Loe raamatut: «Da geht sie»

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Geboren 1962 in Schaffhausen, Ausbildung zur Buchhändlerin in Schaffhausen und zur Schauspielerin in Berlin (Fritz-Kirchhoff-Schule). 1989 bis 1992 Engagements als Schauspielerin bei Bühne und Film, seit 1992 freie Autorin. Schreibt Theaterstücke, Hörspiele und Prosa. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem «Lenz Preis für neue Dramatik der Stadt Jena». Katharina Tanner hat zwei Töchter und lebt als Autorin und Buchhändlerin in Basel und Berlin.

KATHARINA TANNER

DA GEHT SIE

Roman


Ich weiß nicht wieso, aber ich fürchte mich vor Bern, hat Lisette einmal an Christoph geschrieben, da war Linn noch ein Kind. Fürchte dich nicht, schrieb er zurück, ich bin in Bern geboren, ich habe die Schulen von A–Z in dieser Stadt besucht, ich habe hier studiert, ich habe hier meine Band gegründet, meine Familie, fast alle meine Freunde leben in Bern.

Es war das A–Z, das Lisette verunsichert den Bleistift spitzen und mit geschlossenen Augen auf den Brief tippen ließ. Bei W fielen ihr willensstark, warm und wachsam ein, bei F fürsorglich und bei H handsome, handlungsorientiert und hellhörig. Bei A brach die Bleistiftspitze ab.

Seltsam, lachte ihre Freundin Helene, es gibt keinen Grund, vor der Schweizer Hauptstadt Angst zu haben, ich habe selbst einmal mit einem Berner in Bern zusammengewohnt. Oder willst du dich einfach nie mehr vom Bodensee wegbewegen? Lisette dachte an Christophs kleine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen.

Als ihr der Drang, auf einer Bühne zu stehen, dann plötzlich abhanden kam, als sie sich immer öfter zusammenrollen musste, um noch einen Restzipfel davon zu erhaschen, zog sie mit Linn zu Christoph nach Bern.

1, schrieb sie in die Agenda für den ersten Tag des neuen Lebens.

Die Gewohnheit, frühmorgens draußen auf der Türschwelle die Temperatur großer Städte aus aller Welt und die Wassertemperatur der Schweizer Seen in der Tageszeitung zu studieren, nahm sie an die Aare mit.

Jahre später, der Sommer wird von der ‹Berner Zeitung› Jahrhundertsommer genannt, fährt Lisette in einem Außenquartier durch die leere Wohnstraße im Slalom an quadratischen Blumenkisten vorbei. Bunt bemalte Kinder aus Sperrholz säumen das Trottoir. Im Autoradio spricht ein Ornithologe aus Norddeutschland von einer Schmarotzerraubmöwe, die schon am 26. Juli elbabwärts geflogen sei. Vor den Siebzehnuhr-Nachrichten macht Lisette das Radio aus.

In ihrer Handtasche klingelt das Telefon. Die Zwillinge werfen die aufgeblasenen Schwimmreifen durchs Autofenster auf das glühende Pflaster vor dem Haus. Sie befreien sich gegenseitig aus den Kindersitzen, Lisette öffnet ihnen die Wagentür.

Meine Zirkusschule wird immer größer, sagt sie zu Helene am Telefon, für das nächste Semester habe ich eine mongolische Akrobatin mit einem schweren Zopf engagiert.

Du hast richtig entschieden, sagt Helene. Es war damals genau der richtige Zeitpunkt.

Die Buben klettern aus dem Auto.

Ich habe mir das neue Leben selbst beigebracht, sagt Lisette.

Ich würde gerne einmal in die Mongolei fahren.

Ich auch.

In Regensburg könnte ich kurzfristig den ‹Lebkuchenmann› inszenieren.

Ich weiß nicht.

Anton und Hannes rennen mit den Schwimmreifen um den Bauch die Straße auf und ab. Sie rufen Namen in die heiße Luft und halten Ausschau nach Nachbarskindern, enttäuscht, niemanden anzutreffen.

Wenn mein neues Kind auf die Welt kommt, sind die Quitten reif, sagt Lisette. Ich werde die Früchte abreiben, bis sie nicht mehr pelzig sind, ich werde sie zerstückeln und einkochen und pürieren. Ich will dem Kind eine Blechdose voll rotgoldenem Quittenspeck zur Geburt schenken.

Quittenmarmelade?

Nein, Quittenspeck. Dass der ‹Lebkuchenmann› überhaupt noch gespielt wird.

