Mein Lebensglück finden

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W. Müller weist darauf hin, dass diese deterministische Haltung nicht typisch für die Psychoanalyse ist. Psychoanalytiker wie E. Erikson, C. Rogers, A. Maslow oder F. Perls sind sehr wohl offen für das Geheimnisvolle, für geheimnisvolle Kräfte oder eine höhere Macht in ihrer Betrachtung des Schicksals (Müller, 19ff.).

Im Denken von C. G. Jung spielen Schicksal und das Geheimnisvolle eine große Rolle. Für ihn haben die Menschen ein Geheimnis „und die Ahnung von etwas Wissbarem. Es erfüllt das Leben mit etwas Unpersönlichem, einem Numinosum … Der Mensch muss spüren, dass er in einer Welt lebt, die in einer gewissen Hinsicht geheimnisvoll ist, dass in ihr Dinge geschehen und erfahren werden können, die unerklärbar bleiben … Das Unerwartete und das Unerhörte gehören in diese Welt“ (C. G. Jung, 1990, 358).

Aber bei all diesen Überlegungen bleibt die Frage: Inwieweit sind wir überhaupt frei in unseren Entscheidungen? Gibt es nicht viele Lebensbereiche, die uns vorgegeben sind? Wir werden in einem Kontinent, in einem Land, in einer Gesellschaft und Kultur, in einer Familie geboren, die wir nicht wählen konnten. Unsere Gene enthalten physische und psychische Anlagen, die zunächst einfach da sind und die sich dann weiterentfalten wie: Gesundheit, Begabungen, Intelligenz, oder Persönlichkeitsprofil. Die pränatalen und perinatalen Elternbotschaften und die Vorstellungen und gesellschaftlichen Normen unserer Umgebung haben uns ebenso geprägt wie die Erwartungen, die z.B. in der Familie, in der Schule und im Beruf an uns gestellt wurden.

Im Neuen Theologischen Wörterbuch heißt es: „Grundsätzlich ist der Mensch von allem anderen in seiner Umwelt dadurch unterschieden, dass der Naturzusammenhang, in dem er existiert wie alles andere, ihn im Vollzug seines menschlichen Wesens nicht durchgängig und restlos determiniert. Das heißt: Er ist ins ‚Offene‘ gesetzt; es ist ihm aufgegeben, selbst die verschiedenen geschichtlichen Möglichkeiten zu verwirklichen (durch Wahl der Lebensform, des Berufs, durch Arbeit usw.) und darin seine Wesensausprägung zu finden“ (Vorgrimler, 197f.). So gibt es viele Bereiche in unserem Leben, die uns vorgegeben sind und in denen wir uns eingeschränkt fühlen. Und doch sind wir von unserem Wesen her frei und grundsätzlich autonom darin, wie wir Begrenzungen und Einschränkungen gestalten. Das beginnt mit unseren kleinen Entscheidungen im Alltag, wenn wir uns entschließen, in die Stadt zu gehen oder nicht, einen Besuch zu machen oder nicht, einen Anruf zu machen oder nicht, den Arzt aufzusuchen oder nicht usw. Das gilt auch für grundsätzliche Entscheidungen.

Für Romano Guardini ist der Mensch frei und bestimmt selbst sein Schicksal: Denn immer wieder „bestimme ich das scheinbar objektiv an mich Herantretende mit, wähle aus den Möglichkeiten des Geschehens einzelne heraus, rufe und lenke sie. So ist das Schicksal das aus der Fremdheit der Welt über mich Kommende, anderseits wieder das Verwandte, ja Eigene …“ (Guardini, 1948, 215).

Paul Tillich schreibt zu demselben Thema: Ich muss mich entscheiden, ob ich mich dem Schicksal überlasse oder nicht. Mit dieser Entscheidung trage ich zur Verwirklichung meines Schicksals bei, das für mich dann nicht länger „eine Macht ist, die entscheidet, was mir passiert. Dann bin ich es selbst, so wie ich bin, wie ich von der Natur, der Geschichte und mir selbst geformt wurde. Mein Schicksal ist die Basis meiner Freiheit; meine Freiheit trägt dazu bei, mein Schicksal zu formen“ (Tillich, 216).

