Loe raamatut: «Weihnachten»
Karl-Heinz Göttert
Weihnachten
Biographie eines Festes
Reclam
2020, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Durchgesehene Ausgabe
Covergestaltung: Kuzin & Kolling, Büro für Gestaltung
Coverabbildung: © 123rf.com / Olga Korneeva
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961769-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011369-1
Inhalt
Prolog
Christi Geburt in den Evangelien
Die Erfindung des Weihnachtsfestes
Der Weihnachtsfestkreis im Mittelalter
Weihnachten auf dem Weg zum Familien- und Schenkfest
Weihnachten zwischen Wandel und Bewahrung
Epilog
Dank
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Über den Autor
Prolog
Die Geschichte von Weihnachten ist die Geschichte des Christentums, auch wenn das Christentum mit Weihnachten von Anfang an größte Schwierigkeiten hatte.
Umso erstaunlicher wirkt der Triumph dieses Festes, das mittlerweile weltweite Ausstrahlung besitzt und auch da seine Spuren hinterlässt, wo das Christentum kaum vertreten ist, in China zum Beispiel, wo es sogar ein Wort für den »Heiligen Abend« gibt – Shéngdán ping’an yé. Ja, es sieht so aus, dass Weihnachten in dem Maße zum Fest der Feste aufstieg, als es seinen ursprünglichen Inhalt verlor: nämlich als Feier der Geburt des Erlösers, des Erlösers von einer Sünde, die die Menschheit mit dem Verlust des Paradieses bezahlte. Ausgerechnet diese Säkularisierung des Weihnachtsfestes, die Befreiung von den theologischen Konstrukten, hat es erst richtig groß gemacht. Das veränderte seinen Charakter hin zu einem Familien- und Schenkfest, womit wiederum neue und andersartige Probleme verbunden sind.
Die offiziellen Kirchen haben sich mit dieser Sinnentleerung nicht abfinden wollen. Besonders eifrige Mitglieder verbrannten im Dezember 1951 vor der Kathedrale von Dijon einen Weihnachtsmann als Symbol des Abwegs von den »echten« Wurzeln, um stattdessen den heiligen Nikolaus zu würdigen. 2002 wurde etwas weniger martialisch vom katholischen Bonifatiuswerk die Aktion »Weihnachtsmannfreie Zone« im Stadtbild ins Leben gerufen.
Dieses Buch versucht, diesen langen Weg wie in einer Biographie nachzuzeichnen: mit einer Geschichte des Entstehens, Wachsens und Sich-immer-neu-Erfindens, nicht jedoch mit der Suche nach dem Wesen oder dem »wahren« Sinn von Weihnachten. Um das Wichtigste kurz abzustecken: Es geht im Folgenden natürlich auch um die biblischen und theologischen Grundlagen, aber es geht nicht um Glaubensfragen. Ich betrachte die Geschichte von Weihnachten als Historiker, der einem wesentlichen Stück unserer europäischen Kultur auf die Spur kommen möchte. Deshalb stehen die Quellen und Zeugnisse im Vordergrund, auf denen dieses Fest beruht, wie auch die Frage, inwiefern wir uns auf diese verlassen können. Es ist einfach spannend zu sehen, wie Lukas und Matthäus die Geburtsgeschichte als eine der »Großerzählungen« zu den für das Christentum wichtigen Themen Liebe und Frieden konstruiert haben, wie sie sich in historischen und mythischen Überlieferungen zurechtzufinden suchten und selbst am Mythos von Weihnachten mitwirkten – nicht ohne Widersprüche und deshalb auch ohne ein wirklich klares Gesamtbild.