Vielleicht sollte ich mir auch ein neues Leben beibringen, sagt Helene.

Lisette schließt den Wagen ab und wählt eine neue Telefonnummer. Die Möwen sehen alle aus, als ob sie Emma hie ßen, Emma bitte dick unterstreichen, diktiert sie Christophs Praxishilfe, dann ruft sie laut nach den Buben.

Linn

Anton

Hannes

Emma

Wie elegant sich dieser pausbackige Namen an ihre drei Kinder schmiegt.

In der Küche tischt Lisette Brot und Käse auf, sie zerdrückt zwei Bananen und füllt den Brei in je eine Schalenhälfte zu Schiffchen. Eine Radiohörerin wünscht sich Klaviermusik von Schubert.

Emma. In Gedanken an endlose unbesiedelte Elbauen zerrt Lisette ihre Stützstrümpfe von den Beinen und stopft sie in den Abfallkübel. Christoph soll ihr nie mehr fleischfarbene Schläuche herunterrollen müssen. Möwen, die elbabwärts fliegen, tragen keine Stützstrümpfe, sagt sie beim Essen zu den Zwillingen. Die Buben kichern.

Für die L-Form der Küche hat sie sich mit Christoph auf Rat des Architekten entschieden. In einem Familienalltag mit vier Kindern könne arbeiten am Herd und essen in einem Raum nur in einem L stattfinden, sagte der Architekt und schaute dabei auf ihre Brust, der Blick vom Esstisch auf die unaufgeräumte Arbeitsfläche nähme einem sonst den Appetit.

Anton deutet stumm auf eine Postkarte, die am Kühlschrank klebt. Liebe Mama, lieber Christoph, lieber Anton, lieber Hannes, die Berliner Seen sind alle Pissbrühen geworden, liest Lisette zum wiederholten Male vor, an meinem Geburtstag habe ich zuerst den Kopf ins Wasser getaucht und dann die ganze Nacht gefeiert. Liebe Grüße und Küsse, Linn.

Linn ist eben schon sechs, sagt Anton zu Hannes. Hannes streckt vier Finger in die Luft und sagt: Und ich so und älter als du. Lisette korrigiert: Eure Schwester ist schon sechzehn.

Unter dem Dach staut sich die Luft seit Wochen. Lisette legt die nassen Badetücher und Badehosen über den Wäscheständer. Die Abendsonne brennt einen Lichtstrahl durch eine runde Luke. Die Zwillinge jagen einander durch die engen Gänge der Bettwäsche und versuchen, den orangen Lichtkegel zu packen. Langsam nimmt Lisette die steife Wäsche von den Leinen, die gespannten Schnüre scheinen die letzten Tage in die Höhe gewandert zu sein, ihr Bauch beginnt, sie unbeweglicher zu machen. Sie faltet die großen Laken zusammen, legt sie auf den Boden und wirft die übrige Wäsche darauf.

In der Wohnung klingelt das Telefon. Schritt für Schritt steigt Lisette die steile Treppe hinunter, als sie den Telefonhörer aufnimmt, ist es zu spät. Das Band meldet drei neue Anrufe. Beim ersten glaubt sie, Linn weinen zu hören. Beim zweiten sagt Linn: Ich habe dich gesehen. Im Club der böhmischen Versager. Gefilmt und nackt. Mit einem Pappschild vor der Brust. Zum Kotzen.

Ich kenne keinen Club der böhmischen Versager, sagt Lisette zum Telefonhörer, im Hintergrund wimmert Linn leise weiter.

Niemand darf wissen, dass die Zirkusschule nur ein Experiment ist, das ich jederzeit abbrechen darf, überlegt sich Lisette, während sie die Treppe zum Dachboden hinaufsteigt. Auf dem Wäscheberg liegen die Zwillinge und sind eingeschlafen. Sie deckt sie mit einem frischen Laken zu, legt sich zwischen sie und überlegt, ob Helene diesen böhmischen Club in Berlin wohl kenne.

Und der Donnerstag vor neun Jahren, die Stadt am Bodensee, der Berggänger und die Säntisbank sind zum Greifen nah.

Der Donnerstag begann genau so, wie Lisette ihn seit Wochen geplant hatte. Ihre Hand schlug dem Wecker ein Schnippchen, bevor er sie mit seinem Piepsen ärgern konnte, und machte ihn ganz beiläufig arbeitslos für diesen Tag, auf den sie seit langem setzte.