Uns sind also viele Begabungen vorgegeben, doch was wir aus ihnen machen, das hängt auch von uns ab. Für die Einzelnen kommt es darauf an, auf der Basis der Vorgegebenheiten, des Schicksals oder des bisher So-geworden-Seins, die Entscheidungen zu treffen, die ihnen möglich sind. „Wir entscheiden nicht über die politischen und kulturellen Gegebenheiten, in die wir hinein geboren werden, doch wir sind ihnen nicht einfach nur ausgeliefert, sondern können durch Wahlen, Aktionen usw. auf sie reagieren und damit unsere Freiheit umsetzen“ (Müller, 31).

Darüber hinaus gibt es eine existentielle Freiheit, die im Innern eines jeden Menschen verankert ist. May nennt sie die innere Freiheit, die von den äußeren Einschränkungen nicht tangiert wird und die sich in unserer Einstellung zu vorgegebenen Situationen zeigt. Der Benediktiner Sales Hess schreibt in seinem Buch „Dachau – eine Welt ohne Gott“ über seine Erfahrungen im KZ Dachau: „Was konnten diese Menschen ohne Gott uns antun? Sie konnten wohl den Leib aushungern und töten, aber der Seele konnten sie nicht schaden“ (Hess, 124). Dieser innerste Teil des Menschen, die Seele, ist unzerstörbar und für gläubige Menschen eingebettet und aufgehoben in einem tiefen Gottvertrauen. Ohne äußere Freiheit kann ein Mensch leben, aber nicht ohne die innere, existentielle Freiheit. „Bin ich in Berührung mit dem Zentrum meiner absoluten Freiheit, die grenzenlos und unverfügbar ist, erwächst mir daraus eine große Unabhängigkeit. Und das inmitten einer Welt, einer persönlichen und gesellschaftlichen, die mich an tausend Stellen und Orten einschränkt, in Freiheit zu handeln. Doch diese Welt vermag den Bereich meiner existentiellen Freiheit nicht zu berühren, gar zu beeinflussen“ (Müller, 143).

Ebenso wichtig ist, dass ich nicht in der Auflehnung gegen mein Schicksal verharre, sondern dass ich mich mit ihm auseinandersetze, dass ich versuche, einen Sinn darin zu entdecken, und dann gleichsam mit dem Schicksal kooperiere. Denn der „Bestand der jeweiligen Situation wie der Zusammenhang des Lebensganzen sind ja nicht starr. Sie bestehen (…) nicht nur aus Notwendigkeiten, denen der Mensch sich fügen muss, sondern auch aus Tatsachen, an denen die Freiheit des Menschen ansetzen kann: aus Kräften, die er lenken, aus Zuständen, die er formen, aus Fließendem, das er zusammenhalten, aus Hindernissen, die er überwinden kann“ (Guardini, 227).

Wenn wir unserem Schicksal nicht ohnmächtig ausgeliefert sind, sondern eine äußere und innere Freiheit haben, dieses Schicksal mitzugestalten, dann beginnt aber auch unsere Verantwortung für unser Schicksal. Dies bedeutet, dass wir unser vergangenes Leben anschauen, wer und was uns negativ und positiv geprägt und geformt hat, welche unbewussten und bewussten Elemente und Vorstellungen unser Leben bis heute beeinflussen. Sonst besteht die Gefahr, dass wir von dem in unserem Leben Vorgegebenen unbewusst bestimmt werden und so letztlich mehr gelebt werden als selbstbestimmt leben. Wir haben die Freiheit und Verantwortung, uns dieser Aufgabe zu stellen, obwohl uns „angesichts dieser Freiheit schwindelig werden kann“ wie Kierkegaard einmal sagt. Doch es bleibt uns letztlich nichts anderes übrig, als uns dieser Verantwortung zu stellen. Selbst wenn wir uns nicht entscheiden, haben wir die Entscheidung getroffen, uns nicht zu entscheiden, und wir haben „die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, zu verantworten. Wir können dieser Verantwortung, dieser Freiheit, nicht aus dem Wege gehen“ (Müller, 44).

In diesem Wechselspiel von Schicksal und Bestimmung sowie Freiheit und Verantwortung stellt sich die Frage nach einer Instanz, die unsere Wünsche, Überlegungen und Erkenntnisse in Handeln umsetzt und zu Taten macht. Dabei schließen wir die deterministische Lösung von S. Freud aus, wo das Unbewusste mehr oder weniger unser Leben bestimmt und für die Freiheit kein Raum ist. Wir nennen diese Instanz in uns „Zentrum des Willens“, „Sitz der Willenskraft“ oder „geistige Instanz“. Im Willen wird die Fähigkeit des Menschen verwirklicht, „als Person ein als Wert erkanntes Ziel aktiv anzustreben, und falls dieses Ziel mit anderen möglichen Zielen kollidiert, diese in Freiheit abzulehnen oder zurückzustellen“ (Vorgrimler, 679f.).

