Mein Lebensglück finden

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„Ich habe ein Recht auf ein glückliches Leben und meine Selbstverwirklichung. Bisher bin ich immer nur bestimmt und gelebt worden.“ Mit diesen Worten versucht J., ein 39-jähriger Pfarrer, das Übermaß an seelsorglicher Arbeit in drei Pfarreien, die ihn ausgelaugt und an den Rand des Selbstmords getrieben haben, loszuwerden und sich zu befreien. Nach einem Klinikaufenthalt wegen „Burn-out“ und Depressionen schreibt er: „Ich mache jetzt nur noch das Notwendigste in meinem Pfarrverband, ‚Arbeit nach Vorschrift‘. Jetzt denke ich endlich an mich und kann meine persönlichen Bedürfnisse befriedigen.“ Konkret bedeutet es für S., dass er seine bisher unterdrückte Homosexualität im Geheimen ausleben, sich viel Freizeit gönnen und das Leben in vielfältiger Weise genießen will. Und in der Seelsorge will er nur das Notwendigste tun. Nach einem Jahr wird S. in der Schwulenszene erpresst und gerät in eine noch tiefere Lebenskrise, die ihn zur Besinnung bringt. Nach einer Sabbatzeit und Exerzitien findet S. zu seiner Berufung als Priester in der Nachfolge Jesu zurück und er kann sie heute entsprechend seinen erkannten Möglichkeiten und Grenzen gestalten und leben.

„Ich will ein normales und glückliches Leben führen wie die andern“, erklärt N., eine 40-jährige, körperlich schwerbehinderte Frau. Bislang hat sie sich noch nicht mit ihrer Behinderung auseinandergesetzt oder sie gar angenommen. Sie vergleicht sich mehr unbewusst als bewusst mit Menschen ohne Behinderung und hat letztlich das Ziel, wie diese „normal“ zu leben, eben nicht behindert. Diese irreale Suche nach einem „normalen“ und glücklichen Leben kann nicht gelingen. Bei N. endete sie mit einem Suizidversuch.

„Ich will das Leben genießen, solange ich es noch kann!“, meint Herr S., ein an Aids erkrankter 44-jähriger homosexueller Religionslehrer. In seiner Verzweiflung beschließt er, „einige Leben durch ungeschützten sexuellen Verkehr mit in den Tod zu nehmen“. Gott sei Dank wird dieser mörderische Wunsch, mit dem er sich „an Gott und Mensch rächen“ will, nach einigen Beratungen für ihn fragwürdig. Er setzt sich mit seiner Krankheit auseinander und kann sich schließlich auch vor Gott damit versöhnen. S. hat gelernt, als Aidskranker mit seinen Möglichkeiten und Grenzen zu leben. Er unterrichtet weiter als Religionslehrer an einer Berufsschule und führt nach der Auseinandersetzung und Versöhnung mit seiner Krankheit ein gutes geistliches Leben und engagiert sich in der Freizeit für Flüchtlingskinder.

Diese Beispiele und unsere eigenen Erfahrungen zeigen, dass das Immer-mehr-haben-Wollen und ein Mehr-an-Besitz nicht unbedingt zu einem glücklichen Leben führen. Der Erwerb und der Besitz von materiellen Gütern können sehr wohl zu einem glücklichen Leben gehören, sie sind aber keine notwendige Voraussetzung. Zu einem geglückten Leben gehört mehr: Menschen, die in materieller Armut leben, wenn diese nicht ins Elend führt, können sehr glücklich sein und Lebensfreude ausstrahlen. Sie sind kreativ und entwickeln viele Talente zum Überleben. Unter ihnen ist häufig eine sehr große Solidarität und Hilfsbereitschaft zu finden. André Gide schreibt dazu: „Das Geheimnis des Glücks liegt nicht im Besitz, sondern im Geben. Wer andere glücklich macht, wird glücklich.“

Entscheidend für das Glücklich-Sein ist, dass wir die Güter in rechter Weise besitzen. „Nicht in Besitz und Verfügung liegt das Glück, sondern in dem, wozu solches uns verhilft. Es ist eine alte Einsicht, dass das, was für den Menschen das Wesentliche ist, überhaupt nicht so sehr in den äußeren Dingen liegt, die wir anzuhäufen vermögen. Für die Frage nach dem Glück bedeutet dies ganz konkret: Was immer wir uns erarbeiten und beschaffen, um damit und daraus zu leben, entscheidend bleibt, worin das ermöglichte Leben selbst dann besteht“ (Hommes, 242f.).

