beteiligt, er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein - was sich auch bestätigte, als er plötzlich sagte: „Ich wüsste nur zu gerne, wie die das überhaupt machen mit dem Fliegen - wie soll das denn eigentlich funktionieren?“
„Na, Johannes, da kannst du ja gleich morgen den neuen Lehrer auf die Probe stellen und ihn danach fragen“, meinte Rudolph, der Kohlenhändlerssohn.
„Mensch, am allerliebsten würde ich sowieso gleich selbst mitfliegen - ihr denn nicht?“
„Nee, nee, ich glaub, ich bleibe lieber bei Mutter Erde, da fühl ich mich sicherer - Gucken ja, das ist bestimmt spannend...“-
„... und wunderschön!“, rief eines der Mädchen dazwischen.
„Na, meinetwegen auch schön, wir werden’s ja sehen.“
„Hoffentlich bekommen wir gute Plätze“ - „Na, wenn die einmal oben sind, können wir ganz sicher gut sehen, da kann einem ja keiner die Sicht verstellen.“ - „Ja, ganz demokratisch!“, grinste einer altklug.
„Ja, schon, aber ich würd halt schon gerne mitkriegen, wie sie starten und so“, insistierte Johannes.
„Na, wir sind ja wirklich früh dran, da werden schon noch genug Bäume und Masten frei sein.“
Unterdessen - der Morgen, der schon einen herbstlichen Biss gehabt hatte, entwickelte sich bereits zu einem der letzten sommerheißen Tage - schienen sie ihrem Ziel endlich nahe zu kommen. Wenn man dies an nichts anderem bemerkt hätte, so aber jedenfalls an den immer kompakter werdenden Strömen von Menschen, die sich der unterschiedlichsten Fortbewegungsmittel bedienten - Fußgänger, von denen ganze Pulks aus den von der nahegelegenen Endhaltestelle der Stadtbahn herführenden Seitenstraßen quollen; Fahrradfahrer schlängelten sich hindurch, hie und da schob sich die Menge träge auseinander, um irgendeiner Art Pferdegespann Platz zu machen, und noch seltener, aber dafür umso effektvoller verschaffte sich auch mal ein Automobil mit herrischem Hupen freie Bahn und ließ die Scharen erschreckt zur Seite spritzen und ihnen erzürnte Beschimpfungen hinterherschicken.
Längst gingen die Füße schon nicht mehr über Straßenpflaster sondern versanken angenehm weich in trockenem, noch kühlem Sand. Nur der Bollerwagen mit den Kleinkindern zog sich hier noch einmal so mühsam, aber zwei der anderen erbarmten sich und schoben von hinten nach. Da hörte man über all das Stimmensummen, das Hupen, Pfeifen, Klingeln und Schreien hinweg, das sich zu einem allgemeinen, die Luft fast sichtbar erfüllenden Brausen vermischte, abgerissene Töne und Melodiefetzen einer Blaskapelle, die sich offenbar irgendwo hinter dem langen Bretterzaun einstimmte, der den Schauplatz des Geschehens umgab. An diesem liefen die Kinder nun entlang, den Einlass mit dem Kassenhäuschen links liegen lassend - man hatte ja nicht vor, den Eintritt zu bezahlen, sondern wollte außen von notfalls zu erkletternden erhöhten Stellen zuschauen -, bis sie um die nächste Ecke biegen konnten. Nur ein paar wenige andere Kinder waren ihnen dort bisher zuvorgekommen. Das Gelände hob sich hier leicht, so dass man schon, wenn man nicht zu den ganz Kleinen zählte und sich auf den Zehenspitzen reckte, einen Blick über den Zaun werfen konnte. Aber damit wollten sie sich natürlich nicht zufrieden geben. Manche reservierten sich ein Stückchen vom Zaun, wo sie nach oben klettern und sich am oberen Brett oder einem Pfosten halten konnten. Ein, zwei andere, darunter Johannes, konnten in den paar Bäumen, die in der Nähe der Umzäunung standen, Stellen finden, wo die Belaubung lückenhaft genug für eine gute Sicht war und wo sie sich auf einem kräftigen Ast durchaus für länger einrichten konnten. Die Mädchen begnügten sich mit einem Lagerplatz auf dem kleinen Hügel, wo sie für die Kleinen aus dem umgestülpten Leiterwagen sogar eine richtige kleine Tribüne machten. Nur Elsa schloss sich Rudolph an, der noch schlauer sein und sich durch irgendeine Lücke im Zaun heimlich in das abgesperrte Gelände stehlen und dort umsonst einen richtig tollen Platz ergattern wollte. Besser gesagt, sie tat es ihm gleich, denn dass sie sich ihm anschlösse, ließ er nicht zu, da er fürchtete, mit einem Mädchen im Schlepptau eher erwischt zu werden. „Nix da, such du dir mal bloß dein eigenes Schlupfloch!“, wies er sie stattdessen zurecht.