Der Bodensee hatte laut ‹Thurgauer Zeitung› vierundzwanzig Grad. Lisette hüpfte am Kreuzlinger Bahnhof mit Linn an der Hand aus dem Bus, die Sohlen ihrer Schuhe quietschten leise und freuten sich auf einen glücklichen Gang.

Es musste ein wenig früher gewesen sein als die Morgen davor. In den Geleisen knackte es und eine Weiche verschob sich, am Imbissstand lagen der Sonnenschirm aus Bastimitat und die Schiefertafel ‹Heute Döner Kebab› träge an ihrer Eisenkette. Lisette speicherte den Veilchenparfumduft der Buschauffeuse, stampfte mit dem rechten Fuß kurz auf, zog das vor Müdigkeit noch schwere Kind die menschenleere Bahnhofstraße stadteinwärts hinter sich her und kräuselte die Haut zwischen den Brauen.

Der plötzliche Wunsch, dem Bus nachzurennen, im Schatten seiner vorgegebenen Route mitlaufen zu dürfen, in großzügigem Bogen den Hang hinauf, bis zum Seerücken hoch und wieder hinab zum Wasser, einmal, zweimal, dreimal um Kreuzlingen herum, leichtfüßig und ohne abzusetzen, bestätigte ihre Ahnung: Ein von langer Hand vorbereiteter Tag, der das Leben radikal in ein neues Fahrwasser lenken sollte, musste, um warm und biegsam und so geistreich wie nur möglich zu werden, etwas außer Plan bieten. Wahrscheinlich war es sogar seine Pflicht, um beim Vorsprechen auf der großen Bühne termingerecht zu gelingen.

Heute Abend würde sie sich am Stadttheater in Konstanz einen festen Vertrag erspielen!

Das Kind begann ein Lied zu summen, kaum hörbar, ‹Kraut und Rüben haben mich vertrieben›. Lisette liebte es, wenn Linn summte oder sang, und schloss sich dem Kind dankbar an. Sie beobachtete, wie der Ton auf ihrem Nasenbein sich in zwei Hälften teilte, schwungvoll die Augen umrandete, den Seitenscheitel entlang über den Hinterkopf flitzte und schließlich den schwarzen Pferdeschwanz zwischen den Schulterblättern hinunterrutschte. Bis Linn sich für das Summen ihrer Mutter genierte und mit strengem Ton befahl, still zu sein. Dann sang das Kind alleine weiter.

Lisette tastete in ihrer Handtasche durch gedörrte Aprikosen, Lippenstifte, einen zerfledderten Taschenweltatlas nach einer Telefonkarte und steckte dem Kind ein Stück Traubenzucker in den Mund. Sie prüfte die Rutschfestigkeit ihrer Gummisohlen mit zierlichem Zehen-in-den-Boden-Stubsen, um im Notfall auch abrupt stoppen zu können, wie mit einem eleganten Parallelschwung auf Skiern, doch ohne Anlauf und ohne zu stieben.

Sie wollte Daniel vom Triumph über den Wecker berichten und von einem leicht ansteigenden Lampenfieber vor dem Vorsprechen heute Abend. Ganz kurz nur, so lange, wie sich einmal morgenschläfrig auf seinen Bauch rollen, so lange, bis sie ihm zu schwer würde. Sie hörte sich von seiner Stimme bei ihrem Namen genannt, obwohl sie ihn jetzt in der Frühe doch noch in Hamburg wusste. Sie versuchte, sich seine schlacksige Gestalt vorzustellen, seinen elegant federnden, der Welt großzügig entgegentretenden Schritt, und schlug sich vor Vorfreude auf ihn mit der Hand gegen die Stirn. Linn lachte verwundert auf.

Der Bodensee habe schon vierundzwanzig Grad, das Wetter sei ein Traum, das Kind summe und lache. Sie trüge seine Lieblingsbluse, die Glücksbluse aus Berlin, die lindgrünen Turnschuhe, einen knielangen Leinenrock dazu, fast neu, beige, nicht gestohlen. Schade, dass er nicht bei ihnen sei, wollte sie ihm sagen, vielleicht noch, sie liebe ihn und sei voll Zuversicht. Selbst der Gedanke an die kommende Herbstnebeldecke am See könne sie nicht mehr erschrecken. Sie habe die Kanzleien im Telefonbuch gezählt, eine mehr oder weniger dürfte nicht ins Gewicht fallen. Und sie wollte ihn zum Schluss noch Helenes neue Flamme erraten lassen – darauf würde er nie kommen, nie –, ein abgewickelter Botschafter eines abgewickelten Landes als Liebhaber!