So ist der Wille die Triebfeder unseres Handelns. Die Willenskraft ist es, mit der wir unser Leben gestalten und verändern können. Bevor wir aber unsere Willenskraft einsetzen und für die Gestaltung unseres Lebens nutzen können, müssen wir wissen, was wir wollen, welche Ziele wir für unser Leben haben. Wenn mein Wunsch klar ist, kann mein Wille mein Tun und Handeln so anregen und lenken, dass dieses Ziel erreicht wird. Rollo May beschreibt das Verhältnis von Wunsch und Wille so:

„Dem Wunsch verdankt der Wille die Wärme, den Inhalt, die Einbildungskraft, das Spielerische, die Frische und den Reichtum. Der Wunsch verdankt dem Willen die Selbststeuerung und die Reife. Der Wille schützt den Wunsch und ermöglicht es ihm weiter zu existieren, ohne zu große Risiken einzugehen. Aber ohne Wunsch verliert der Wille seine Vitalität und Lebensfähigkeit … Wenn man nur Wille und keinen Wunsch hat, dann hat man es mit dem vertrockneten, viktorianischen, neopuritanischen Menschen zu tun. Wenn nur ein Wunsch und kein Wille vorhanden sind, dann hat man den zwanghaften, unfreien, kindlichen Menschen vor sich, der als infantil gebliebener Erwachsener zum Roboter werden kann“ (May, 1969, 218).

Es erfordert Mut und Vertrauen, sich auf diese Auseinandersetzung mit dem Schicksal, mit dem eigenen Leben einzulassen: mit allem, was mich ausmacht, meinem bewussten und unbewussten Ich, meinem Selbst, mit dem inneren Kern meiner Person. Das wird am ehesten gelingen, „wenn ich aus der Tiefe meines Seins heraus in Beziehung trete zu meinem Leben. Ich weiß dann um meine Angst vor der Freiheit, ich blende mein Schicksal und meine Bestimmung nicht aus meinem Leben aus, sondern gehe mit diesem Wissen und dieser Erfahrung auf mein Leben zu … Wir bleiben nicht länger an der Außenseite stehen, betrachten und beurteilen unsere Probleme nicht nur oberflächlich. Wir dringen jetzt tiefer in sie ein, gehen sie grundsätzlicher, von unserem Kern her, an. Wir stellen uns dann der Aufgabe, die sich für uns daraus ergibt, die Verantwortung für unser Leben zu übernehmen“ (Müller, 87f.).

Für den christgläubigen Menschen ist das Schicksal kein blindes Fatum. Gott hat die Menschen „gut“ geschaffen nach seinem göttlichen Bild und Gleichnis und er hat seinen göttlichen Lebensatem in sie gelegt. Und Gott hat ihm die Schöpfung anvertraut. In Jesus hat Gott unser menschliches Schicksal angenommen und ist uns in unserem Menschsein in allem gleich geworden, außer der Sünde.

 

Nach christlichem Glauben liegt unser Schicksal in der Hand Gottes und ist in seiner Liebe letztlich gut aufgehoben (Jes 43,1ff.; Joh 15,9ff.). Wenn wir uns darauf einlassen und vertrauen, dann können wir unser Schicksal, so weit möglich, selbst in die Hand nehmen. „Wir sind der Kapitän unseres Lebensschiffes, übernehmen das Steuer und geben die Richtung vor. Wir tun das auch bei stürmischer See, im Wissen, dass es Situationen gibt, bei denen wir nur noch beten und uns dem Schicksal überlassen können. Das hält uns aber nicht davon ab, bis zum Schluss alle in uns vorhandenen Kräfte und alle uns gegebenen Möglichkeiten zu nutzen“ (Müller, 135). Je mehr wir unser Leben Gott überlassen, desto mehr können wir ohne Angst unser Leben wagen und glücklich werden.

Abschließen möchte ich dieses Kapitel mit einer Geschichte, die mir und vielen Menschen geholfen hat, heilsamer und fruchtbarer mit dem eigenen Schicksal umzugehen.

