Loe raamatut: «Reise Know-How ReiseSplitter: Von Kasachstan in die Südsee – Wie ich mal eben vom Weg abkam»
Von Kasachstan
in die Südsee
Wie ich mal
eben vom Weg
abkam
Katharina Bahn
Impressum
Reisesplitter
Von Kasachstan in die Südsee –
Wie ich mal eben vom Weg abkam
von Katharina Bahn
erschienen im
Reise Know-How Verlag Peter Rump GmbH
Osnabrücker Str. 79, 33649 Bielefeld
© Reise Know-How Verlag Peter Rump GmbH
1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten.
Gestaltung: der Verlag
Lektorat: der Verlag
Alle Fotos, soweit nicht anders angegeben:
Katharina Bahn (Instagram: reise_katha)
ISBN 978-3-8317-3342-2
ISBN pdf978-3-8317-5170-9
ISBN epub978-3-8317-5171-6
ISBN mobi978-3-8317-5172-3
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Für alle, die bereits gegangen sind, obwohl sie gerne noch ein bisschen geblieben wären.
Inhalt
Januar – Fresst meinen Sternenstaub
Februar – Wasserschildkröten-Curry
März – Vom Nahen Osten in den nahen Osten
April – Camping mit Welpenschutz
Mai – Getrockneter Quark
Juni – 5835 Kilometer mit dem Zug
Juli – Der zweite große Crash
August – Ein Defibrillator in der Wüste
September – Eine Leiche im Keller
Oktober – Chainsaw Girl
November – O Tannenbaum bei 35°C
Dezember – Champagner und Leberkäse
Januar
Fresst meinen Sternenstaub
Ein ohrenbetäubender Schrei zerreißt die Stille meiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Eine schrille weibliche Stimme, so laut, dass selbst das Dröhnen der Flugzeuge vom nahegelegenen Frankfurter Flughafen übertönt wird. Amüsiert beäuge ich die Quelle des Krachs: den Taschenanhänger in meiner Hand, der kaum größer als ein Autoschlüssel ist. Wie kann ein so unscheinbares Teil bloß solch ein grauenhaftes Geräusch von sich geben? Bevor ich meine Nachbarn auf den Plan rufe, stecke ich den winzigen Metallstift in die dafür vorgesehene Öffnung und das Gerät verstummt.
Diesen Taschenalarm hat mir mein Onkel geschenkt. Ich soll ihn zur Sicherheit in den nächsten Monaten mit mir rumschleppen. An einer Seite ist ein Schlüsselring zur griffbereiten Befestigung an der Handtasche oder am Rucksack. Auf der anderen Seite steckt der Metallstift, verlängert mit einem silbernen Kettchen. Es ist so gedacht, dass man im Falle eines Überfalls oder einer anderen Gefahrensituation die kleine Kette mit einem Ruck aus dem Anhänger reißt. Der dadurch aktivierte Schrei soll den Angreifer im besten Fall vertreiben oder zumindest andere Menschen auf sich aufmerksam machen. Höchst praktisch also. Zur Krönung ist der Anhänger mit einem dekorativen Muster geschmückt. Trotzdem verschwindet das Teil weit unten in meinem 65-Liter-Rucksack.
Meine Vernunft habe ich vergleichbar tief unten vergraben. Besser gesagt, ist sie mir abhandengekommen – mit dem Entschluss, ein Jahr Auszeit zu nehmen. Und einen Ausflug mit einem Land-Rover zu machen. Durch Zentralasien. Für neun Monate. Mit einem wildfremden Menschen.
Ich mache eine Bestandsaufnahme. Es ist das letzte Januarwochenende. Vor wenigen Tagen ertönte für mich vorerst das letzte Mal das Piepsen der Stechuhr in meinem Büro. Meine Wohnung habe ich zu Ende März gekündigt und bis dahin untervermietet. Mein kleiner Peugeot ist verkauft. Auch einige meiner Möbel haben bereits einen neuen Eigentümer. Für den Rest sowie meine persönlichen Besitztümer habe ich die Einlagerung organisiert. Ich breche meine Zelte stückchenweise ab. Auch mit meiner Gefühlswelt räume ich nach und nach auf – so habe ich kürzlich ein letztes Mal den Mann getroffen, der mir im vergangenen Sommer das Herz gebrochen hat. Ich bin bereit für neue Abenteuer und mache mich frei von Altlasten. Es kann losgehen. Gestern Abend habe ich meine Vorfreude mit ein paar Freunden begossen. Cocktails, Bier und Weißwein an einem Abend zu trinken, ist eine blöde Idee. Ich bin 29 Jahre alt und habe das noch immer nicht begriffen. Jetzt liege ich verkatert und zerknautscht auf dem Sofa und versuche dringend, wieder unter die Lebenden zu gelangen. Mein Untermieter für die nächsten acht Wochen zieht heute Abend ein – wie auch mein Reisepartner ist er ein Wildfremder und ich will ihm nicht vollkommen zerstört gegenübertreten.