Die Telefonkarte blieb unauffindbar.

Ein immer aufdringlicheres Verlangen aber, die seltsam schwer werdenden Lider zu schließen, bedrängte Lisette bald zum Nachgeben. Sie ließ sich von Linn die Bahnhofstraße mit geschlossenen Augen widerstandslos weiterführen. Das Spiel, einen blinden Menschen um Hindernisse herum zu lotsen, kannte das Kind aus seinem Berliner Kinderladen. Es kicherte, blieb schon nach wenigen Metern unvermittelt stehen, bestaunte wie jeden Tag im Schaufenster des Baby-House den blau-grün karierten Zwillingswagen und schnitt vor einer Parksäule eine kühne Kurve. Dass sich sogar ihre Augendeckel auf den Vorsprechtermin vorbereiteten und sie mit einer Wahrnehmungsübung überraschten, stimmte sie heiter. An diesem Donnerstag schienen auch kleinste Hautfetzen ihres Gesichts mit ihr am gleichen Strick zu ziehen.

Es blitzt aus dem Gleis, rief Linn. Selbst durch die geschlossenen Lider fühlte Lisette die Sonnenstrahlen an den blanken Eisenbahngeleisen abprallen und in der heißen Luft farbig zucken.

Das rechte Knie auf der Erde, den linken Fuß daneben, den Oberkörper vornübergebeugt, die Handinnenflächen flach gespreizt neben Knie und Fuß, hörte sich Lisette fragen, wer zuerst in Konstanz sei.

Ich, rief das Kind, nahm die gleiche Stellung ein, rannte los, kam nach ein paar Metern zurück und begann nochmals von vorne.

Lisette zählte alle Dörfer der Bahnlinie seeaufwärts auf. Sie fragte, wer zuerst in Bottighofen sei, in Altnau, in Uttwil, in Rorschach, in Bregenz über der Grenze und in Lindau über der Grenze und noch einmal über der Grenze, bis der Zug den Bodensee hinter sich ließ und sich übermütig eine neue Strecke suchte. Wer zuerst in Innsbruck sei, fragte Lisette, in Linz, in Budapest, weiter, immer weiter. Und das Kind jauchzte laut. Es wusste sehr genau, in gewissen Momenten war Widerspruch zwecklos, manchmal musste eine Bodenseelinie eben einfach weitergeführt werden. Wer zuerst in Craiova sei: Ich!, in Bukarest: Ich!, in Sewastopol: Ich!, in Krasnodar: Ich!, trompetete das Kind, rannte los und trabte die weiten Wege wieder zurück.

Und genauso hatte sich Lisette, als sie selbst gerade kein Kind mehr war, das Leben mit einem Kind vorgestellt, wollte sie Linn später einmal erzählen: Als ein endloses Marschieren, Hand in Hand, zwei Wanderer beide, berstend vor Kraft, verschwitzt und hungrig, unerschrocken und mutig, mit der freien Hand Zäune, Mauern und Hecken entlangstreifend. Ein Dach oder gar ein Haus hatte sich nie in ihre Vorstellung geschoben. Schutz bot allein das ununterbrochene Weiterziehen bei jedem Wetter. Mit wilden Liedern von stürmischen Winden, geschnitzten Weidenpfeifchen, Stichen und Hieben, von schönsten Abendsternen und betrogenen Lieben auf den Lippen. Hinaus, hinauf, weiter, weiter, ohne einen Blick zurück von einem Ort zum anderen, sie und das Kind, ein winziges, friedliches Heer, leichtgemut und immer gleichbleibend leise heiter, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Es blitzt aus dem Gleis, wiederholte Linn. Wie einen lebhaften Tanz nahm Lisette es mit geschlossenen Augen wahr. Ein Flimmern, nicht brennend, sondern fordernd, ein Hin-und Herwiegen, schimmernd, wie ein funkensprühendes bengalisches Zündholz.

Von Kreuzlingen nach Krasnodar! Das R rollte! Der Zug rollte! Linn jubelte! So weit waren sie noch nie zusammen weggefahren.

Es war gestern Abend nach dem schweren Gewitter, als die Sonne noch einmal am Himmel erschien und die Linde vor Lisettes Küchenfenster wie gereinigt glänzen liess. Der Sommerdunst über dem See war längst einem scharfen Endsommerlicht gewichen, und wie jedes Jahr bedauerte sie, dass das träge Hochsommerflirren nicht mehr zu halten gewesen war. Nun schien die Sonne, als müsste sie die milden Hügelzüge rund um den Bodensee vor dem langen Herbstnebel noch einmal gerecht ausleuchten.