„Eine chinesische Geschichte erzählt von einem alten Bauern, der ein altes Pferd für die Feldarbeit hatte. Eines Tages entfloh das Pferd in die Berge, und als die Nachbarn des Bauern sein Pech bedauerten, antwortete der Bauer: ‚Pech? Glück? Wer weiß‘. Eine Woche später kehrte das Pferd mit einer Herde Wildpferde aus den Bergen zurück, und diesmal gratulierten die Nachbarn dem Bauern wegen seines Glücks. Seine Antwort: ‚Glück oder Pech? Wer weiß‘. Als der Sohn des Bauern versuchte, eines der Wildpferde zu zähmen, fiel er vom Rücken des Pferdes und brach sich ein Bein. Jeder hielt das für ein großes Pech. Nicht jedoch der Bauer, der nur sagte: ‚Pech? Glück? Wer weiß?‘ Ein paar Wochen später marschierte die Armee ins Dorf und zog jeden tauglichen jungen Mann ein, den sie finden konnten. Als sie den Bauersohn mit seinem gebrochenen Bein sahen, ließen sie ihn zurück. War das nun Glück oder Pech? Wer weiß?

Was an der Oberfläche wie etwas Schlechtes, Nachteiliges, aussieht, kann sich als etwas Gutes herausstellen. Und alles, was an der Oberfläche gut erscheint, kann in Wirklichkeit etwas Böses sein. Wir sind dann weise, wenn wir Gott die Entscheidung überlassen, was Glück oder Unglück ist; wenn wir ihm danken, dass für jene, die ihn lieben, alles zum Besten gedeiht. Dann werden wir ein wenig an der wunderbaren mystischen Vision der Juliana von Norwich teilhaben, die einen Ausspruch tat, der mir von allen, die ich je gelesen habe, der liebste und tröstlichste ist: ‚Und alles wird gut sein; und alles wird gut sein; und alle Dinge, die es gibt, werden gut sein“ (de Mello, 1984, 182f.).

3. Der Urwunsch des Menschen nach einem „glücklichen Leben“

In den alten Traditionen der Menschheit finden sich Aussagen über Grundbedingungen menschlichen Lebens, die in Sagen, Mythen, religiösen Schriften, aber auch in modernen Studien der Psychologie und Soziologie festgehalten sind: Jeder Mensch hat in seinem innersten Wesen Grundhoffnungen, Antriebe und Urwünsche nach einem Leben in Glück, Frieden, Freiheit und Liebe.

Die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben ist offensichtlich ein Urwunsch des Menschen (Horn, 24ff.). Ein „glückliches Leben“ ist für ihn eine faszinierende Vorstellung, ein Zauberwort, ein Sehnsuchtswort. Wenn es einen Wunsch gibt, in dem sich die Menschen aller Völker und Rassen einig sind und immer einig waren, dann ist es der Wunsch, glücklich zu leben, glücklich zu sein. Glück ist das kostbarste Gut des Menschen, und nicht zuletzt aus diesem Grund ist es sehr zerbrechlich. „Glück und Glas, wie leicht bricht das.“

In dem Urwunsch nach einem glücklichen Leben erkennt Zulehner eine Lebens-Trias: Zu einem glücklichen Leben „gehört demnach die Erfahrung, einen Namen zu haben, wachsen zu können und Wurzeln zu schlagen“ (Zulehner, 1983, 15ff.).

Der erste Urwunsch nach einem Namen beinhaltet: nicht austauschbar, einzigartig sein, Ansehen haben, lieben und geliebt werden, erkannt und anerkannt werden, nicht missbraucht werden.

Der zweite Urwunsch nach Macht bedeutet: Selbst etwas machen können, Selbst-Mächtigkeit, aber auch Bewegung, wachsen in Freiheit; sich schöpferisch entfalten können. Wachsen heißt lebendig sein.

Der dritte Urwunsch nach Heimat und Geborgenheit meint: Dazugehören und zu Hause sein; einen Ort der Verwurzelung finden; einen letzten Halt haben.

Diese Urwünsche gehören zum menschlichen Leben, unabhängig von bestimmten Religionen und Weltanschauungen. Jedoch gestaltet die jeweilige Kultur den Umgang mit den Urwünschen und bestimmt damit auch, ob das Leben gut und glücklich ist oder nicht.