An dieser Stelle sollte ich ein paar Monate zurückspulen. Im Frühjahr bin ich auf einer Dienstreise mit dem Zug unterwegs. Die Wartezeit am Bahnhof vertreibe ich mir in einem Zeitschriftenladen. Mir fällt ein Reisemagazin ins Auge, von dessen Titelseite mich breit ein Chilene anlächelt. Spontan kaufe ich es. Ich war noch nie in Südamerika. Seit Wochen beschäftigt mich die Idee, eine größere Reise zu machen. Eine Weltreise? In ein anderes Land, um eine neue Sprache zu lernen? Kündigen? Eine Auszeit nehmen? Südamerika? Indien? Thailand? Kanada? Ein Sonnensystem voller Ideen schwirrt in meinem Kopf umher. Manche Planeten darin geraten in meine Umlaufbahn und verlassen sie gleich wieder, andere bleiben hängen und kreisen dauerhaft in meinem Kosmos. Ich erhoffe mir von dem Magazin neue Inspirationen.
Die Umstände stimmen – ich bin ungebunden und mein Leben hat sich nach einigen aufreibenden Jahren wieder zufriedenstellend normalisiert. Ich finde zurück zu neuer Energie. Durch den Verkauf meines Elternhauses konnte ich einen brauchbaren Geldbetrag auf die Seite legen. In mir schlummert etwas. Die Sehnsucht nach „weit weg“. Reiselust – für mich kein Fremdwort. Mit 18 Jahren habe ich meine erste Fernreise nach New York City angetreten. Wenige Jahre später habe ich mit Abschluss eines Hotel- und Tourismusmanagement-Studiums mein Hobby zum Beruf gemacht.
An besagtem Bahnhof treffe ich zufällig einen Arbeitskollegen. Wir sitzen uns im Zug gegenüber. Nach einer kurzen Unterhaltung blättere ich in meinem neu erworbenen Reisemagazin und lande bei den Kleinanzeigen: Reisepartner gesucht. Ich bleibe bei einer Annonce hängen. Für zwei lange Sekunden höre ich nur noch mein eigenes Herz in Zeitlupe pochen:
„Biete eine Mitfahrgelegenheit in einem Land-Rover von ca. Anfang März bis Ende November nach Asien und wieder zurück. Die Route wird in etwa folgende Länder enthalten: Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Russland, Mongolei, China, Nordindien, Nepal, Tadschikistan, Iran, Oman, Türkei. Eins der großen Highlights dieser Tour wird das Durchfahren des Karakorum sein. Mitreisende (m/w, 25-40) sollten weltoffen, unkompliziert und humorvoll sein. Paul (Mitte 30, E-Mail: paul@zentralasien.de)”
Bei der Hälfte der Länder bin ich nicht einmal sicher, wo sie genau liegen. Was das Karakorum ist, weiß ich nicht. Und ich habe nur eine vage Vorstellung, wie ein Land-Rover aussieht. Ich bin begeistert!
Nervös blicke ich zu meinem Kollegen, um dann sofort wieder wegzusehen. Ich befürchte, dass meine Pläne in großen Buchstaben auf meiner Stirn stehen. Heimlich mache ich ein Foto von der Anzeige und schicke es per WhatsApp an meine Schwester: „Soll ich dem mal schreiben?“
Meine Abenteuerlust ist geweckt, aber manchmal bin ich auch ein Feigling. Bei dieser Kombination kann es nie schaden, den Segen der großen Schwester zu bekommen. Unsere Eltern sind bereits früh verstorben und meine Schwester ist daher umso mehr eine meiner engsten Bezugspersonen. Ihre Antwort kommt prompt. „Mach doch mal.“
Ich mache. Ich schreibe eine E-Mail an Paul. Es gibt mehrere E-Mails, Telefonate und schließlich das erste Treffen. Die Reise wird in seinem Land-Rover Defender Baujahr 2013 mit Dachzelt stattfinden. Ende März soll die Tour starten. Die exakte Route ist noch in Planung.