Linn schlief bereits. Vor dem Badezimmerspiegel zupfte Lisette ihre Augenbrauen und versuchte, den Pferdeschwanz in einen Dutt zu verwandeln. Der Blick einer Kamera auf einen weiblichen Hinterkopf mit Dutt sei ein russisches Zeichen für Warten, wusste sie von Tarkowskij, und der Dutt brachte sie dem Aussehen einer gelangweilten Russin des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts möglichst nahe.

Der blickdichte Vorhang aus Jeansstoff, mit dem das Kind in der hellen Jahreszeit das Dunkel zum Einschlafen selbst herbeischaffte, hing schon in der neuen Wohnung. Der Saum war behelfsmäßig mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt. Lisette beschloss, in ihrem eigenen Zimmer nur noch Futon und Leselampe zu dulden, als eine laue Zugluft die Postkarte von Vermeers Brief lesendem Mädchen im Gleichschritt mit einer Staubmaus übers Parkett taumeln ließ.

Liebe Lisette, stand auf der Rückseite der Karte, liebe gefährlichste Unruhe meines Lebens, als ob der holländische Meister von dir gewusst hätte. Alles wird gut, meine Schauspielerin! Lass die alte Welt hinter dir, die große, graue Stadt auf Sand! Nur mich nimm bitte mit. Und ein wenig größer geschrieben: Auf zu neuem Glanz im Süden am See, Dein Daniel.

Im Wohnzimmer warteten Bücherregale auf ihren Aufbau und das senfgelbe Sofa auf einen abendsonnebeschienenen Winkel, als gäbe es ein Gewohnheitsrecht auf milde Wärme. Den Wänden entlang stapelten sich Kartonkisten, von Helene irgendwo hingestellt. Der Umzug konnte ihr nicht schnell genug gehen, sie wollte weiter, nach Bregenz, noch am selben Abend. Sie stand mitten in den Proben zum ‹Menschenfeind›.

Die Küche war eingerichtet. Eingestopft, hatte Helene gemeint und ihren Hauptdarsteller Alceste einen Zwitter aus Ziegenbock und Gockel geschimpft. Eingestopft, das Kind wiederholte das Wort immer wieder, wollte es Daniel erzählen, es wollte alles sofort weitererzählen. Und während Lisette in den Umzugskisten nach Haarnadeln suchte, um ihren russischen Dutt festzustecken, rief Daniel an.

Mit dem Telefon in der Hand begann sie in der Küche auf und ab zu wandern. Sie zog das Kabel hinter sich her, sie kühlte die nackten Fußsohlen und versuchte gleichzeitig, ziegelrote Flecken im Steinboden aus den ockerbraunen, gelbweißlichen und schiefergrauen herauszuzählen. Dabei sprach sie mit Daniel über die Kampfscheidung seines Kanzleipartners, über Linns Lehrer, über den Vorteil großer Flure und über das Verschwinden ausgegossener Steinböden. Über Zwetschgen, als Kuchen, Kompott und Konfitüre. Über sein Kommen am nächsten Tag, ihrem großen Donnerstag, und den allgemeinen Trost hoher Räume.

Als Daniel von portugiesischen Zimmermädchen und Kellnern im Oberengadin, ihrer Sanftmut und ihrer ziellosen Bescheidenheit zu schwärmen begann, schien es Lisette, als stünde sie plötzlich auf der äußersten Kante des westlichen Europas. Auf portugiesischem Boden, barfuß, gebannt und erwartungsvoll. Den Rücken dem Festland zugewandt. Das Gesicht mutig im rauhen Wind. Daniel lachte über die Anziehungskraft dieses schweigsamen Menschenschlages ausgerechnet auf sie, Lisette. Warm glucksend schallte es durch die Telefondrähte von Hamburg nach Kreuzlingen. Ausgerechnet die Portugiesen!

Lisette holte ein Bier aus dem Eis, konnte den Flaschenöffner aber weder beim Besteck noch bei den Holzkellen noch in einer anderen Schublade finden. Eine Kirchenuhr schlug Mitternacht. Sie zählte die Schläge und rief sich die verschränkten Vorderpfoten eines naiv gemalten Appenzeller Sennenhundes ins Gedächtnis, dabei zitierte sie ihren kürzlich verstorbenen Großvater: ‹Das Arme-und-Beine-verschränken-Können gehört zum Privileg der Menschheit, und nur der Menschheit! Warum aber hat der Herr Maler einen Hund seine Pfoten verschränken lassen?›

Ihr Großvater nannte alle ihm verehrungswürdig scheinenden Männer ‹Herr›. Er sprach vom inneren Exil des Herrn Maler Dix in Hemmenhofen auf der Höri. Er sprach vom Herrn Jesus Christus am Kreuz. Manchmal fragte er Lisette: Wie geht es Herrn Daniel Fink?