Grundsätzlich gibt es kulturübergreifend einen positiven und einen negativen Umgang mit den Urwünschen und der Begrenzung ihrer Erfüllbarkeit. Dies zeigt sich am Beispiel des Umgangs mit dem Urwunsch nach Macht darin, dass ein positiver Umgang mit Macht zu einem größeren Selbst- und Freiheitsbewusstsein, zu Eigenständigkeit und Anpassungsfähigkeit führt. Ein negativer Umgang mit dem Urwunsch nach Macht kann zu egoistischer Geltungs- und Herrschsucht führen, die das eigene oder fremde Leben beeinträchtigen oder gar zerstören.

Die Urwünsche sind in ihrer Tiefe auf eine Erfüllung außerhalb der Grenze von Raum und Zeit gerichtet: auf eine transzendente Erfüllung. Wer kennt nicht die Maßlosigkeit des Sehnens, wenn „Sternstunden“ (von Liebe, Macht, Beheimatung) wie Momente der Erfüllung erscheinen und im nächsten Augenblick nur mehr Erinnerung sind? So sehr in solchen Augenblicken die Urwünsche befriedigt werden, es bleibt ein schaler Geschmack des „Noch-nicht“ und des „Noch-mehr“ zurück. In einer solchen Befriedigung von Liebe, Macht und Geborgenheit, die immanent an Zeit und Raum gebunden geschieht, erfahren Menschen ein Stück gutes, ganzes Leben. Es ist aber nur ein Stück von einem sinnvollen und glücklichen Leben, das sie nicht nur teilweise, sondern ganz erleben möchten. Diese letztlich erfüllte Sehnsucht nennen wir im Glauben das „ewige Leben“, wo das Sehnen des menschlichen Herzens zur Ruhe kommt. Hier werden wir erfahren, dass Gott selbst unseren Namen ins Buch des Lebens geschrieben und damit ein Leben in Fülle für uns bereitet hat. Da der Mensch aber an Zeit und Raum gebunden ist, geraten wir immer wieder in die Spannung zwischen unseren grenzenlosen, unendlichen Wünschen nach einem glücklichen Leben und der begrenzten Befriedigung im konkreten Leben.

Diese Enttäuschung wird „leibhaftig“ in folgender Beziehungsskulptur deutlich. In dieser Übung bitte ich z.B. Ehepartner, ihre Idealvorstellung von der Beziehung zwischen Mann und Frau in einer Skulptur darzustellen, in der alle Wünsche nach Nähe, Geborgenheit, Wärme, Liebe und Sexualität erfüllt sind. Meist wird eine Gestalt gewählt, in der die beiden Partner sich umarmen. Wenn aber der Kopf des einen auf der Schulter des anderen liegt, schauen das Gesicht und insbesondere die Augen, die für eine Beziehung so wichtig sind, über die Schultern des Partners hinweg. Wohin? Häufige Antworten: in die Ferne, irgendwohin, auf einen anderen Menschen, in die Zukunft, auf Gott. Das Sehen, das Anschauen, die Kommunikation mit den Augen sind in dieser „idealen“ engen Beziehung nicht möglich, da die Augen über die Schultern des Partners hinwegsehen. Es fehlt die nötige Distanz, die von einer zu großen Nähe abgrenzt und eine Begegnung auf Augenhöhe ermöglicht. Das wird noch deutlicher, wenn einer oder beide in der Umarmung „Fortschritte“ machen und auf das eigene Lebensziel zugehen wollen. Wenn einer nach vorn geht, muss der andere Partner rückwärtsgehen. Beide behindern sich in dieser Nähe am Gehen auf ihrem je eigenen Weg. Um den eigenen Weg gehen zu können, müssen sie die einengende Nähe in der Umarmung aufgeben, die an eine „Paaridentität“ erinnert, und sich an die Seite des Partners stellen mit dem Blick auf ein gemeinsames Ziel.

Wie aber können wir mit diesem schmerzlichen Missverhältnis zwischen den unendlichen Wünschen und ihrer begrenzten Erfüllung glücklich leben? Hier scheiden sich die Geister. Die unterschiedlichen Lebensanschauungen lösen das Problem entweder immanent, d. h., sie versuchen, die Unendlichkeit und Unbegrenztheit der Urwünsche samt ihrer Erfüllung in den irdisch-menschlichen Bereich zu verlegen; oder aber sie wählen die transzendente Lösung, wie z.B. den christlichen Glauben, der die letzte Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse im ewigen Leben bei Gott sieht.