Eine besondere Überraschung beim Gang durch die Geschichte wird für viele darin liegen, dass die uns heute so vertraute Feier am 24./25. Dezember recht spät entstand, und zwar um die 400 Jahre nach den in der Bibel geschilderten Ereignissen. Was uns heute so selbstverständlich erscheint, die Feier der Geburt Jesu, war es erst einmal jahrhundertelang nicht. Trotz einer intensiven Forschung ist die Entstehung von Weihnachten bis heute umstritten. Wir werden sehen, dass die bekannteste These – Weihnachten habe ein heidnisches (Vorgänger-)Fest des Sonnengottes abgelöst bzw. abgewandelt, wie es etwa bei der Ersetzung von Tempeln durch Kirchen geschah oder wenn heidnische Bräuche einen christlichen Sinn erhielten – kaum haltbar ist. Noch weniger überzeugt die Berufung auf Autoren des 4. Jahrhunderts, die den Geburtstag Jesu für diesen Termin einfach errechnen zu können glaubten. Und dann gibt es auch noch die Theorie von Weihnachten als »polemischem« Fest, als Fest gegen »Irrlehren«, bei denen sich die frühen Kirchenvertreter in unsägliche Spitzfindigkeiten hinsichtlich der Person ihres Gründers verbissen. So war die Geschichte von Stall und Krippe willkommen, um die menschliche Natur gegen die Behauptung einer lediglich göttlichen abzugrenzen – übrigens unter besonderer Berücksichtigung der Windeln, die schon Lukas ins Spiel brachte und die in keiner Festpredigt der Bischöfe oder Päpste fehlen.
Aber es gibt auch eine viel weniger problembeladene Seite von Weihnachten als diese angedeuteten Querelen in der frühen Kirchengeschichte, auf die wir stoßen werden. In ruhigeren Zeiten hat die Kirche das Jahr in einen Festkreis gekleidet, in dem Weihnachten (eingeleitet durch den Advent, ausklingend mit Epiphanias bzw. Maria Lichtmess) neben Ostern einen weiteren Höhepunkt darstellte. An dieser liturgischen Ausgestaltung im Mittelalter nahmen die Künste teil, die dem Fest mit Malerei und Skulptur, mit Musik und Schauspiel einen prunkvollen Rahmen gaben. Man denke nur an die Heerscharen von Mariengestalten, vor allem in Regionen, wo die Jungfrauen bzw. Bräute in Mittelalter und früher Neuzeit keinen Schleier oder sonstigen Kopfschmuck trugen und Maria entsprechend mit prachtvoll offenem Haar erscheint – provozierend nicht des Haars, sondern der »mütterlichen« Jungfrau wegen. Genauso ist der gregorianische Choral zu würdigen, der in den Gottesdiensten jedes vorgetragene Wort als Gesang ausformte. Schließlich gilt es, über Theaterstücke zu berichten, die die Liturgie spielerisch einer breiten Menge an Gläubigen nahebrachten, die mit den lateinischen Texten und komplizierten theologischen Fragen überfordert war. Es ist keine Frage: Weihnachten hat die europäische Kultur nachhaltig inspiriert, auch wenn sich viele Relikte heute nur noch in Museen finden.
Wirklich einfach aber war das Fest nie. Schon im tief »gläubigen« Mittelalter geht aus dem Fest der Unschuldigen Kinder mitten im Weihnachtsfestkreis ein eigenartiges »Kinderbischofsfest« hervor, bei dem das soziale Oben und Unten verkehrt wird – mit der Folge von Ausschreitungen, die schließlich zu Verboten führen. Man hat dies in Verbindung zu den Saturnalien und den Neujahrsfeiern in römischen Zeiten gebracht. Aber es ist Vorsicht geboten. Das Kinderbischofsfest stellt eher eine Erweiterung der Religiosität ins Spielerische dar, die sich auch in den Theaterspielen dieser Zeit zeigt. Als dann im 16. Jahrhundert die Reformatoren einschritten, ging es nicht mehr um solche Nebenerscheinungen, sondern um die gesamte religiöse Ausformung des Glaubens, in deren Folge unter der Herrschaft der Puritaner in England für kurze Zeit das Weihnachtsfest als »abergläubischstes« aller Feste abgeschafft wurde. Mehr als ein Jahrhundert später erwuchs daraus in den Vereinigten Staaten von Amerika ein neuer »Kampf« um Weihnachten, den letztlich die Erfindung einer neuen Figur schlichtete: Santa Claus, der »Weihnachtsmann«, mit dem einige Zeitgenossen heutzutage allerdings eher den Anfang vom Ende eines christlich geprägten Weihnachtsfestes verbinden – siehe die Aktivisten in Dijon und des katholischen Bonifatiuswerks.