Diese Erkenntnis wird im Märchen der Brüder Grimm vom „Hans im Glück“ anschaulich beschrieben. Der „gold-reiche“

Hans gelangt zu seinem Glück, indem er sich in einer etwas einfältigen Weise Stück für Stück von seinem materiellen Besitz trennt, der ihn immer wieder behindert. Zum Schluss hat Hans nichts mehr und dankt Gott unter Tränen, dass er ihn auf eine so gute Art, ohne dass er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hat, die ihm allein noch hinderlich waren. „So glücklich wie ich“, ruft er, „gibt es keinen Menschen unter der Sonne.“

Wenn ich die Fülle des eigentlichen Glücks empfangen will, muss ich zuerst leer werden von allem Unwesentlichen, was mich ausfüllt. Dieses Loslassen und Leerwerden sind zwei wichtige Voraussetzungen für das Empfangen. Laotse drückt diesen Gedanken so aus:

„Aus leerem Ton formt man Gefäße,

aber die Leere in ihnen

ermöglicht die Fülle der Krüge.

Aus Holz zimmert man Türen und Fenster,

aber die Leere in ihnen

macht das Haus bewohnbar.

So ist das Sichtbare zwar von Nutzen;

aber das Wesentliche bleibt unsichtbar.“

Dieses Geheimnis der Leere und Fülle wird in der Natur, im Kreislauf des Wachsens, sichtbar: Vom Säen, Wachsen und Reifen im Frühling und Sommer bis zur Ernte im Herbst und zum Absterben im Winter. Dasselbe erfährt der Mensch in seiner Lebensgeschichte und in seinem Sterben. Im Tod müssen wir Menschen alles lassen, was unser irdisches Glück und Wohlbefinden ausmacht. Ein Sprichwort sagt: „Das Totenhemd hat keine Taschen.“ Für gläubige Menschen ist das Loslassen und Leerwerden im Tod kein hoffnungsloses Geschehen. Es ist die Voraussetzung für das Empfangen des ewigen Lebens, des Glücks in der Glückseligkeit bei Gott. Diesen geistlichen Prozess schildert eindrücklich die Bergpredigt in den Seligpreisungen (Mt 5,3 ff.). Im Hinblick auf ein glückliches Leben geht es letztlich nicht so sehr darum, wie viel oder wenig wir zum Leben haben – solange ein Existenzminimum gesichert ist –, sondern um die rechte innere Einstellung und Ausrichtung unseres Lebens, dass wir die richtigen Schritte auf dem Weg zu einem geglückten Leben tun.

Der Meister wird von seinen Schülern gefragt: „Du hast so viel zu tun und bist meist sehr beschäftigt. Wie kannst du dabei glücklich sein und zu dir selbst kommen?“

Der Meister antwortet: „Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich sitze, dann sitze ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, das macht mich glücklich.“

Die Schüler sagen: „Das machen wir doch auch.“

Der Meister: „Nein, das tut ihr nicht. Denn wenn ihr steht, dann geht ihr schon, wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon auf, wenn ihr geht, dann lauft ihr schon und wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel“ (Verfasser unbekannt).

Darum lebe im Augenblick und nicht in der Vergangenheit und Zukunft (Watzka, 201ff.). Wie oft leben wir lange Zeit mit einem Ärger, einer Wut im Bauch, mit einem Groll, mit Schuldgefühlen oder Enttäuschungen, die aus der Vergangenheit herrühren, und können sie nicht lassen und verabschieden. Dann bestimmen sie auch unsere Gegenwart.

Darum lebe im Augenblick, verkoste und genieße ihn, „carpe diem“.

Kierkegaard drückt diese Glücksdimension sehr konkret aus, wenn er schreibt:

„Was macht einen Menschen groß, zum Wunder der Schöpfung, wohlgefällig in den Augen Gottes?

Was macht einen Menschen stark, stärker als die ganze Welt, was macht ihn schwach, schwächer als ein Kind?

Was macht einen Menschen hart, härter als den Fels, was macht ihn weich, weicher als Wachs?

Es ist die Liebe!“

(Kierkegaard, 1957)

Wahrscheinlich lässt sich das existentielle irdische Glück am besten im Gleichklang einer geordneten Selbstliebe, Nächstenliebe und Gottesliebe verwirklichen.