Gerade hatten die Kinder sich auf ihren verschiedenen Posten niedergelassen und begonnen, sich einen ersten Überblick über das Areal hinter dem Zaun zu verschaffen, da ertönte ein Tusch und die Militärkapelle begann jetzt im Ernst, zur Unterhaltung der Menge aufzuspielen. Schmissige Märsche, beliebte Tanzstücke und Schlager klangen von der entferntesten Ecke aus einem eigens errichteten Pavillon herüber.
Immer mehr Zuschauer drängten durch den engen Einlass und verteilten sich dann über die Wiesenfläche zwischen dem Zaun und einer Absperrungskette, die einen großen Kreis um das Gebäude der Gasanstalt herum freihielt. Man bummelte auf dem Grasplatz einher, nahm die in der Mitte des Feldes zusammengetragenen Gegenstände und die sich dort entfaltenden Aktivitäten in Augenschein, stand in Gruppen so dicht wie möglich an der Absperrung herum und kommentierte offensichtlich in angeregten Gesprächen das Ereignis. Viele gönnten sich auch noch eine Stärkung oder Erfrischung in einer der Restaurationsbetriebe, die unter den aufsteigenden Zuschauertribünen improvisiert worden waren. Zwischen letzteren hatte man sogar eine getrennte Loge eigens für illustre Persönlichkeiten eingerichtet und mit dicken Girlanden aus Buchsbaumzweigen und den Insignien des Herrscherhauses geschmückt. Über den Platz verstreut waren Sanitätsstationen, um etwa unter der Sonnenhitze und dem Menschenandrang zusammenbrechenden Zuschauern zu Hilfe zu eilen oder gar bei Unfällen mit Verletzungen zur Stelle zu sein. Polizisten patrouillierten zwischen der Menge, um Ordnung und reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, schwitzend unter ihren Uniformen und Pickelhauben, aber dennoch steif und aufrecht Haltung bewahrend. Und - besonders faszinierend für die Kinder - waren hier und da Tische aufgestellt und als Post- und Telegraphenstationen ausgerüstet, mit den Titeln ausländischer Zeitungen beschriftet, von wo aus Reporter so unmittelbar wie möglich Bericht an ihre Heimatredaktionen erstatteten. Fliegende Händler schoben sich mit ihren Körben und Bauchläden zwischen all diesen Gruppen hindurch und versuchten, ihre Süßigkeiten, Backwaren oder Tüten mit Obst loszuwerden.
Währenddessen ließ Johannes in seinem Baum die Mitte des Feldes nicht aus den Augen und erstattete den anderen nach unten Bericht, wann immer er im Gewirr von umeinanderlaufenden Menschen und scheinbar durcheinander liegenden Gegenständen einen Sinn zu erkennen vermochte. Als sie angekommen waren, wurden gerade bunte Bündel auf das Feld gebracht, jedes davon hatte wie Schleppenträger vier, fünf Männer hinter sich, die einen großen Korb trugen. Inzwischen waren die Stoffbündel aufgefaltet und am Boden ausgebreitet worden, so dass dieser von weitem wie ein überdimensionaler farbenfroher Flickenteppich aussah, während sich die Leute an den Körben zu schaffen machten, Dinge hineinhoben oder an den Rändern befestigten.
„Jetzt kommen sie mit großen Schläuchen aus dem Gaswerk heraus und machen sie an den Hüllen fest“, rief er nach unten. „Und jetzt drehen sie an so Rädern. Hört ihr das Pfeifen und Zischen? Bestimmt pusten sie jetzt die Ballons auf!“.