Dabei war noch gar nicht die Rede davon, dass neben der kirchlichen Liturgie und Theologie auch eine ganz andere Tradition prägend wurde: ein Brauchtum, das die religiösen Probleme links liegen ließ und sich eine eigene Welt des Feierns schuf, in der ein Weihnachtsbaum und eine Krippe wichtiger wurden als jede noch so gute Predigt. Das Bürgertum des 18. und des 19. Jahrhunderts bewahrte sich das Weihnachtsfest nach Aufklärung und teilweise rigider Entkirchlichung weiter als Familien- und Geschenkfest, das eingefleischte Agnostiker ebenso wie assimilierte jüdische Familien durchaus begeistert mitfeierten. Andererseits fehlt es nicht an Vereinnahmungen durch die Politik, die das Fest entweder – wie im Ersten Weltkrieg – mit seiner Friedensbotschaft für ihre Zwecke instrumentalisierte oder es – wie die Nationalsozialisten – durch angeblich »germanische« Vorläufer zu ersetzen suchte. Natürlich musste unter den Bedingungen des Kapitalismus auch dieses Fest in Folklorisierung und Kommerzialisierung münden. Aber es taucht aus den scheinbar alles verschlingenden Wogen des bloß Gemütvollen oder Kitschigen immer wieder auf und wird als Inspirationsquelle ernst genommen.
Dafür sucht dieses Buch einen Beitrag zu leisten. Es versteht sich als eine Spurensuche entlang der Quellen und Überlieferung, als eine Einladung an Leserinnen und Leser, sich die entscheidenden Karrierestufen und -knicke des Weihnachtsfestes zu vergegenwärtigen. Niemand weiß, wie das Christentum zusammen mit den anderen Weltreligionen die fortschreitende Säkularisierung überleben wird. Was aber das Christentum der Welt an kultureller Ressource anbietet, kann gerade die »Biographie« von Weihnachten verdeutlichen. Sie ist dabei ganz nebenbei – ich blase einmal die Backen auf – eine der spannendsten Geschichten, die von dieser Kultur zu erzählen ist.
Christi Geburt in den Evangelien
Die Evangelien
Wer nach Christi Geburt fragt, muss zur Bibel greifen, genauer gesagt: zu den Evangelien des Neuen Testaments. Christlich Erzogene können die Autoren noch hersagen: Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Das sind sie, die vier Evangelisten, in alten Kirchen oft an den Kanzeln abgebildet, weil von dort schließlich das Evangelium verkündet wird. Es sind immer würdige Gestalten, die vergessen lassen, dass wir über sie wenig bis nichts wissen, auch nicht, ob gerade sie es waren, deren Texte wir lesen. Denn sie nennen sich nicht selbst mit Namen, die Zuschreibung stammt aus späteren Zeiten. Wobei wir es heute ohnehin nicht mehr mit Originalen zu tun haben. Dazu waren die damaligen Schreibstoffe zu schlecht. Papyri zerfallen leicht, schon die ältesten Zeugnisse sind Abschriften von Abschriften, von denen Reste aus dem 2. Jahrhundert stammen – zusammenhängende Darstellungen in Codexform gibt es erst seit dem 4. und 5. Jahrhundert. Diejenigen, die diese Texte aufzeichneten, hatten leider keine Ahnung, welche Bedeutung ihre Notizen bekommen sollten, dass sich Heerscharen von Interpreten einmal über jede Silbe hermachen würden. Und so bearbeiteten und ergänzten sie, nicht nach Gutdünken, aber nach den jeweiligen Umständen. Wenn man all die Varianten sammelt, übertrifft deren Umfang den der Texte.