Paul ist ein Mensch, den ich nur schwer einschätzen kann. Mein allererstes Bauchgefühl sagt mir, dass der Typ etwas sonderbar ist. Aber sind wir das nicht alle ein wenig? Wer eine solche Reise plant, muss ja irgendwie verrückt sein. Zudem rechne ich ihm hoch an, dass er auf sämtliche meiner Fragen (und davon habe ich eine Menge) gute Antworten parat hat. Und schließlich toleriert er den Umstand, dass ich keinerlei Camping-Erfahrung mitbringe. Er gibt mir nicht sofort eine Zusage, mich als seine Begleiterin mit auf die Tour zu nehmen. Ungeachtet dessen gehe ich schon mal zum Personalchef meiner Firma und erkläre ihm, dass ich gerne ein Jahr Auszeit hätte. Selbst wenn es nicht die Reise mit Paul wird, fällt mir ganz sicher noch etwas anderes ein. Ich kann mir auch vorstellen, allein auf Reisen zu gehen. Der Personalleiter ist sofort auf meiner Seite, aber er gibt mir, wie auch Paul, nicht gleich eine Zusage.
Ich könnte platzen vor Aufregung, doch meine Geduld wird in beiden Fällen nach wenigen Wochen belohnt. Ich habe das Mitfahrer-Casting gewonnen und einen Freistellungsvertrag für ein Jahr unterschrieben. Die folgenden Monate vor der Abreise verbringe ich mit dem Studium von Reiseführern und Visabestimmungen, medizinischer Vorbereitung, Entrümpeln und sogar einem Land-Rover-Fahrtraining. Meine Schwester erinnert mich grinsend daran, dass ich schon als Kind nie gerne Zelten wollte – aber ich habe beschlossen, mich einfach darauf einzulassen. Ich bin gespannt, wie es wird, meine wunderbar bequeme Komfortzone zu verlassen und neue Grenzen auszutesten. Overland-Reisen, also das Reisen über Land mit dem eigenen Fahrzeug, ist für mich komplett neu. Wie es wohl sein wird? Meine Vorstellungen reichen von wildromantisch bis hin zu höchst dramatisch. Könnte es an den Grenzübergängen problematisch werden? Was passiert, wenn wir irgendwo in der Einöde eine Panne haben? Wie werden Einheimische auf uns reagieren? Ich habe mir vorgenommen, den Konjunktiv für die nächsten Monate aus meinem Leben zu streichen. Hätte, würde, könnte … Ein lang zurückliegendes Gespräch mit meinem Papa vergesse ich nie. Er erzählte mir, dass er mal fast im Cockpit eines Linienflugzeugs mitgeflogen sei. Ich wunderte mich – fast? Da so wenig Passagiere im Flugzeug saßen, hat die Crew den freien Platz im Cockpit einem Freiwilligen angeboten. „Und was ist passiert?“ fragte ich. Mein Papa sagte: „Ich wollte mich melden, aber ich hab mich nicht getraut”. Mit 55 Jahren ist er gestorben.
Nun liegt vor mir im Grunde eine Autofahrt. Allerdings soll diese neun Monate dauern. Start ist in Deutschland. Laut unserem Plan geht es auf direktem Weg durch Polen, Litauen, Lettland und Russland bis nach Kasachstan. Hier werden wir das erste Mal das Tempo rausnehmen und uns richtig Zeit lassen. Ein weiterer kurzer Abstecher nach Russland soll uns in die Mongolei führen. China ist die nächste Etappe auf unserem Plan: Wir müssen es auf dem Weg nach Nepal und Indien einmal von Nordost nach Südwest durchqueren. Nepal und Indien reizen mich besonders. Schon so viel habe ich über diese Länder gelesen – jetzt will ich sie endlich selbst sehen, riechen, hören, schmecken und fühlen. Pakistan hingegen, eine kurze Etappe im Anschluss, ist meine persönliche Angststrecke. Mir sind zu viele Nachrichten über Anschläge und Entführungen untergekommen. Danach wollen wir über ein weiteres Teilstück Chinas nach Kirgistan reisen und entlang der Seidenstraße Usbekistan und Turkmenistan besuchen. Am Ende steht Iran auf der Liste. Viele der Länder hatte ich bisher noch nie als Reiseziel auf dem Zettel und ich beschäftige mich zum ersten Mal intensiver mit ihnen. Von Iran soll es durch die Türkei wieder zurück nach Deutschland gehen. Soweit der Plan. Doch seit wann funktionieren Pläne schon so, wie sie sollen?