1 Buch der Liebe, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1971, Neuausgabe 2004.

„Der ist der glücklichste Mensch,der das Ende seines Lebens mit dem Anfangin Verbindung setzen kann“

(Johann Wolfgang von Goethe)

Die Suche nach einem

geglückten Leben in unterschiedlichen

Lebensphasen

1. Einführung

Eine Übung aus der geistlichen Tradition fasst die Frage nach einem geglückten Leben und seinem Sinn pointiert zusammen: „Stellen Sie sich vor, Ihr Leben geht in diesem Augenblick zu Ende. Schauen Sie auf Ihr Leben zurück, ziehen Sie Bilanz und formulieren Sie einen Leitsatz, der Inhalt und Sinn Ihres Lebens wesentlich zusammenfasst (eventuell als Grabinschrift).“ Manchen Menschen fällt es leichter, sich vorzustellen, wie ihre Freunde und gute Bekannte nach ihrem Tod den Sinn und Inhalt ihres Lebens in einem Leitsatz oder einer Grabinschrift ausdrücken würden.

Diese Übung nimmt bewusst die Frage nach einem geglückten Leben am Ende des Lebens in den Blick. Denn spätestens angesichts des Todes sind wir alle mit unserem realen Leben konfrontiert ohne die Möglichkeit der Veränderung. Dann können wir nichts anderes tun, als diese Frage wahrhaftig zu beantworten. Deshalb scheint es sinnvoll, nicht einfach „draufloszuleben“, sondern von Zeit zu Zeit innezuhalten, um nach dem Sinn und den Prioritäten des eigenen Lebens zu fragen und ihre Stimmigkeit zu überprüfen. Dieses Innehalten und Reflektieren des eigenen Lebens erfordert im Alltag eine bewusste Entscheidung, die oft von Ängsten und Verdrängungsmechanismen behindert wird. Denn wer möchte schon das eigene Leben mit den Defiziten, den Licht- und Schattenseiten gern anschauen und eventuell notwendige Konsequenzen ziehen? Deshalb leben manche Menschen, ohne viel nachzudenken, von einem Tag in den anderen, solange nur ihr Lebensgefühl einigermaßen stimmt und sich die Unzufriedenheit in Grenzen hält. Andere Menschen planen regelmäßig Zeiten der Besinnung und Reflexion ein, stellen sich den Fragen nach dem aktuellen Sinn ihres Lebens und nehmen notwendige Veränderungen vor, damit es glückt.

 

Die Frage nach dem eigenen Leben wird meist akut, wenn sich Menschen in einer Krise befinden, enttäuscht worden sind oder wenn ihr Leben von einer Krankheit, einem Verlust bedroht ist. Diese schlimmen Ereignisse wirken dann wie Ein und Unter-Brüche im normalen Lebenslauf. Sie lassen uns stolpern und damit notwendigerweise innehalten. Dann lautet die zugespitzte Frage nicht mehr: „Hat mein Leben einen Sinn?“, sondern: „Hat mein Leben überhaupt noch einen Sinn?“ Eine negative Antwort deutet sich hiermit schon an: „Nein, dieses sinnlose Leben lohnt sich nicht mehr!“ Das aus der aktuellen Krise geborene negative Lebensgefühl (meist eine unbewusste Wiederholung des negativen Grundgefühls aus der Kindheit) kann in eine präsuizidale Problematik ausufern, wenn der entstandene Lebensbruch nicht als Chance zu einem erneuerten Weiter-Leben gesehen wird.

Dabei ist die Erfahrung wichtig, dass der „Lebens-Boden“, auf dem wir im Alltag so selbstverständlich dahingehen, uns auch als Stolpernde oder gar Gefallene, als vom Schicksal Niedergestreckte trägt; dass wir nicht ins Bodenlose fallen, sondern auch in dieser lebensbedrohenden Situation letztlich spürbar vom Boden getragen sind. Für einen gläubigen Menschen gilt der Satz: „Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“ (Arno Pötzsch).

Erikson hat in seinen Forschungen (Erikson, 1973, 55–122) zur Identitätsfindung und Persönlichkeitsentwicklung darauf hingewiesen, dass in den Übergangsphasen die Frage nach einem glücklichen Leben eine besondere Bedeutung hat. In diesen entscheidenden Wachstumszeiten sind die Menschen auf eine intensivere und dichtere Weise für Lebensfragen offen und ansprechbar und auf Grund ihrer psychischen, physischen und spirituellen Verfasstheit auch besonders sensibel, verletzlich und formbar.