Und dies ist nur die eine Schwierigkeit. Die nächste liegt in den Verfassern. Wie verändert auch immer ihre Botschaft die Zeiten überdauerte: Sie verfolgten mit dieser Botschaft einen Zweck. Sie wollten mit der Schilderung der Lebensgeschichte dieses »Gesalbten« (griech. christos) eine Wende in der Menschheitsgeschichte herbeiführen. Im Alten Testament war von Sündenschuld die Rede, und die Hoffnung auf einen Retter, den Messias, wurde geweckt. Die Botschaft der Evangelisten lautet, lax gesagt: Es hat funktioniert, der Retter ist da, man muss es nur glauben. Bekanntlich glaubten es die Juden selbst nicht. Umso wichtiger war der »Beweis«, der das Vertrauen wecken und sichern sollte. Die Evangelien sind Beglaubigungserzählungen. Jedes einzelne Ereignis ist Zeugnis der einigermaßen ungeheuerlichen Wahrheit, dass da vor ein paar Jahrzehnten Gottes Sohn in die Welt gekommen und Mensch geworden war. Jeder Evangelist wusste genau um die Schwierigkeit der Überzeugungsarbeit und malte die bislang überlieferte Geschichte aus, um sie glaubhaft zu machen.
Dabei spielen zwei Ereignisse eine überragende Rolle, wovon eines im Mittelpunkt dieses Buches steht: die Geburt Jesu durch eine Jungfrau sowie seine Auferstehung von den Toten nach der Kreuzigung, woraus schließlich die beiden kirchlichen Hochfeste Weihnachten und Ostern entstanden. Die junge Kirche hat zunächst ganz und gar auf Ostern, also die Auferstehung, gesetzt. An Jesus als Gottes Sohn und Erlöser zu glauben hieß: an die Auferstehung glauben. Der Apostel Paulus, der nicht zum engsten Kreis der Jünger gehörte, sondern nach anfänglicher Verfolgung der Christen erst später dazustieß, formuliert dies am klarsten. In einem seiner Briefe an die Gemeinde in Korinth (im 1. Korintherbrief, Kapitel 15, Vers 14; abgekürzt: 1 Kor 15,14) sagt er, ohne die Auferstehung sei »unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube«. Zur Geburt trägt Paulus nicht viel vor. Für ihn ist Jesus von einer »Frau« geboren, wobei er das griechische Wort für die verheiratete Frau benutzt, definitiv nicht »Jungfrau«. Im Römerbrief spricht er vom »Sohn, der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten« (Röm 1,3 f.). Und davon, »dass wir, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind« (Röm 6,3). Das war in den Jahren um 50 n. Chr., als Paulus im Zusammenhang der Missionsreisen durch Kleinasien sowie nach Griechenland und Zypern seine Briefe schrieb, die ältesten Zeugnisse des Christentums überhaupt, da Jesus selbst nichts Schriftliches hinterließ. Auch das früheste Evangelium, das des Markus, kennt in der Zeit vor 70 n. Chr. nur das leere Grab als Andeutung der Auferstehung, verliert kein Wort über die Geburt, sagt nichts zur Jungfrau.
Das änderte sich dann grundlegend. Beide Evangelien, die sich auf Markus stützen, das des Lukas und das des Matthäus, ungefähr gleichzeitig und unabhängig voneinander nach 70 n. Chr. entstanden, berichten ausführlich über die Geburt und stellen Maria als Jungfrau dar, womit die Gottessohnschaft von Jesus festgezurrt wird, ehe weitere Belege wie die Wunder bis hin zu Totenerweckungen und schließlich die Auferstehung hinzukommen. Wieder anders verhält es sich dann im letzten Evangelium, dem des Johannes, nach 90 n. Chr.: Hier ist Jesus der vor aller Zeit für seinen Auftrag der Erlösung bestimmte Sohn Gottes, der die Göttlichkeit in seinen Reden und Taten bezeugt – was die Taten betrifft, mit seiner Auferstehung von den Toten, aber ohne jungfräuliche Geburt. Die Evangelien unterscheiden sich also stark und widersprechen sich sogar in wesentlichen Punkten, wie wir noch näher sehen werden.
Weihnachten, darauf kommt es hier an, gibt es überhaupt nur in zwei von ihnen, die sich die Ereignisse gewissermaßen teilen: Lukas schreibt über die Geburt im Stall und den Auftritt der Hirten. Matthäus behandelt die Ankunft der »Magier« und die Flucht nach Ägypten vor dem Kindermord des Herodes. Aber die Geschehnisse greifen eben nicht nahtlos ineinander, sie passen im Gegenteil überhaupt nicht zusammen.