Besondere Freude macht mir neben den Reisevorbereitungen das Entrümpeln meines Hausrats. Ich glaube, dass wir Menschen uns viel zu viel sinnlosen Ballast anhäufen. Materielle Dinge loszulassen – verschenken, verkaufen, wegwerfen – ist unglaublich befreiend. Was in den letzten Wochen vor der Reise neu hinzukommt, sind nur noch Reiseführer und Ausrüstung, wie beispielsweise ein anständiger Schlafsack, Thermounterwäsche und eine Stirnlampe.
Ich plane vor dem Start der großen Tour noch einen Trip nur für mich allein. Es fällt mir schwer, mich zu entscheiden, wohin es gehen soll. Ein Sonnenziel, für mindestens drei Wochen nehme ich mir vor – ich will nicht so viele Länder wie möglich in kurzer Zeit abklappern, sondern mir genug Zeit zum Eintauchen nehmen.
Nach längeren Recherchen fällt die Entscheidung. Unsere Land-Rover-Tour startet erst Ende März. Von der Arbeit freigestellt bin ich bereits ab Ende Januar. Ich habe also den ganzen Februar Zeit.
Und nun ist es soweit. Ich stopfe mein Leben in den bereits erwähnten Rucksack und gebe es auf, alle möglichen Eventualitäten der nächsten Monate durchzuspielen. Mein Untermieter ist gerade eingezogen. Wir verbringen den letzten Januartag gemeinsam in meiner, jetzt vorübergehend unserer Wohnung. Ich berichte von meinen Plänen. Er reagiert verhalten – auf große Reise mit einem Wildfremden? Diese Bedenken kommen nicht das erste Mal auf. Ich gebe zu, diesen Aspekt der Reisevorbereitung etwas unterschätzt zu haben: die Meinungen anderer. Besonders den ungefragten ist man plötzlich ausgeliefert. Natürlich schätze ich die Ansichten meiner Freunde. Aber ich tue mich schwer mit der Meinung von Menschen, die gerade mal meinen Namen kennen und abgesehen davon kaum etwas über mich wissen. Besonders beliebt ist der Satzanfang „Also ich würde …“. Ein weiterer Klassiker ist die Frage: „Und wie machst du das finanziell?“ Von älteren Generationen werde ich zum Teil belächelt. Ob man in meinem Alter denn schon so gestresst vom Arbeiten sei, dass man eine Auszeit brauche? Die Antwort lautet: Nein. Ich brauche das nicht. Ich will es einfach machen. Und was heißt eigentlich „in meinem Alter“? Laut moderner Soziologen gehöre ich in die Generation Y. Oder irgendwohin zwischen Generation Golf und Generation Tinder. Wer weiß das schon so genau. Mein Smartphone (übrigens ohne Tinder) liegt neben meinem Videorekorder. Sagt das etwas über mich aus? Kann man Menschen anhand ihres Geburtsjahres denn überhaupt ein Etikett verpassen? Ich denke, es sind in erster Linie unsere individuellen Erfahrungen, die uns prägen. Stress und schwierige Situationen im Leben bewertet jeder anders. Ich behaupte, schon die ein oder andere Krise gemeistert zu haben und mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen. Hin und wieder bin ich aber auch eine Luftschlossarchitektin und träume gerne mal vor mich hin. Eine fabelhafte Ausgangsbasis für einen Tapetenwechsel, wie ich finde. Jedoch muss ich mir ein ziemlich dickes Fell zulegen, denn nicht jeder ist begeistert von meiner Idee. Ich erhalte wahnsinnig viel Unterstützung, aber bekomme auch Contra. Einer meiner Freunde beispielsweise faltet mich ob meiner Reiseidee so zusammen, dass ich die halbe Nacht mit Schweißausbrüchen im Bett liege. Die Hobbypsychologin in mir filtert Sorge, Unsicherheit, Neid – aber nicht jede Reaktion kann ich einordnen. Ich denke, wer auf Reisen geht, muss ein Stück weit resistent gegen seine Umwelt werden. Auch wenn es zum Teil die engsten Freunde sind. Und ist es nicht im Grunde bei jeder Lebensentscheidung so? Man wird es ohnehin nie allen recht machen. Also fresst meinen Sternenstaub. Ich bin dann mal weg. Morgen fliege ich los – für ganze vier Wochen auf die Seychellen.