Die eben noch flach und schlaff daliegenden Stoffkreise gewannen an Dicke, wuchsen zu unförmig wulstigen Landschaften, rundeten sich langsam zur Halbkugel, Einzelne bäumten sich an einem Ende etwas auf, lupften sich vom Boden, schienen plötzlich selbständige Wesen mit Eigenleben und Bewegungsdrang. Der Eine oder Andere formte sich schon prall und rund, füllte das Netz, in dem er gefangen war, völlig aus, richtete sich auf und begann, an den Seilen zu zerren, mit denen starke Gewichte ihn ringsherum am Boden festhielten. Es war, als würde eine außerweltliche Mannschaft absurder überdimensionaler Kobolde nach und nach aus einem kollektiven Tiefschlaf erwachen und Tatendurst entwickeln. Wo die Vorbereitungen schon am weitesten fortgeschritten waren, ließ man den Ballon vorsichtig so weit hochsteigen, dass man den Korb unterhalb des Netzes befestigen konnte. So entstand schließlich ein Bild von absonderlicher Schönheit aus der Vielzahl an Farben und Mustern der Ballons in den unterschiedlichen Stadien des Aufblasens, sich gegenseitig halb verdeckend, vor-, neben-, hinter-, übereinander, manche noch fast flach am Boden, andere schon ein paar Meter darüber schwebend, im leichten Wind hin und her tanzend und ungeduldig an ihren Fesseln zerrend, fast wie eine Ansammlung bunter Seifenblasen, die sich nach und nach aus der Lauge lösen und aufsteigen.
Mit einem Mal verstummte die Blaskapelle und über ein Megaphon wurde den Zuschauern irgendetwas angekündigt, was man hier außerhalb des Zaunes nicht mehr verstehen konnte. Da stiegen von irgendwoher eine ganze Anzahl kleiner feuerroter Versuchsballons auf und entschwand rasch im blauen Himmel, und die kleinen Geschwisterkinder kreischten auf vor Vergnügen. „Bestimmt geht es jetzt bald los!“, rief man aufgeregt, und wer gerade sich im Grase ausruhte, sprang schnell auf und kletterte auf seinen Posten. Johannes klopfte das Herz schneller vor Spannung, da plärrte einer von Agnes’ kleinen Brüdern verzweifelt, er könne nichts sehen, und heulte laut los. Schnell stieg er bis zu den unteren Zweigen herunter - „Jetzt aber schnell, komm, Maxe, ich hol dich rauf“. Der Kleine lief zu dem Baum, er zog ihn herauf und wies ihm einen Platz zu, wo er sich gut festhalten konnte; dann kehrte er zu seinem eigenen Ast zurück, hoffend, dass er nicht gerade in dieser Minute Entscheidendes versäumt hätte. Kaum saß er wieder, da legte die Militärkapelle mit doppeltem Elan los, und einer der Ballons löste sich langsam aus dem Gesamtbild, stieg über die anderen hinaus, bald tauchte der Korb mit drei Männern darin auf, die jeder mit einem Sandsack hantierten und dessen Inhalt allmählich über Bord schütteten. Schon sah man bei einem weiteren Korb zwei Männer mit Hilfe einer Strickleiter hineinklettern, während eine Hilfsmannschaft sich an den Fesseln mit den Gewichten zu schaffen machte. Johannes wusste gar nicht, wohin er schauen sollte, aber dann wollte er für diesmal doch den ersten Start nicht aus den Augen verlieren. Da war dieser Ballon bereits über das Startfeld, die Zuschauerreihen und über den Bretterzaun hinweggesegelt und stand groß und mächtig gerade nur ein paar wenige Meter - so schien es doch wenigstens - dicht vor und über ihm, verdeckte ein riesiges rundes Stück Himmel, die amerikanische Flagge, die ihm an der Seite lang herabhing, wedelte im Wind, und fast glaubte er, er müsse nur die Hand ausstrecken, um den Weidenkorb berühren oder die Hände der Insassen schütteln zu können. Das dauerte jedoch nur einen Moment lang, denn schon schwebte das seltsame Gefährt, indem es gleichzeitig immer weiter an Höhe gewann, mit dem Wind davon. Immer kleiner wurde die eben noch so imposante blau-gelb gestreifte Kugel, der Korb und erst recht die Menschen der