Daniel schwärmte vom Blick des Hundemalers im schweizerischen Berlingen am Untersee auf das gegenüberliegende deutsche Ufer, die Höri. Er nannte ihn den Dix’schen Gegenblick. Bald verloren sie sich aber in der immer gleichen Frage: Ob man in einer fremden Stadt mit über vierzig noch eine Rechtsanwaltskanzlei gründen könne. Sowohl im Allgemeinen wie auch in Daniels Fall. Sie feixten über den Intendanten des Oldenburger Theaters, bis sie den Grund vergaßen und sich die Überlegung danach erübrigte. Sie sprachen über die Hitze von Augustnächten und noch ein wenig über das Kind.

Prägt es einen Menschen, ob er bei großer Hitze oder bei großer Kälte auf die Welt kommt?, fragte Lisette.

Linn ist an einem Hitzetag auf die Welt gekommen, sagte Daniel.

Manchmal blieb das Telefonkabel am Plastikgriff des Kühlschranks hängen und öffnete die Tür. Lisette wickelte es um Ellbogen und Hand wie das Seil beim Bergsteigen und fing mit dem Flecken-auf-dem-Boden-Zählen wieder von vorne an.

Mehrfachwahrnehmung schulen!, bleute sie sich ein, und danach kamen ihr die Initialen AD und bald darauf auch der ganze Name des Hundemalers wie von selbst in den Sinn.

Herr Adolf Dietrich.

Eine Stunde später sagte Daniel, abgesehen davon sei ihre neue Wohnung in Kreuzlingen nicht klein und nied - rig, sondern die alte in Berlin groß und hoch gewesen und drei Zimmer für zwei Personen wie jetzt sowieso das Normalste der Welt. Für den Einschub, die Endung ST würde Daniel mit nur zwei Buchstaben genauest und treffsicherst beschreiben, verpasste Lisette den richtigen Moment, da sie sich schon über den Brotrest vom Abendessen Gedanken machte: Aufbewahren, zum Schwänefüttern mit Linn am See? Er fragte, ob sie den Winter denn überhaupt noch am Bodensee oder nicht schon wieder fast am Meer oder an einem anderen Wasser oder vielleicht an gar keinem mehr wohne. Beim dritten Anlauf, das Bier mit gezieltem Schlag auf der Kante des Kühlschranks zu öffnen, zersplitterte der Flaschenhals, und der Wunsch zu kontern verschwand.

Man gewöhne sich eben zu schnell an Berliner Dimensionen, meinte Daniel. Der Schaum rann über Lisettes Handgelenk zu Boden. Im Glas des Küchenbuffets entdeckte sie das wackelige Bild einer mittelgroßen, schmalen Frau in einem hellblau karierten Herrenpyjamaoberteil. Mit eingeklemmtem Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter auf der einen und waagrecht ausgestrecktem Arm auf der anderen Seite hörte Lisette Daniel zu. Erst schlug er ihr noch belustigt die Haltung der Freiheitsstatue vor, dann verschärfte sich sein Ton zunehmend.

Großbürgerliche Hallen mit Stuck, Flure ohne Ende, fürstliche Treppenhäuser für alle, ob mit oder ohne Geld, das sei kein Maßstab, vom Berliner Zimmer ganz zu schweigen. Ob sie denn schon einmal von einem Paderborner Zimmer, das Vorderhaus und Seitenflügel großzügig miteinander verbinde, einem Erfurter oder gar einem Winterthurer oder Berner Zimmer gehört habe? Das seien auch respektable Städte mit respektablem Wunsch nach Platz für ihre Bürger. Diese großkotzige Berliner Raumanspruchshaltung habe mit der Realität nichts zu tun, sprach er immer erregter, weder mit der übrigdeutschen noch mit der schweizerischen und mit der Weltrealität schon gar nicht.

Wütend verteidigte sie die feudalen Platzverhältnisse in Berliner Altbauten als Menschenrecht für alle. Dann legte sie den Hörer auf.