Was heißt das konkret? Wenn der Mensch sich selbst zur letzten Instanz macht, verliert die Frage nach der Erfüllbarkeit der Urwünsche ihre transzendente und geheimnisvolle Dimension. Der Mensch selbst übernimmt jetzt die ganze Verantwortung für das Leben und die Erfüllung aller Lebensbedürfnisse und Urwünsche, auch der „unendlichen“, und entscheidet, was diesem Ziel dient und was nicht. Er macht sich zum „Herrn über Leben und Tod“. Zumindest setzt er sich diesem alles fordernden Anspruch aus.

Für die drei Urwünsche hat diese weltimmanente Lösung ohne Gott weit reichende Folgen. Der Mensch braucht dann auf seiner Identitätssuche jemanden, der ihm seinen Namen, sein Ansehen, seine Einzigartigkeit, seine Liebe und Zuwendung schenkt. Nehmen wir an, er braucht in seinem Minderwertigkeitsgefühl andere, die ihn bestätigen, ansehen, anerkennen, Ja zu ihm sagen, weil er sich selbst nicht traut. Dann besteht die Gefahr der Fremdbestimmung und Abhängigkeit, die ihn hindert, zu sich selbst zu kommen. Die anderen stellen die Bedingungen, unter denen sie ihn anerkennen und lieben. Ist sein Selbstvertrauen sehr groß und fühlt er sich stark genug, um aus eigener Kraft Ja zu sagen und zu entscheiden, dann besteht die Gefahr einer isolierten Unabhängigkeit. Diese ist nicht mehr offen für Veränderungen und Kritik. Sie unterdrückt andere und erzeugt Lebensängste, einmal nicht mehr stark genug zu sein. Sie scheitert letztlich an dem Widerspruch von Vertrauen und Misstrauen.

Ähnliches gilt für den Urwunsch nach Macht und nach Heimat. So können sich schwache und kraftlose Menschen die Erfüllung ihres Machtwunsches durch Abhängigkeit verschaffen, indem sie sich mit anderen Mächtigen identifizieren und unterwürfig und blind gehorchen. Oder sie machen in ihrer Herrsch- und Geltungssucht andere gefügig und bleiben jede Rechenschaft schuldig. Aus beiden Versuchen erwächst bei aller Macht eher Unfreiheit und Ohnmacht, oder es entwickelt sich Widerstand.

Beim Urwunsch nach Heimat, Besitz und Verwurzelung versuchen manche Menschen diesen Wunsch zu erfüllen, indem sie das bisher Erlangte festhalten und gleichzeitig immer „mehr“ haben wollen. Denn das, was sie gerade haben, reicht im nächsten Augenblick schon nicht mehr. Sie nehmen sich dieses „mehr“ von anderen und bereichern sich ohne Rücksicht darauf, was dies für andere bedeuten kann. In ihrer Habsucht zielen sie immer auf ein „mehr haben wollen“. Sie kommen nie zur Ruhe, weil es immer ein „noch mehr“ gibt.

Fehlt ihnen die eigene Kraft oder die Möglichkeit, den Urwunsch nach Heimat zu befriedigen, so müssen sie ihre Heimat bei anderen suchen und sich in fremdem Boden verwurzeln. Wie schwer es ist, in der Fremde eine Heimat zu finden, erleben wir zurzeit bei den Millionen Flüchtlingen in aller Welt. Auch wenn sie eine Bleibe und ein Auskommen finden sollten, so ist doch der Wunsch der meisten, wenn möglich in ihre ursprüngliche Heimat zurückzukehren.

Die Spannung und das Missverhältnis zwischen den Wünschen und der ersehnten Erfüllung bleiben. Ohne eine transzendente Hoffnung, wie immer sie auch verstanden wird, sind die Menschen in ihren begrenzten Möglichkeiten überfordert. Sie können so letztlich nur zu einem individuellen und kollektiven Überleben, nicht aber zu einem geglückten Leben kommen.

Ganz allgemein gilt das auch für den gläubigen Menschen: Um die Spannung zwischen unendlicher Sehnsucht und endlicher Befriedigung auf Dauer „überleben“ zu können, gilt es, die Wünsche und Erwartungen zu relativieren und sie an der je eigenen Lebenswirklichkeit zu messen, damit der Schmerz und die Enttäuschung über das Unerfüllte nicht so stark werden, dass sie in Verzweiflung umschlagen. Ernesto Cardenal beschreibt diesen Durst nach Leben in einem Gedicht:>1

„Alle Menschen werden mit einem verwundeten Herzen

und einem unstillbaren Durst geboren.

Wie dürres Land lechzt meine Seele Dir entgegen.