Besatzung, die gerade noch hörbar fröhlich lachend der jubelnden Menge und den Kindern hier zugewunken und sie gleichzeitig großzügig mit Sand bestreut hatten. Inzwischen war der zweite Ballon startklar und hob zu den Klängen einer anderen Hymne ebenso unaufgeregt, ruhig und um die begeisterten Zuschauerscharen völlig unbekümmert ab, löste sich von der Erdenschwere und trug seine Besatzung über die Köpfe der Menge davon. Nun folgte in ein- bis zweiminütigen Abständen, jeder mit der ersten Strophe seiner eigenen Nationalhymne geehrt und gegrüßt, ein prächtig bunter Ballon auf den anderen. Der Junge schaute und schaute sich fast die Augen aus dem Kopf, wollte noch den letzten stecknadelkopfgroßen Rest jedes einzelnen verfolgen, und fühlte sich dabei ergriffen von einer ganz neuartigen Mischung aus Euphorie, Sehnsucht und einer winzigen Spur Traurigkeit - so einfach davonschweben zu können, dem Himmel nah, und doch gerade die Erde entdeckend, erobernd - was für ein Gefühl der Freiheit und Allmacht musste das sein; neue Horizonte, heraus aus der Enge des Bekannten und Eingeschränkten, erfahren, wie es anderswo wäre, und das in der Ungebundenheit der Lüfte und nicht mühsam auf der Erde dahinkriechend wie ein Wurm; Abenteuerlust, Entdeckerdrang regten sich in ihm, und ohne klar artikulierbare Gedanken entstand in ihm die Sehnsucht, selbst einmal irgendeine Art von Pionier zu werden...
Eine Weile hatte er sich diesen Visionen hingegeben, mit heftig klopfendem Herzen, und nicht mehr auf die Dinge geachtet, die unmittelbar vor seinen Augen sich abspielten. Da erhob sich plötzlich ein tausendkehliger Aufschrei. Erschrocken sah er sich um; aber die Laubkrone seines Baumes verdeckte die Seite, nach der alle schauten. „Was ist denn los?“, rief er nach unten. „Einer ist abgestürzt! - Ein Ballon ist kaputtgegangen!“, rief es aufgeregt durcheinander. Alles Blut wich ihm aus dem Gesicht und seine Hand krampfte sich um den Ast, an dem er sich hielt. „Hast du das nicht gesehen, Hannes? - Zuerst ist er an den Zaun gestoßen, dann haben sie ein paar Säcke hinausgeworfen - Nein, die sind ihnen dabei heruntergefallen - Und er ist pfeilschnell nach oben geschossen - Und dann ist er geplatzt - Und heruntergefallen - Aber ich hab gesehen, dass so was wie ein Fallschirm aufgegangen ist, und er ist ein bisschen langsamer gefallen - Jedenfalls war er ziemlich schnell nicht mehr zu sehen.“
‚Ach, du großer Gott!', dachte Johannes. So etwas konnte also auch passieren. So schön hatte er sich gerade alles ausgemalt, aber, wie es schien, konnte aus der großen Freiheit auch ein großes Unglück werden! Er überlegte schon, ob er hinunterklettern sollte, da ging zunächst ein Raunen durch die Zuschauerreihen und dann doch tatsächlich ein lautes Lachen. Da kam auch schon Elsa über den Zaun gesprungen und rannte auf die Freunde zu: „Stellt euch nur vor, sie sind auf ein Hausdach gestürzt, irgendwo nicht weit von hier, es ist aber nichts weiter passiert - höchstens vielleicht dem Dach - und dann sind sie durchs Dachfenster hineingeklettert und trinken jetzt bestimmt Kaffee bei den Leuten!“ Da lachten sie alle erleichtert mit und waren froh, sich am Rest der Veranstaltung weiter freuen zu können, die jetzt, nachdem man sie natürlich aufgrund der Beinahe-Katastrophe erst einmal unterbrochen hatte, wieder fortgesetzt wurde.
Nun dauerte es nicht mehr lange, bis alle Luftschiffe gestartet waren und die Menge begann, in Richtung Ausgang zu drängen und allmählich sich zu verlaufen. Aber erst, als von dem letzten Ballon nicht einmal der kleinste Punkt mehr zu erahnen war, stieg Johannes von seinem Baum, half dem kleinen Max auch hinunter, und die Freunde kamen bei Agnes’ Leiterwagen wieder zusammen, um den Rückweg anzutreten.