2. Die Bedeutung der Kindheit für ein geglücktes Leben

Schon seit Menschengedenken wird das Leben in Bildern und Symbolen beschrieben. Diese Bilder, sei es der Lebensweg, der Lebensstrom oder der Lebensbaum, zeichnen das Leben als ein dynamisches, bewegtes, wachsendes und vielfältiges Geschehen, das von einem Anfang zu einem Ende führt, von der Zeugung bis zum Tod.

Dieses Kapitel will ein wichtiges Ergebnis der prä- und postnatalen Forschung und der Entwicklungspsychologie in Erinnerung rufen: Die ersten Jahre bestimmen von der Zeugung an das ganze Leben des Menschen entscheidend mit. In der vor- und nachgeburtlichen Zeit bis etwa zum Schulalter entstehen im Kleinkind wichtige Lebenseinstellungen durch positive und negative Schlüsselerfahrungen, die das spätere Leben stark beeinflussen. Diese frühe Lebensprägung ist nicht zuletzt dadurch so wirkmächtig, dass sie sich zum großen Teil im Unbewussten ereignet und vom Kleinkind nicht reflektiert werden kann. Sowohl die positiven als auch die negativen Elemente dieses unbewussten Lebenspotentials bilden einen dynamischen Kern unserer Persönlichkeit, der unseren Lebenszyklus ganzheitlich durchformt.

Der Hirnforscher Gerhard Roth gibt in seinem Artikel „Wie das Gehirn die Seele formt. Gene, vorgeburtliches Erleben und die Erfahrungen mit Bindungen und mit Stress in der frühen Kindheit prägen das Gehirn – und bestimmen, ob jemand psychisch krank wird“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Überblick über den derzeitigen Ergebnisstand der Psycho-Neurobiologie. Roth weist auf die interdisziplinäre Forschung der prä- und perinatalen Entwicklungsphase des Menschen hin: „Seit einigen Jahren gibt es bildgebende Methoden wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (MRT), die es erlauben, beim Menschen Korrelate des Entstehens psychischer Erkrankungen und der Wirkung psychotherapeutischer Methoden innerhalb bestimmter Nachweisgrenzen zu untersuchen. Hinzu kommt neuerdings eine große Zahl an neuropharmakologischen und neurogenetischen Untersuchungen, die sich als unerlässlich für die oft schwierige Deutung der Ergebnisse der bildgebenden Verfahren erwiesen haben.“

Für Roth steht fest, „dass alles normale und krankhafte seelische Geschehen untrennbar an Hirnprozesse gebunden ist und dass sich Psyche und Persönlichkeit des Menschen in strengem Zusammenhang mit der Entwicklung seines Gehirns entwickeln, genauer: des sogenannten limbischen Systems. Zugleich steht aber auch fest, dass das Gehirn zwar der unmittelbare ‚Produzent‘ des Psychischen ist, als solcher aber zugleich der Ort, an dem ganz unterschiedliche Faktoren aufeinandertreffen. Das Gehirn verarbeitet diese Einflüsse und setzt sie in Zustände psychischen Erlebens und in Verhalten um. Zu diesen Grundfaktoren gehören erstens Gene im engeren Sinne, als DNA-Abschnitte, die für die Bildung von Proteinen notwendig sind und auf klassische Weise vererbt werden. Allerdings gibt es weder für einzelne Persönlichkeitsmerkmale noch für psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depression, Zwangserkrankungen oder Schizophrenie einzelne Gene, sondern stets eine Vielzahl von Genen. Ein zweiter Faktor sind die Besonderheiten der Aktivierung dieser Gene, auch ‚Epigenetik‘ genannt, die ihrerseits teils vererbt, teils über Umwelteinflüsse modifiziert werden. So kann die Aktivierung von Genen, die etwas mit der Entwicklung des Stressverarbeitungssystems im Gehirn des Kindes zu tun haben, bereits vorgeburtlich durch bestimmte Prozesse im Gehirn der Mutter beeinflusst werden. Wurde die werdende Mutter während oder sogar schon vor der Schwangerschaft traumatisiert durch Misshandlung, Missbrauch, schwere Unfälle oder schmerzhafte Verluste von geliebten Personen, so finden sich in ihrem Gehirn in stark erhöhtem Maße Stresshormone (z.B. Cortisol), die dann über die Blutbahn auf das Gehirn des ungeborenen Kindes einwirken und die dort stattfindende Entwicklung des Stressverarbeitungssystems negativ beeinflussen können. Für das Kind erhöhen derartige vorgeburtliche Einflüsse deutlich das Risiko späterer psychischer Erkrankungen, während eine Schwangerschaft unter gesunden Bedingungen eine starke Widerstandskraft (‚Resilienz‘) zur Folge hat“ (Roth, FAZ 2015).