Der Vorgang des Essens und Trinkens

 

wurde vom Schöpfer als materielles Symbol

dieses Hungers und Durstes nach Gott eingesetzt.

Er sucht immer neue Dinge mit immer gleicher Sucht …

Es ist wie eine Krankheit, die ihn zwingt,

immer mehr und mehr zu essen,

ohne dass er jemals satt würde.

Platon hat einmal gesagt, der Mensch

sei ein zerbrochenes Gefäß, das sich nie füllen lässt.

Die Sinne mögen sich an Genüssen überessen,

die Seele bleibt doch immer unbefriedigt.

Die irdischen Freuden bleiben an der Peripherie des Körperlichen

und dringen nicht bis zur Seele vor.

Weil Gott auf dem Grund jeder Seele wohnt,

ist die Seele unendlich und kann mit nichts gefüllt werden als mit Gott“

4. Wie kann ich glücklich werden?

Die Frage nach dem Weg zu einem glücklichen Leben hat die Menschen schon immer beschäftigt. Sie haben vielfältige Antworten gefunden, die nicht nur von den sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Umständen abhängen. Die Frage nach einem glücklichen Leben ist gleichzeitig eine sehr persönliche Frage, die jeder Mensch nur für sich selbst beantworten kann.

„Glücklich ist, wer alles hat, was er will“ (Pieper, 2012, 39). Dieses Wort des Augustinus fasst in einem kurzen Satz zusammen, was die meisten Menschen unter Glück verstehen. Augustinus hat diesen Satz aus 288 Lehrmeinungen zum Thema „Das letzte Glück des Menschen“ des Enzyklopädisten Varro ausgewählt. Konkret würde das heißen: Glücklich ist, wer ein großes Vermögen hat, wer seinen Traumberuf, seine Traumfrau gefunden hat, wer im Lotto gewinnt, wer gute Beziehungen hat, dessen Existenz gesichert ist … Glücklich ist eben der Mensch, der alles hat. Doch sehr schnell zeigt sich die Kehrseite der „Glücksmedaille“: Geld und Besitz machen ab einer bestimmten Größenordnung nicht mehr nur glücklich. Sie bereiten Sorgen, wie der Besitz erhalten, geschützt und vermehrt werden kann. „Der Besitz besitzt“ meint, Besitz kann besessen machen. Doch häufig verlieren das Haus, das Auto, das Schmuckstück, das Spielzeug nach einiger Zeit ihren Reiz, wenn am Haus die ersten Reparaturen fällig sind, das Auto doch nicht mehr so ideal ist, der Traummann im Alltag sein wahres Gesicht als mürrischer Egoist zeigt.

Der „Heißhunger“, die „unendliche Sehnsucht“, unbedingt das oder jenes haben zu „müssen“, um glücklich zu sein, gleicht einem großen, unersättlichen Moloch, der die erfüllten Wünsche schluckt und niemals satt wird. Es entsteht mit der Zeit ein existentielles Gefühl der Leere und Enttäuschung: „Je mehr er hat, je mehr er will, nie werden seine Wünsche still“ (erweitertes Zitat aus dem Gedicht „Zufriedenheit“ von Johann Martin Miller, 1750–1814.).

In unserer durch Leistung und Konkurrenz geprägten Gesellschaft fragen wir meist nach dem Glück als etwas, das es zu erjagen gilt. „Glück, so hört man überall, das kann man sich nicht verschaffen, um das Glück muss man kämpfen und rennen, und zwar so, dass man möglichst vor den anderen am Ziel ist, oder doch zumindest ebenfalls rasch das erreicht, was die anderen schon haben …“

„Derart verlieren wir zunehmend jene Freiheit, derer der Umgang mit solchen Dingen bedarf, sollen sie wirklich Güter des Glücks sein. Ständig ist dann nach einem Weiteren noch zu jagen, das uns zum Glück zu fehlen scheint. Und während wir die ganze Kraft auch hierauf noch lenken, zerrinnen uns die Glückschancen zwischen den Fingern, die in dem liegen, was wir schon haben und was wir sind“ (Hommes, 241ff.).

So führt offensichtlich dieses Immer-mehr-haben-und-be-sitzen-Wollen nicht zu mehr Glück und Zufriedenheit. Die berechtigte Suche nach dem eigenen Glück wird so zu einem hektischen Jagen nach einem glücklichen Leben, zu einem Glückswahn und einer Lebensgier, mit einem Gefühl der inneren Leere und des Unglücklichseins. In dem sinnlosen Wettlauf des Immer-mehr-haben-Wollens bleibt das eigentliche Glück auf der Strecke, ist das Unglücklichsein vorhersehbar.