Februar
Wasserschildkröten-Curry
Irgendwo über Südosteuropa entrolle ich eine weiße Stoffserviette über meinen Schoß. Zum ersten Mal in meinem Leben fliege ich in der Business Class. So startet mein freies Jahr. Mein Ziel ist Mahé, die Hauptinsel der Seychellen, mit Umstieg in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba.
Obwohl ich Übernachtungen in Hotels liebe, freue ich mich auf mein erstes persönliches Experiment: Vor mir liegen vier Wochen ohne eine einzige Nacht in einem Hotel. Ich erhoffe mir, auf diese Art ein fremdes Land ganz anders kennenzulernen. Wie könnte das besser gelingen, als durch das Übernachten bei Einheimischen? Gleich zwei verschiedene Couchsurfing-Gastgeber werden mich aufnehmen. Eine weitere Unterkunft habe ich über Airbnb gebucht. Und schließlich habe ich noch eine Bleibe bei einem entfernten Verwandten, den ich zuletzt gesehen habe, als ich etwa fünf Jahre alt war.
Die Flugbegleiterinnen der äthiopischen Fluglinie tragen afrikanische Gewänder und die Lautsprecherdurchsagen klingen herrlich fremdartig. Die Business Class war ein Zufallsschnäppchen und bietet abgesehen von dem in eine Liege verwandelbaren Sitz schicke weiße Tischdecken, richtiges Besteck aus Metall und edle Menükarten. Ich fühle mich wie die Queen persönlich und bedaure es fast ein wenig, als wir nach rund sieben Stunden zur Landung ansetzen.
Der Flughafen in Addis Abeba schläft bei unserer Ankunft noch. Ein Duty-Free-Laden reiht sich an den nächsten, gefolgt von fragwürdig aussehenden Restaurants und Gebetsräumen, getrennt nach Männern und Frauen.
Am Stehtisch eines Raucherraums fällt mir das Zigarettenpäckchen meines Tischnachbarn ins Auge. Die Warnhinweise darauf sind auf Deutsch. Wir kommen ins Gespräch – der etwas übermüdete Herr um die Vierzig reist beruflich viel auf dem afrikanischen Kontinent umher. Er empfiehlt mir den äthiopischen Kaffee und lädt mich spontan auf eine Tasse ein. Der Kaffee ist tatsächlich sehr lecker und ich schlürfe ihn in kleinen Schlückchen. Zeit dafür habe ich genug, meine Geduld wird gleich am ersten Tag auf die Probe gestellt: Der Weiterflug, der mich ins Inselparadies bringen soll, schiebt sich immer weiter nach hinten. Ich lande mit einer Verspätung von insgesamt rund fünf Stunden auf der Hauptinsel Mahé. Mein erster Couchsurfing-Gastgeber versprach mir, mich vom Flughafen abzuholen. Ich bin nervös. Ob er nach so viel Verspätung noch auftauchen wird? Ich kenne gerade mal seinen Namen und habe ein einziges Foto von ihm gesehen – dies erweist sich auch am Einreiseschalter als leicht problematisch. Ich habe keine Adresse und versuche der Dame hinter dem Tresen das Prinzip von Couchsurfing zu erklären. Ich kenne diesen Menschen nicht, aber übernachte bei ihm. Kostenlos. Vermutlich hält sich mich für irre, aber lässt mich schließlich durch.