Diese Forschungsergebnisse sind auch für die religiöse Entwicklung des Menschen relevant.

Wenn wir den theologischen Grundsatz „gratia supponit et perficit naturam“ (= die Gnade setzt die Natur voraus und vollendet sie) ernst nehmen, dann laufen Gnade und Natur im Leben des Menschen nicht beziehungslos nebeneinanderher. Sie stehen vielmehr in einer ständigen Verbindung, sind ineinander verflochten und wirken aufeinander. So gibt es aus der Sicht des christlichen Glaubens nicht eine eigene natürliche Lebensgeschichte und daneben eine gnadenhafte Glaubensgeschichte, da die Gnade als Zuwendung Gottes von Beginn des Lebens an mit der Natur verbunden ist und in ihr wirkt. Umgekehrt wirken sich auch die „natürlichen“, biologischen und psychischen Schlüsselerfahrungen auf das religiöse Leben in seiner Vielfalt aus, z.B. bei den Wertvorstellungen, der Sinnfrage oder bei der Entwicklung des Gottesbildes. Das unbewusste Potential, aus dem die Grundmuster von Leben in den ersten Jahren gebildet werden, steht vielen Menschen nicht zur bewussten Verfügung. So möchte ich im Folgenden auf wichtige Elemente hinweisen, die nach meiner Erfahrung für Menschen in ihrer religiösen Identitätsfindung prägend und für ihr ganzes Leben bedeutsam sind.

Dabei stütze ich mich neben den Erfahrungen aus zahlreichen Einzelgesprächen und über 190 pastoraltherapeutischen Kursen auf mehr als 1000 Lebensskripts, die Frauen und Männer im Alter von 28 bis 70 Jahren erstellt und durchgearbeitet haben.

Wir haben gesehen, dass das menschliche Leben ganzheitlich betrachtet mit dem Augenblick der Zeugung beginnt und mit dem leiblichen Tod endet. Zwischen diesen beiden Polen von Zeugung und Tod ereignet sich der Lebensprozess, in dem die Identitätsfindung der Einzelnen vor dem Hintergrund ihrer Sozialisation eine wichtige Rolle spielt. Die heutige Vorrangstellung der Identitätsfrage ergibt sich u. a. aus dem zunehmenden Einfluss der Gesellschaft auf das Leben des Einzelnen und dem daraus entstehenden Wunsch nach mehr individueller Freiheit und Selbstverwirklichung.

Die afrikanische Geschichte von der „Lebensmelodie“ beschreibt auf ihre Weise diesen Lebensprozess:

„Es gibt in Ostafrika einen Stamm, in dem die Kunst der Liebe und Nähe schon vor der Geburt eines Menschen gepflegt wird. In diesem Stamm gilt als Geburtstag eines Kindes nicht der Tag seines physischen Geborenwerdens oder seiner Empfängnis, wie das bei anderen Dorfkulturen der Fall ist. Als Geburtsdatum gilt vielmehr der Augenblick, an dem die Mutter zum ersten Mal an ihr künftiges Kind denkt. Wird sich die Mutter ihres Wunsches bewusst, mit einem bestimmten Vater ein Kind zu zeugen, so geht sie abseits und setzt sich allein unter einen Baum.

Dort bleibt sie sitzen und lauscht so lange, bis sie das Lied des Kindes zu hören vermag, dessen Geburt sie erhofft. Hat sie dieses Lied vernommen, so kehrt sie in ihr Dorf zurück und lehrt es den Vater, damit sie während des Liebesaktes das Lied singen und das Kind zum Mitsingen einladen können. Ist das Kind empfangen, so singt sie ihm das Lied immer wieder vor, solange sie es in ihrem Schoß trägt. Außerdem bringt sie das Lied den alten Frauen und Hebammen des Dorfes bei, damit diese dem Kind während der ganzen Zeit der Wehen und im wunderbaren Augenblick seiner Geburt das Lied vorsingen können. Nach der Geburt lernen alle Dorfbewohner das Lied und singen es dem Kind vor, wenn es hinfällt oder sich verletzt. Wenn das Kind erwachsen ist und heiraten will, wird das Lied zu seiner Hochzeit gesungen. Und an seinem Lebensende versammeln sich seine Lieben um das Sterbebett und singen ihm sein Lied zum letzten Mal vor. Sie glauben, dass diese Melodie den Menschen hinüberbegleitet in sein neues Leben und dass Gott diesen Menschen mit seiner Melodie im neuen Leben willkommen heißt“ (nach: Sonbonfu E. Somé u. a.). Phil Bosmans ergänzt: „Das Glück eines Kindes beginnt im Herzen der Mutter.“