Heute ist Donnerstag, plapperte das Kind, sprang an ihrer blinden Hand bald vor, bald zurück, zählte Montag, Dienstag, Mittwoch, danach suchte es die Namen für die restlichen Tage.

Hoffentlich lassen mich diese Augenlider von selbst wieder in Ruh, dachte Lisette und beobachtete, wie faserig und zäh sich diese Überlegung im Dunkeln zu Ende dachte. Angestrengt suchte sie nach den drei Botschaften von Helenes neuem Freund, irgendwann fielen ihr gleichzeitig zwei wieder ein. Manila und Islamabad.

Die Woche fängt am Sonntag an, sang das Kind glockenhell, übernahm die Anfangstöne von ‹Ein Vogel wollte Hochzeit machen›, erfand aber nach den ersten paar Takten eine neue Melodie. Es schwebte wie selbstverständlich kniehoch über dem Boden, kicherte in der Luft ein wenig vor sich hin, so wie es auch auf der Erde oft kicherte, kaum anders eigentlich.

Am Sonntag, am Sonntag, gluckste es von oben herab, sie konnte das Kind kaum verstehen, bis es so etwas wie ‹Schule› brüllte.

Dann sah sie den Mann, den das Kind Lehrer nannte, diesen Menschen, den es zu seinem König erklärt hatte, dem es alles richtig machen wollte und dem sie das Kind jetzt jeden Morgen pünktlich übergeben musste, ganz genau vor sich. Sie hätte laut lachen, ihm den Scheitel zerzausen und die Haare aus dem Bart zupfen wollen. Ha, dachte sie, Herr Lehrer! Sie können mir keine Vorschriften machen! Ihnen will ich Beine machen! Nennen Sie drei Stationen von Helenes neuem Freund, Herr Lehrer, drei Hauptstädte über die ganze Welt verstreut, drei Vertretungen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Herr Lehrer!

Stattdessen herrschte sie das Kind an: Es stimmt nicht, es stimmt nicht, verdammt noch mal, es stimmt einfach nicht, die Woche fängt am Montag an.

Am Sonntag, doch, Großmutter sagt es auch, johlte Linn, die Stifte im fellbesetzten Schulranzen rumpelten oben in den Lüften.

Sie müsste sich dringend um Linn kümmern, erschrak Lisette und drückte die Finger des Kindes in ihrer Hand langsam fest zusammen, bis es sich stumm und geschmeidig wieder in den angebrochenen Tag einfügte und wie selbstverständlich mit den Sandalen auf dem Boden aufsetzte.

Ein Migroslastwagen, japste Linn, hüpfte vor Aufregung auf und ab, ihre kurzen, hellbraunen Zöpfe hüpften bestimmt mit.

Der behäbige Lieferwagen polterte vorbei. Zugluft kroch an Lisettes nackten Beinen entlang. Das Kind löste sich von ihrer Hand und rannte zu seinen neuen Freundinnen. Als sie sich zwang, die Augen zu öffnen, blendete das Licht so vertraut gleißend wie ein alter Freund, der sich freute, sie nach langer Trennung wieder unter seine Obhut nehmen zu dürfen.

Vom Schulhausplatz strahlte ihr ein kleines Häuflein lächelnder Mütter entgegen, manche hatten den Kopf leicht schräg zur Seite geneigt. Lisette erwiderte den Gesichtsausdruck spiegelverkehrt. Es gelang ihr hervorragend. Einer Mutter reichte sie die Hand.

Kristin, sagte die Frau, ich bin die Mutter von Rahel.

Ja, natürlich, die Mutter von Rahel.

Rahel sei seine beste Freundin, erzählte das Kind noch heute Morgen im Bus. Es waren so viele neue Namen. Kristin, prägte sich Lisette ein, ein blonder Name für eine brünette Frau. Dann packte eine schwere Hand ihre erst gerade wieder frei gewordene, schob den dazugehörigen spitzen Bauch dazwischen und sagte laut, Regine, sie sei die Mutter von den Zwillingsmädchen Ursina und Flurina und zählte noch Gian, den Drittklässler, und Andri, ihren Kindergartenbub, auf.