Ich verlasse das Gebäude, es ist bereits dunkel. Mir schlägt warme, schwüle Luft und Grillenzirpen entgegen. Dutzende Menschen stehen auf dem Vorplatz des kleinen Flughafens herum, aber von meinem Gastgeber namens Daxwell ist nichts zu sehen. Nach einer Zigarettenlänge Nachdenken beschließe ich, einfach mal einen Taxifahrer zu fragen. Ich nenne ihm den Namen des Gesuchten, er verschwindet kurz – und taucht wenige Minuten mit einem freundlich lächelnden Insulaner im Schlepptau wieder auf. Ich bin total von den Socken, wie einfach das war. In diesem Inselstaat leben immerhin rund 90.000 Menschen.
Daxwell, kurz Dax, ist sehr sympathisch. Wir plaudern bei einem Cocktail in einem Restaurant und lernen uns ein wenig kennen. Danach fahren wir mit drei Schachteln lecker duftendem Seafood zu seinem Haus in Beau Vallon. Es ist noch eine andere Couchsurferin aus Deutschland zu Gast: Carina – ich schließe sie sofort in mein Herz. Das kölsche Mädchen lacht genauso gern wie ich und wir sind von Anfang an auf einer Wellenlänge. Spätabends überlässt uns Dax überraschenderweise sein großes Bett und gibt sich selbst mit einer dünnen Matratze auf dem Boden zufrieden.
Am nächsten Morgen begutachte ich neugierig das Haus. Ich bin gespannt, wie ein Insulaner lebt und wie man sich in einem IKEA-freien Land einrichtet. Unten befindet sich die Küche, die Arbeitsecke des Hausherrn und mehrere Schlafräume mit einem Badezimmer. Was die Möbel angeht – auf einen einheitlichen Stil scheint Dax nicht besonders viel Wert zu legen.
Hier im Erdgeschoss sind etwa sechs bis acht (so genau ist das nicht zu durchschauen) indische Arbeiter untergebracht. Sie werden von Dax auf einer Baustelle direkt neben seinem Haus beschäftigt. Apartments zur Vermietung sollen das werden. Wenn ich den Arbeitern in der gemeinsamen Küche des Hauses begegne, gehen sie mir scheu aus dem Weg. Sobald ich den Mund aufmache, werde ich mit großen, fast ängstlichen Augen angestarrt. Ich verbuche das mal als friedliche Koexistenz für die nächsten Tage. Im Obergeschoss ist der große Wohn- und Schlafbereich, ein Badezimmer und zu meiner Freude ein großer Balkon. Hier genieße ich in den kommenden Tagen die Abende, wenn die Luft allmählich abkühlt.
Eine Wanderung mit Carina auf dem Anse Major Trail ist mein erster Programmpunkt im Inselparadies. Vor noch nicht einmal 48 Stunden bin ich mit meinem Rucksack zum Frankfurter Flughafen gehetzt, ohne zu wissen, was mich erwartet. Jetzt sitze ich verschwitzt, aber zufrieden auf einem Bänkchen mit Blick auf türkisblaues Wasser und einen palmengesäumten Sandstrand. Ich feiere im Stillen: Hatte ich je eine bessere Idee, als ein Jahr Auszeit zu nehmen? Auf dem Rückweg genießen wir ein eiskaltes Seybrew von einem Kiosk am Ende des Wanderwegs. Das milde einheimische Bier erweist sich als der ideale Durstlöscher bei den tropischen Temperaturen.
Für das letzte Stück auf dem Rückweg nach Beau Vallon wollen wir den Bus nehmen. Das klapprige Gefährt mit den abgeschabten blauen Kunstlederpolstern hat schon bessere Zeiten gesehen. Trotzdem dürfen wir nicht mit unseren offenen Bierflaschen einsteigen. Ordnung muss sein. Der Busfahrer gibt uns einen Augenblick Zeit zum Austrinken. Dann juckeln wir für ein Paar Rupien zurück zum Strand von Beau Vallon.