Für die frühkindliche Persönlichkeitsentwicklung bietet das Phasenmodell von E. H. Erikson immer noch eine gute Grundlage. „Mit dem Namen Erikson ist eine Theorie des Lebenslaufs verknüpft, die eine gesetzmäßige (epigenetische) Abfolge von Phasen unterstellt. Danach hat alles, was wächst, einen Grundplan, der eine systematische Bereitschaft zur Entfaltung der einzelnen Aspekte enthält, die schließlich zu einem Ganzen des Lebenslaufs werden“ (Fend, 403). Dieses Phasenmodell, das die Ich-Entwicklung nach psychoanalytischem Grundmuster in ihrem sozialen Kontext erfasst, bezieht auch die religiöse Dimension mit ein.

In seinem Acht-Phasen-Modell menschlicher Entwicklung berücksichtigt Erikson also nicht nur den individuellen Aspekt der Lebensphasen, die durch positive Krisen weitergeführt werden. Er verweist auch immer wieder auf die soziokulturelle Verschränkung der persönlichen Identitätsfindung, die in ihren dynamischen Entwicklungsphasen an das Symbol des Lebensweges oder des Lebensbaumes erinnert. Dabei ist einschränkend zu bemerken, dass Erikson die Erkenntnisse der pränatalen Psychologie kaum berücksichtigt. Die Phasen Jugendalter, Erwachsenenalter und Alter ergänze ich aus den neueren Forschungsergebnissen und meinen eigenen pastoraltherapeutischen Erfahrungen.

Schon 1987 stellt A. Langenmayr in der empirischen Untersuchung „Lebenslaufanalyse“ fest:

1. „Der Lebenslauf zeigt sich als Abfolge systematisch aufeinander aufbauender und zueinander in Beziehung stehender Ereignisse bzw. Dauerkonstellationen. Dabei stehen gegenwärtige Ereignisse unabhängig von Alterseffekten, Geschlecht, Sozialschicht und regionalen Einflüssen in vielfältigem und deutlichem Zusammenhang zu frühkindlichen Lebenslaufdaten. Diese Ergebnisse widersprechen somit allen theoretischen Vorstellungen, die die frühkindlichen Erfahrungen gegenüber der aktuellen Umwelt für vernachlässigbar halten (…)

2. Die Beziehung zwischen frühkindlichen und späteren Lebenslaufdaten beruht darauf, dass bereits in der frühen Kindheit Einstellungen und Motivationen erworben werden, die sich dauerhaft wirksam durch das weitere Leben ziehen. Sie beeinflussen weitere Entscheidungen und Planungen, z.B. die Partnerwahl (…)“

Abschließend heißt es: „Insgesamt können wir festhalten: Der Lebenslauf ist keine zufällige Folge von Ereignissen, die allenfalls durch sachliche Beziehungen miteinander verknüpft sind (wie z.B. Wohnungswechsel und Ortswechsel), sondern er ist von Anfang an Erwerb grundlegender Lebenseinstellungen, aus denen die weiteren Abläufe sich nicht mehr zufällig ergeben“ (Langenmayr, 116 ff.). Die neueren Forschungsergebnisse der pränatalen und perinatalen Psychologie bestätigen diese Untersuchungen.

Exkurs: Neuere Ergebnisse der pränatalen und perinatalen Psychologie

 