Denn Lukas lässt die Geburt in Betlehem stattfinden, nachdem Maria und Josef aufgrund der unter Augustus angeordneten Volkszählung aus dem weit entfernten Nazaret (wo der Engel Gabriel die Schwangerschaft angekündigt hatte) dorthin gewandert sind. Dann folgen nach mosaischem Gesetz die Beschneidung sieben Tage später sowie die »Darstellung« des Neugeborenen zusammen mit der »Reinigung« von Maria im Tempel zu Jerusalem nach 40 Tagen. Die Familie wohnt jedenfalls eine ganze Weile in Betlehem oder in direkter Nähe zu Jerusalem. Erst später kehrt Jesus zusammen mit der Familie in die alte Heimat Nazaret zurück. Bei Matthäus findet zwar ebenfalls die Geburt in Betlehem statt, in diesem Fall aber ganz ohne Volkszählung, weil die Familie dort schon immer wohnte, übrigens in einem Haus, nicht in einem Stall. Dann folgt die Huldigung durch die »Magier«, wonach Herodes den Mord an Jesus plant, dem die Familie mit ihrer schleunigen Flucht nach Ägypten zuvorkommt. Erst nach dem Tod von Herodes, der mittlerweile sämtliche Säuglinge in Betlehem umbringen ließ, kehrt die Familie zurück, aber nicht nach Betlehem oder Jerusalem, weil dort mittlerweile ein Sohn von Herodes regiert, der nicht minder gefährlich erscheint als sein Vater, sondern ins sicherere Nazaret, wovon zuvor nie die Rede war.
Warum dies nicht zusammenpasst, ist klar: Es handelt sich um jeweils eigene mythologische Konstruktionen. Nur machen die Evangelisten diesen mythologischen Charakter nicht deutlich, sondern schildern im Gegenteil alles so, als sei es tatsächlich geschehen. Vor allem Lukas benutzt den Begriff der »Ereignisse, die sich unter uns erfüllt haben« sowie deren Überlieferung durch diejenigen, »die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes« waren. »Ereignisse« also und »Augenzeugen« – nichts Erdachtes, auch nichts Mythologisches, in das Historisches »eingekleidet« wäre. So bezeugt es schon Markus in seinem Evangelium, dem sich Matthäus und Lukas eng anschlossen, weiter eine Sammlung von Jesusworten, die vermutlich nie schriftlich fixiert, sondern mündlich weitergegeben wurde. Noch im sicher nicht auf Petrus selbst zurückgehenden 2. Petrusbrief (wahrscheinlich zu Beginn des 2. Jahrhunderts geschrieben) liest man: »Denn wir sind nicht klug ausgedachten Geschichten gefolgt, als wir euch die machtvolle Ankunft unseres Herrn Jesus Christus kundtaten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe« (2 Petr 1,16).
Man muss sich zum besseren Verständnis die Situation in der Zeit um 80 n. Chr. vorstellen: Überall im Mittelmeerraum haben sich christliche Gemeinden gebildet, in denen Menschen an diesen Jesus als Erlöser glaubten, an die Botschaft von einem künftigen ewigen Leben dank seines Opfertodes. Es war jedoch wenig bekannt von dem Menschen Jesus, daher die schriftliche Fixierung der Tradition, die dann in Gottesdiensten nach dem Vorbild der jüdischen Synagogen vorgetragen werden konnte und nicht zuletzt der Werbung neuer Mitglieder diente. Eine ganze Reihe von Evangelien entstand, von denen die heutigen vier sich durchsetzten und kanonisiert wurden. Sie alle hatten dasselbe Problem: Beweise zu liefern für das, was normalerweise niemand glauben kann, weil es den Naturgesetzen widerspricht. Wobei damals die Bereitschaft zu einem solchen Glauben offenbar anders einzuschätzen ist als heute.