Die putzige Hauptstadt Victoria liegt nur eine kurze Fahrt von Beau Vallon entfernt. Sie ist eine der kleinsten Hauptstädte der Welt. In ihrem Zentrum steht seit 1903 der silbrig glänzende Victoria Clocktower. Von dem kleinen Glockenturm liegt das meiste in fußläufiger Nähe. Nicht zu verfehlen ist der Tempel Arul Mihu Navasakthi Vinayagar, der einzige Hindutempel der Insel. Ich weiß nicht, was ich schöner finden soll: die bunten, detailreichen Figuren und Muster des Tempels oder sein Name in tamilischer Schrift:
Sehenswert ist auch der farbenfrohe Sir Selwyn Selwyn-Clarke Market, auf dem Obst, Gemüse, Souvenirs und andere Produkte angeboten werden. Benannt ist der Markt nach einem ehemaligen Gouverneur der Seychellen mit britischen Wurzeln. Ich bin begeistert von dem reichen Angebot an Kokosprodukten – Butter, Öl, Creme, Snacks, Milch. Ich bin im Kokoshimmel!
Zurück in Beau Vallon und inzwischen ziemlich hungrig, freuen Carina und ich uns auf den berühmten Wochenmarkt, der hier jeden Mittwochabend am Strand stattfindet. Wir lassen uns würzige Maniok-Chips, erfrischende Cocktails direkt aus der Kokosnuss und andere Leckereien schmecken. Mehr Urlaubsfeeling geht nicht. Für mich ist es zudem ein Gefühl von „Hirn aus“ vor dem großen Land-Rover-Abenteuer.
Wir treffen Dax und er nimmt uns mit in ein kleines Casino. Ich gewinne ein paar Rupien an einem der Automaten, aber die Auszahlung erweist sich als hochkompliziert: Der Automat wird von zwei Mitarbeitern per Hand geöffnet, ein Quittungsblock wird daraus hervorgezaubert und die Gewinnsumme handschriftlich eingetragen. Damit kann ich an einem Schalter meinen Gewinn einlösen.
Unsere letzte Anlaufstelle des Abends ist ein Club, in dem R’n’B und HipHop nach meinem Geschmack läuft und der fast ausschließlich von Einheimischen besucht wird. Carina und ich trinken, tanzen und haben Spaß für zehn. Kaum zu glauben, dass wir uns erst vor 24 Stunden getroffen haben. Im Lauf des Abends lernen wir zwei Piloten kennen – Markus aus Deutschland und Giovanni aus Italien. Gemeinsam verbringen wir den kommenden Tag am Sunset Beach und essen auf der Terrasse von einem kleinen Hotel mit Blick auf die wunderschöne Bucht. Mir scheint auf gut Deutsch die Sonne aus dem Hintern.
Türkisblaues Wasser wie im Katalog. Schön, dass ich hier bin
In der Barrel Bar & Nightclub in Victoria treffen wir uns alle vier am Abend wieder. Dax stößt ebenfalls zu uns. Zu weit fortgeschrittener Stunde und ebenso fortgeschrittenem Promillepegel kommen wir auf die Idee, zum Strand zu fahren und im Dunkeln im Meer schwimmen zu gehen. Giovanni baggert mich höchst offensichtlich an, was ich nicht zuletzt wegen seines Eherings am Finger höflich abwehre. Dax bekommt das irgendwie mit und wir verstricken uns in eine Grundsatzdiskussion. Er unterstellt mir, dass ich mein Leben nicht genießen würde. Ich bin empört und amüsiert zugleich. Gerade jetzt genieße ich mein Leben mehr denn je. Mit allem, was es zu bieten hat. Ehebruch gehört nicht dazu.
Von Carina muss ich mich am nächsten Morgen leider verabschieden, da sie bereits abreist. Ich vertrödele den Tag und treffe mich am Abend schon mit Manuel, meinem nächsten Gastgeber, in einer hippen Bar. Er ist ausgesprochen nett und spricht fließend Deutsch. Ich bin gespannt auf seine Kochkünste, die er mir hoch anpreist. Auf den Seychellen wird traditionell ein Flughund-Curry gegessen. Ich hatte mir bereits in Deutschland vorgenommen, es zu probieren. Schon Daxwell wollte es mir zubereiten – nach einem Blick in seine Küche habe ich jedoch dankend abgelehnt. Vielleicht klappt es ja bei Manuel.