Rien Verdult gibt einen guten Überblick über die Ergebnisse der pränatalen und perinatalen Psychologie: „Wir brauchen ein neues Paradigma für ein besseres Verständnis der frühen pränatalen Entwicklung des Babys. Meistens wird mit ‚früh‘ das erste Lebensjahr angedeutet; für mich deutet der Begriff ‚frühe Entwicklung‘ auf die embryonale, fötale und frühkindliche psychische Entwicklung des Kindes, bezieht sich also auf den Zeitraum von der Zeugung bis zum Ende des ersten Lebensjahres … Sowohl in der Embryologie als auch in der Entwicklungspsychologie wird das Differenzierungsprinzip formuliert. Im allgemeinen Sinn kann man sagen: Differenzierung bedeutet, dass frühere Erfahrungen grundlegender sind als darauf folgende Erfahrungen. Van der Wal meint, dass das Ganze des Organismus das Primäre ist.“ Der Prozess der Differenzierung bedeutet dann „die Ausgliederung verfeinerter morphologischer und funktionaler Strukturen aus ungegliederten, einfacheren Vorformen. Ein Embryo sei nicht die Zusammenfassung oder das Resultat des Entwicklungsprozesses; das Ganze, der Organismus selbst ist primär, ist zuerst.“ Verdult bezieht sich auf den Embryologen Erich Blechschmidt, der über die Differenzierung im Entwicklungsprozess sagt: „Was jeden lebenden Organismus sowie den menschlichen Embryo anbetrifft, ist das Gesetz der Individualität gültig. Die äußerliche Form des Aussehens verändert sich im Laufe der Zeit, aber das Wesen selbst, innerhalb dieser äußeren Form, bleibt unverändert und aktiv“ (Verdult, 248). Verdult folgert: „Eine befruchtete menschliche Eizelle ist nicht nur eine Zelle, sie stellt einen ganzen Organismus dar: es ist die Äußerung des Organismus ‚Mensch‘, in diesem Moment, unter gerade den Umständen und den Umweltbedingungen“ (Verdult, 248f.).

Die Embryologen Lake und Emerson haben vor allem das erste Trimester der Schwangerschaft untersucht. Sie kommen zu dem Ergebnis, „dass Ungeborene bewusste und wahrnehmende Wesen sind, dass Ereignisse im Leben der Ungeborenen erinnert werden können, dass diese Erinnerungen grundlegend sind, dass pränatale Babys elterliche Erfahrungen und Gefühle inkorporieren, dass pränatale Erfahrungen dramatische und symptomatische Auswirkungen haben können, dass pränatale und Geburtstraumata sich beeinflussen und schließlich, dass pränatale und perinatale Traumata die Bindungsfähigkeit behindern. Bei Stress und Trauma können Zellen sich schließen, sich abgrenzen vor toxischen Informationen, sich zusammenziehen, sich von der Gefahr abwenden (…). Diese embryonalen Imprints führen zu psychobiologischen Mustern, die die Vorläufer von Bindungsmustern sind. Die Imprints wirken auf das ganze Dasein des Embryos. In seinen Zellen finden diese Imprints ihren psychobiologischen Niederschlag. (…) Die Imprints werden in allen Zellen gespeichert, z.B. in Stammzellen, die sich differenzieren in alle möglichen Körperzellen, worunter natürlich auch die Neuronen fallen. So programmieren sehr frühe embryonale Erfahrungen mit Angst und Stress biologisch die Defensivstrategien, welche Interaktionen zwischen Gehirnkernen des emotionalen und sozialen Gehirns Gestalt annehmen“ (Verdult, 249).

Verdult fasst dann die Ergebnisse der pränatalen, psychobiologischen Forschung zusammen:

„Die pränatale Entwicklung des individuellen Gehirns ist ein Abbild der evolutionären Entwicklung des menschlichen Gehirns (Maclean, 1990). Die Kräfte, die unser Verhalten bestimmen, sind größtenteils in drei verschiedenen Gehirnsystemen lokalisiert: Dem Kortex (verarbeitet das Bewusstsein), dem limbischen System (Sitz der Gefühle), und dem Gehirnstamm (verarbeitet Instinkte und Überlebensfunktionen). (…) Frühe fötale Erfahrungen, wie auch Geburtserfahrungen und Kleinkinderfahrungen sind im limbischen System eingeprägt, embryonale und fötale Erfahrungen werden den bedeutsamsten Teil des Nervensystems zu dieser Zeit prägen, nämlich den Gehirnstamm. Pränatale und frühe Kindheitstraumata beeinflussen den Gehirnstamm und das limbische System. Mit anderen Worten: Der Gehirnstamm und einige Teile des limbischen Systems sind pränatal programmiert und die biologischen Imprints bestimmen die Richtung und Bandbreite dieser Programmierung“ (Verdult, 250f.).

Nach diesem Exkurs in die Hirnforschung kommen wir zurück zu Erikson. Erikson steht der Freud’schen Theorie zwar kritisch gegenüber, er geht aber dennoch von Freuds Entdeckung aus, „dass der neurotische Konflikt inhaltlich nicht sehr verschieden ist von den Konflikten, die jeder Mensch während seiner Kindheit bestehen muss, und dass jeder Erwachsene diese Konflikte in den dunklen Winkeln seiner Persönlichkeit mit sich herumschleppt“ (Erikson, 1973, 56).