„War das nicht wirklich einfach toll?“ rief Elsa begeistert. „Ja!“, seufzte Johannes nur. „Schön sah es schon aus, mit den vielen bunten Farben“, gab Agnes zu. „Aber wie man sieht, können sie auch abstürzen, das fand ich weniger nett.“ - „Ach was, die hatten doch einfach nur Pech. Und dann ja sogar noch Glück im Unglück. Schließlich kann einem hier unten am Boden auch so allerhand passieren.“ - „Wohin man nicht alles fliegen könnte!“, sinnierte Frieda, sichtbar mit lebhaften inneren Bildern beschäftigt. „Na, wohin wirst du denn wohl fliegen wollen, Frieda?“, spottete Rudolph. “Jedenfalls könnte man selbst nicht groß bestimmen, wohin die Reise geht, die Dinger kann man ja nicht mal lenken!“, krittelte er noch pragmatisch. „Ist doch egal! Hauptsache fliegen, Hauptsache reisen und sehen, wie es anderswo ist!“, rief Johannes. „Ah pah! Du würdest doch nie wegfahren und deine Mutter allein lassen, das glaubst du doch selber nicht!“, versetzte Rudolph. „Aber warum müsste es denn gleich weit weg sein?“, fragte Karl. „Man könnte doch jedenfalls wenigstens hier in der Gegend ein bisschen spazieren fahren. Wir würden die Kleinen in den Korb packen und einen tollen Ausflug zum Badesee machen, nicht wahr, Agnes? Und bräuchten uns schon nicht die Füße wund zu laufen.“ (Hier tauschte der Rest der Gruppe ein heimliches Grinsen aus). „Ja, oder wir könnten übers Schloss fahren und der Kaiserin ins Schlafzimmer gucken“, meinte Frieda. „Oder vielleicht“, ließ sich der stille, blasse Fritz hören und schaute dabei um Anerkennung buhlend zu Johannes hinüber, „vielleicht könnten wir wenigstens über unsere Mauer fliegen und endlich sehen, was dahinter ist.“ - „Ja, genau, das wär’s doch!“ rief der lachend, „so hoch würde man bestimmt damit kommen.“ - „Was auch immer“, sagte Agnes ganz realistisch, „sicher ist ja jedenfalls, dass wir mit so einem Ding nie fahren werden, da brauchen wir uns eigentlich auch keine Gedanken darüber zu machen, wohin wir damit wollten, oder?“
„Ja, was machen wir aber jetzt noch mit dem angefangenen Nachmittag? Wollt ihr etwa schon heim?“ fragte Rudolph unternehmungslustig. „Also, ich muss mit den Kleinen zuhause sein, wenn Vater zurückkommt, sonst kriege ich Ärger. Ich muss ja noch beim Abendbrot helfen“, sagte Agnes. „Dann begleite ich dich und helf’ dir mit der Karre“, sagte Karl schnell, was wieder von einem amüsierten Augenzwinkern der anderen kommentiert wurde.
„Kommt denn niemand mit? Ich will noch in die Innenstadt, ins Panoptikum. Ich hab auch genug Geld, ich kann jemandem den Eintritt spendieren“, plusterte sich Rudolph ein wenig großspurig, schaute aber gleichzeitig so drein, als wäre es ihm lieber, nicht beim Wort genommen zu werden. „Danke, die paar Kröten habe ich selber“, sagte Johannes, „ich muss aber noch die Wäsche für meine Mutter austragen.“ - „Ach was, dafür ist doch noch genug Zeit“, widersprach Rudolph. „Ich geh hinterher doch auch noch zu meiner Sonntagsarbeit. - „Zu deinem reichen Kaufmann, nicht?“ - „Ja, genau, Schuhe putzen für die ganze Familie - und ich kann euch sagen, die haben aber Schuhe! Wenn die wollten, könnte jeder von denen jeden Tag ein anderes Paar anziehen und hätten sie nicht mal alle durch, bis ich wiederkomme. Na ja, sie zahlen aber ganz ordentlich, und irgendwas Feines zum Abendbrot kann ich auch immer noch abstauben.“ - „Also gut, ich komme mit“, gab Johannes nach - das eben frisch erweckte Fernweh machte ihm schon Lust, sich die exotischen Sehenswürdigkeiten und die Illusionsbilder ferner Landschaften anzusehen.