Dass man aber auch damals Probleme bei der Vermittlung sah, belegt etwas anderes: Tatsächlich beanspruchten alle Evangelisten neben der Augenzeugenschaft eine Art zweite Basis der Glaubwürdigkeit. Sie liegt in der Annahme, dass alle wichtigen Ereignisse im Alten Testament, also in den heiligen Schriften der Juden, »vorhergesagt« worden waren. Wichtige Passagen der Evangelien wie etwa die Passionsgeschichte lesen sich (schon bei Markus) wie aneinandergereihte Zitate aus den Propheten sowie den Psalmen. Wir werden dem bei der Weihnachtsgeschichte wiederbegegnen. Man kann sicher sagen, dass die damaligen Leser/Hörer in diesen Vorhersagen eine besonders starke Basis der Glaubwürdigkeit sahen, vielleicht sogar stärker als in der Berufung auf Augenzeugen. Von heute her gesehen kann man sich darüber nur wundern, denn sämtliche »Vorhersagen« sind äußerst vage, einige beruhen auf schlichter Fehlinterpretation. Den Musterfall dafür bietet die Jungfrauengeburt. Denn die Berufung auf den Propheten Jesaja erledigt sich für jeden Kenner des Hebräischen dadurch, dass im originalen Text das Wort almah steht, das nicht ›Jungfrau‹ bedeutet, sondern lediglich ›junge Frau‹.
Davon später mehr. Hier interessiert etwas anderes. Wenn es keine wirkliche Augenzeugenschaft gibt und die Voraussagen keine sind: Was besagt dies über die »Wahrheit« der Evangelien? Sind sie eben doch Fälschungen, wie es Kritiker seit der Aufklärung behauptet haben? In gewissem Sinne schon. Aber dies rechnet zu wenig mit den erzählerischen Möglichkeiten der damaligen Zeit, die den uns geläufigen Unterschied zwischen Wahrheit und Fiktion nicht machte, sondern an einem »Gesamtbild« oder einer »Gesamterzählung« arbeitete, die ihre Wahrheit mit beiden Elementen konstruierte, mit Historischem und Mythischem. Dies gilt auch für die Lehren Jesu in Form von Gleichnissen und Reden, die früh gesammelt wurden, wobei die authentischen Worte dennoch kaum oder nur sehr schwer zu rekonstruieren sind. Die Bergpredigt beispielsweise, die Matthäus in ihrer ausführlichsten Form wiedergibt, könnte im »Original« eine Sozialutopie enthalten haben, bei der Jesus seinen Zuhörern konkrete Landversprechungen machte. Lukas gibt sie ebenfalls wieder, als »Feldrede« mit stark abweichenden Äußerungen, die jedoch einen ähnlichen sozialutopischen Kern enthalten, angereichert durch ein ausgesprochenes Steckenpferd von Lukas: die Hochschätzung der Armut. Es spricht viel dafür, dass Jesus eine solche Rede gehalten hat. Nur wurde sie in der Überlieferung sofort dem Strom des eigenen Erzählens zu- oder untergeordnet.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die Evangelisten griffen auf Berichte zurück, die Historisches mit Mythologischem in für sie nicht zu durchschauendem Gemenge präsentierten. Ganz sicher hatte sich in der Wahrnehmung der Ereignisse schon Grundlegendes geändert. Der historische Jesus war von einem kurz bevorstehenden Weltende überzeugt gewesen, predigte zu einer radikalen Umkehr angesichts der »Tatsache«, dass ohnehin bald alles vorbei sei. Das musste gut zwei Generationen später, als nichts passiert war, korrigiert werden. Die Botschaft lautete jetzt »nur« noch: Glaube an die Auferstehung und das ewige Leben im Vertrauen auf Jesus als den Erlöser. Die dazu passende »Erzählung« war im Gerüst da. Die ersten Jünger, die wirklichen Augenzeugen, hatten diese Erzählung entwickelt und mit den Elementen ausstaffiert, die Glauben erwecken sollten. Dann wurde weitergearbeitet, weitererzählt. Die Weihnachtsgeschichte war die erste neue Zutat, die zur Grunderzählung hinzukam. Lukas und Matthäus wussten um das Mythologische ihres Erzählens (weil sie es ja selbst entwickelt hatten), während sie die vorhandene Mythologie wohl für historisch hielten. Ihre Leser bzw. Hörer nahmen dann auch die neue Mythologie für historisch hin.