Beim „Wachstum einer gesunden Persönlichkeit“ erinnert Erikson an das epigenetische Prinzip, „das vom Wachstum der Organismen ‚in utero‘ abgeleitet ist“. Danach hat alles, was wächst, einen Grundplan in sich, dem die einzelnen Teile folgen, bis der Mensch zu einem im Ganzen funktionierenden Leben herangewachsen ist (Erikson, 1973, 57f.)

Erikson verweist ebenfalls auf die große Bedeutung der ersten Lebensjahre für die weitere Entwicklung des Menschen. Er betont aber gleichzeitig, dass der Mensch durch diese frühkindlichen Eindrücke und Anlagen nicht voll determiniert ist, sondern dass ihm bei aller Prägung und Weichenstellung ein bewusster Freiraum bleibt, der Änderungen und Korrekturen lebenslang möglich macht.

Wir gehen also mit Erikson von der heute interdisziplinär bestätigten Tatsache aus, dass die ersten Lebensjahre einen sehr wichtigen Einfluss auf das ganze Leben des Menschen ausüben (Janus, 2000; Gross, 2004; Hildebrandt, 2015).

Inzwischen haben wir Beweise dafür, dass wir die frühesten Erlebnisse insofern wiedererleben können (und das auch tun), als wir zu dem erlebten Gefühlszustand als Neugeborene zurückkehren können (Harris, 20ff.). Das heißt: „Was ein Mensch erlebt, wird in seinem Gehirn und dem Nervengewebe aufgezeichnet, und zwar alles, was er in seiner Kindheit erfährt, alles was er von seinen Eltern übernommen hat, seine Wahrnehmung von Ereignissen, seine Gefühle, die mit diesen Ereignissen zusammenhängen, und das veränderte Gesicht seiner Erinnerungen. Diese Aufzeichnungen werden wie auf einem Magnetbildband aufbewahrt. Sie können wieder abgespielt werden, das Ereignis lässt sich zurückholen und sogar neu erleben“ (James/Jongward, 34; Janus, 2004; Hildebrandt, 2012).

Der Psychoanalytiker König meint dazu: „Wie hoch der Anteil der Anlagen und wie hoch der Anteil der Umwelt an der Entstehung der Charakterstruktur eines Menschen ist, lässt sich heute noch schwer sagen. Wahrscheinlich spielen die Anlagen eine größere Rolle, als Psychoanalytiker bisher angenommen haben … Es vererben sich nicht nur Intelligenz und körperliche Konstitution, sondern auch die Anlagen zur Entwicklung von Erlebens- und Verhaltensweisen. Der Mensch kommt also nicht als unbeschriebenes Blatt zur Welt. Man könnte ihn mit einem Computer vergleichen, der unterschiedlich programmiert werden kann, selbst aber in seinem Betriebssystem Grundstrukturen mitbringt, die festlegen, wie er auf bestimmte Programmierbefehle reagieren wird“ (König, 2010, 12f.)

2.1. Die pränatale Phase als Vorbereitung auf ein geglücktes Leben

Wenn wir von einer ganzheitlichen Sicht des menschlichen Lebens ausgehen, dann beginnt die „Menschwerdung“ („Hominisation“ bei Teilhard de Chardin) im Augenblick der Zeugung. Wird die weibliche Eizelle durch die männliche Samenzelle, die in sie eindringt, befruchtet, beginnt in diesem Moment das Leben eines Menschen. Diese Grundthese wird durch die Forschungsergebnisse der prä- und perinatalen Psychologie bestätigt, die Hildebrandt so zusammenfasst: „Auch wenn es im Detail noch offene Fragen gibt, sind die grundsätzlichen Mechanismen der Informationsverarbeitung in der intrauterinen Lebenszeit und der Neugeborenenperiode in der Fachwelt anerkannt: Das Kind ist vom Anbeginn seines Lebens ein fühlendes soziales Wesen, das in der frühen Lebenszeit Erfahrungen macht, die seine spätere psychosoziale Entwicklung beeinflussen und im künftigen Leben Blockaden, Vermeidungen und Re-Inszenierungen auslösen können.“ Es bleibt die Frage, welche Bedeutung die frühen Erfahrungen im Vergleich zu späteren Prägungen haben. „Ist ein schwerer Verkehrsunfall im Erwachsenenalter bedeutsamer als eine katastrophale Geburtserfahrung?“ (Hildebrandt, 2015, 12).