In meiner letzten Nacht bei Dax ist eine riesengroße Kakerlake im Zimmer nicht mein größtes Problem. Wir verlieren uns erneut in einer Grundsatzdiskussion, diesmal über das Thema Hilfsbereitschaft. Vor seinem Haus ist eine Frau mit ihrem Kleinwagen in den Straßengraben gefahren und kommt dort ohne fremde Hilfe nicht wieder raus. Die indischen Arbeiter sind hilfsbereit, Dax jedoch geht nur widerwillig mit nach draußen. Nach der Rettungsaktion will er mir seine Welt erklären. Er ist der Meinung, in so einer Situation sollte sich jeder selbst der Nächste sein. Ich bin irritiert – wo er doch so ein gastfreundlicher Mensch ist. Die Situation ist absurd. Ich spare meine Energie und gebe ihm in allem Recht, was er sagt. Zum einen, weil er ziemlich betrunken ist und zum anderen, weil ich ohnehin morgen früh hier weg bin. Dax legt sich schließlich schlafen und ich entspanne mich noch etwas in der kühlen Nachtluft auf dem Balkon. Was mich ungemein an diesem Abend bei Laune hält – ich schreibe schon seit Stunden mit meinem Untermieter in Deutschland WhatsApp-Nachrichten. Ein Hoch auf die geringe Zeitverschiebung von nur drei Stunden.
Ich lege Dax am nächsten Morgen noch einen Zettel hin und bedanke mich natürlich trotz allem für seine großzügige Gastfreundschaft. Ich schultere meinen Rucksack und marschiere los zum Treffpunkt mit meinem nächsten Gastgeber Manuel. Erstaunlich: Die indischen Arbeiter lächeln mich an und winken mir freundlich zum Abschied.
Bei Manuel, im ruhigen Südwesten der Insel, kann ich erstmal jede Menge Schlaf nachholen. Er bekocht mich wie angekündigt mit feinsten Köstlichkeiten. Soursop-Frucht als Vorspeise, Spaghetti mit Gambas, dazu ein erfrischender gekühlter Rosé ist nur eines der Menüs der kommenden Tage.
Diese sind so entspannt, dass ich einfach mitfließe und sogar mein Handy auslasse. Tagsüber verdient Manuel sein Geld als Reiseführer und Taxifahrer und bringt mich in seinen Pausen zu den schönsten Stränden der Insel. Manchmal besuchen wir seine Familie. Abends essen wir gemeinsam und treffen seine Freunde zum Tanzen oder Billard spielen. Ich wehre mich nicht gegen sein allumfassendes Verwöhnprogramm.
Besonders schön finde ich die Besuche bei Manuels Familie, um die ich ihn richtig beneide. Im Haus seiner Schwester Tina wohnen vier Generationen zusammen. Ich werde ohne Zögern aufgenommen, darf zum Essen bleiben und freunde mich mit den Kindern an. Sie spielen einfach mit dem, was sie im Garten finden – Blätter, Steine, Äste. Es gibt nur wenige „echte“ Spielsachen. Die Kinder wirken vollkommen zufrieden.
Eines der Familienessen besteht aus einem Curry in senffarbener Soße und einem scharfen Chutney mit Brot. Als mein Teller leer ist, erzählt Manuel mir ganz entspannt, dass ich gerade Wasserschildkröte gegessen habe. Ich bin schockiert. Auf den Seychellen ist das offiziell verboten. Das Wort „geschmacklos“ wurde für genau diesen Augenblick erfunden. Geschmacklos finde ich es, ein geschütztes Tier zu einer Mahlzeit zu verarbeiten. Geschmacklos, mir erst nach dem Essen davon zu erzählen. Und schließlich geschmacklos, weil die dunklen, knorpeligen Bröckchen tatsächlich nach nichts schmecken, außer nach der Soße, in der sie getränkt sind. Aber um die gastfreundliche Familie nicht zu beleidigen, behalte ich meine Gedanken für mich und hake es als ungewolltes Essensexperiment ab.
Interessant ist für mich der Austausch mit den Frauen der Familie unter Dreißig. Sie sind allesamt verheiratet und haben bereits ein bis zwei Kinder im Schlepptau. Ich berichte, dass ich 29 Jahre alt, ledig und kinderlos bin und zudem allein lebe. Zu meinem Erstaunen und Vergnügen ernte ich mitfühlende Blicke. Eine Seychellois ist in meinem Alter fast immer schon Ehefrau und Mutter. Solche und andere spannenden Begegnungen sorgen dafür, dass meine Zeit auf Mahé wie im Zeitraffer vergeht.