Eigentlich hätte Lisette gerne von ihrer großen Reise auf der erweiterten Bodenseelinie über Lindau nach Krasnodar geschwärmt. Doch Regines Gesicht strahlte eine so ebenmäßige Zufriedenheit aus, als kenne es keinen Mangel an Ausweitung. Es verführte Lisette zu kindischen Reaktionen wie: Atem anhalten, dreimal gezielt mitten ins Gesicht niesen und etwas von Heuschnupfen murmeln. Regine schien wie für eine von Daniels Theorien erfunden zu sein. Die der ‹unversehrt Scheinsanften›, einer bestimmten Sorte Mensch, die vor allem in ländlich bis kleinstädtisch besiedelten, sanft hügeligen, außerordentlich fruchtbaren und wohlhabenden Landstrichen gedeihe. Daniel gab aber zu, dass, vor allem bei Frauen, oft ein optischer Reiz von den unversehrt Scheinsanften ausgehe.

Die schwangere Verkörperung seiner Theorie würde ihn bestimmt bestärken und amüsieren. Voll Neid schaute Lisette noch einmal in diese mit sich selbst sehr zufriedenen Züge. Und so aufgeräumt wie nur möglich verließ sie unter einem Vorwand den Schulhausplatz, zog das maulende Kind den eben begangenen Weg in Richtung Bahnhof zurück und wagte schon nach wenigen Schritten im Schaufenster des Baby-House einen ersten Blick. Das verschwommene Spiegelbild schaute heiter gefestigt zurück. AMERIKA!, dachte Lisette zum ersten Mal in ihrem Leben und hatte plötzlich den Wunsch nach höchster Gefahr.

Erleichtert ließ sie das Kind auf den Pausenplatz zurückrennen. Sie folgte ihm ein paar Meter, winkte und winkte, bis sie es unter all den anderen Kindern und Müttern nicht mehr erkennen konnte, dann bog sie in die Hauptstraße der Neuen Welt. Amerika! Ihre Zukunft würde fremd, wild und geheimnisvoll sein.

Lisette schlenderte von Schaufenster zu Schaufenster. Sie fuhr mit der Hand über die heruntergesetzten Waren an den Kleiderständern auf dem Trottoir. Manchmal prüfte sie die Beschaffenheit eines Stoffes genauer, indem sie ihn sanft zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. Es war Sommerschlussverkauf, die Sonne wärmte ihren Rücken und gab ihr einen unerschrockenen Auswandererschritt.

Sie sah die Hose sofort. Mein neues Leben, mein neues Leben, freute sie sich und grüßte. Die Hose schwieg.

Das Modehaus beim Kleiderständer nannte sich auf einem quer über das Schaufenster gespannten Band ‹First House›. Die auf der Glastür aufgereihten Namen der Modemacher schauten den Passanten provozierend unaufgeregt in die Augen. Lisette freute sich, ausnahmslos alle Designer namentlich zu kennen, und ohne einmal hineinzuschlüpfen, überreichte sie die unübersehbar japanische Hose der Kassiererin.

Frau Lotte Brummer: Lisette liebte es, fremde Menschen bei ihrem angeschriebenen Namen zu nennen, als sei man seit Jahren ein wenig miteinander bekannt. Nicht, dass sie unbedingt davon ausging, der angegebene Name gehöre zur Person. Eher dachte sie an einen ausgesuchten Namen für die jeweils auszuübende Tätigkeit, an einen offiziellen Stellennamen, so, wie sie manchmal selbst für eine begrenzte Zeit einen Rollennamen trug.

Der stämmigen Frau, in ihrer Rolle als Kassiererin im ersten Modehaus in Kreuzlingen, steckte der Rollenname, Frau Lotte Brummer, als schlichtes Namensschild an der rechten Brust. Sie trug ihre Haare schwarz gefärbt und zu einem mächtigen, sehr ordentlich wirkenden Turm hochgebunden. Nur einzelne Haare widersetzten sich dem Diktat.

Könnte sie wohl meine Mutter sein?, fragte sich Lisette und versuchte das Alter der stämmigen Kassiererin zu schätzen. Ein Button mit dem firmeneigenen Werbeslogan an der linken Brust lenkte sie kurz davon ab. Die Kassiererin ist gar nicht so alt, nahm sie den Faden wieder auf, es gefiel ihr, wie mühelos und mit nur ein wenig Wille und Anstrengung das Aufspringen gelang.

Handfest hatte Frau Brummer ihre Kassiererin angelegt, resolut, freundlich, lebenstüchtig, eine Frau, die mit beiden Beinen auf dem Boden stand, schwierige Zeiten tapfer meisterte, heikle Situationen vielleicht sogar mit einem Schuss Mutterwitz bewältigte.

Mutter Wolffen, Biberpelz, Gerhart Hauptmann. Ganz genau so, wie Lisette später einmal, in vielen Jahren, diese Waschfrau spielen würde.

Tasuta katkend on lõppenud.

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