„Ich will endlich mein persönliches Glück finden in einer Welt des Materialismus voller Habgier und Gewalt“, sagt die 23-jährige Studentin F., konvertiert zum Islam und schließt sich einer kleinen islamischen Sekte an, die ihr das wahre Glück verspricht. Sie trennt sich von ihrer Familie und ihren Freundinnen, von dem kapitalistischen Umfeld und reist in ein Ausbildungslager des IS nach Syrien. Erst später bemerkt sie, wie sie getäuscht wurde. F. wird mit einem IS-Kämpfer verheiratet und materiell ausgenutzt. Ihre Aufgabe ist es, in den Kriegsgebieten für die Versorgung der IS-Kämpfer zu sorgen. Dabei befindet sie sich in ständiger Lebensgefahr.

Andere suchen ihr Glück in der Ferne, in „Traum-Ländern“, auf „Traum-Inseln“, an „Traum-Stränden“ in unberührten Landschaften wie z.B. in Kanada oder Neuseeland.

So möchte der 57-jährige Unternehmer B. mit seiner 55-jährigen Frau A. einen neuen Lebensabschnitt beginnen. „Wir haben bis jetzt genug geschuftet und viel Geld verdient. Aber unser persönliches Leben, unsere eigenen Bedürfnisse, die Beziehung zu Freunden, die Freizeit und unsere privaten Interessen sind vor lauter Arbeit und beruflichem Engagement auf der Strecke geblieben. Die Kinder sind inzwischen erwachsen und haben ihre eigenen Familien. Sie brauchen uns nicht mehr. Beim Rückblick auf unser bisheriges Leben haben wir den Eindruck, dass wir eigentlich noch nicht richtig gelebt haben. Jetzt wollen wir das Versäumte nachholen und ein neues und glückliches Leben beginnen, von dem wir immer geträumt haben. Wir kaufen uns ein Blockhaus in einer wunderschönen Bucht in Kanada. Dort haben wir schon oft Ferien gemacht und uns immer sehr wohl gefühlt.“

Frau S. arbeitet seit 29 Jahren als Managerin in einer Großbank und hat einen 14- bis 16-Stunden-Tag. Sie ist Alleinerziehende eines jetzt 30-jährigen Sohnes, der die meiste Zeit bei den Großeltern lebte, da S. beruflich viel unterwegs war. Sie hat in ihrem Stressberuf keine Zeit für persönliche Interessen und Beziehungen gehabt. Jetzt will sie endlich ihren Traum erfüllen und in Neuseeland ein neues, einfaches Leben in einer kleinen Siedlung beginnen, die sie bei Ferienaufenthalten kennen und lieben gelernt hat. Dort kann sie endlich ihren Traumberuf als Malerin verwirklichen und die Natur genießen: Mit dem Boot hinausfahren und angeln, schwimmen, joggen, mit den Nachbarn plaudern, auf der Bank vor dem Haus sitzen und den Sonnenuntergang genießen. S. hofft, dass dieses einfache, entstresste Leben, das sie bisher nur aus ihren Ferienwochen kennt, endlich auch die ersehnte Zufriedenheit und das Glück in ihr Alltagsleben bringt.

Bei diesen Entscheidungen ist es wichtig, nicht zu schnell und um jeden Preis das glückliche Leben erhaschen und haben zu wollen. So scheitern Wünsche nach einem glücklichen Leben, weil die notwendigen Entscheidungen unüberlegt, gegenabhängig oder „aus dem Bauch heraus“ getroffen werden. Oft wird auch ein Teilaspekt des Lebens für das Ganze gehalten. Dann endet der Versuch, das Glück zu finden, nicht selten in einem Teufelskreis von Lebensgier und Aus-Leben, verbunden mit einem Gefühl der inneren Leere und Unzufriedenheit. Viele der Betroffenen haben ihr eigenes Leben noch nie richtig angeschaut, reflektiert und sich kritisch damit auseinandergesetzt. Sie reagieren auf die aktuelle Lebenssituation wie Menschen, die auf der Flucht vor dem Leben sind, dem sie gleichzeitig atemlos hinterherlaufen. „Solange ich hinter dem Glück herrenne, wird es mich nicht einholen“ (Peter Hohl).