Loe raamatut: «Tradition»
Katherine V. Forrest
Tradition
Kate Delafields 4. Fall
Deutsch von Anke Grube und Maren Klostermann
Ariadne Krimi 1037
Argument Verlag
Katherine V. Forrest bei Ariadne:
Romane mit Detective Kate Delafield:
Amateure (Ariadne Krimi 1015)
Die Tote hinter der Nightwood Bar (Ariadne Krimi 1007)
Beverly Malibu (Ariadne Krimi 1029)
Tradition (ariadne classic 009)
Treffpunkt Washington (Ariadne Krimi 1107)
Kreuzfeuer (Ariadne Krimi 1113)
Knochenjob (Ariadne Krimi 1125)
Vollrausch (Ariadne Krimi 1155)
Titel der englischen Originalausgabe: Murder by Tradition
© 1991 by Katherine V. Forrest
© Argument Verlag 2007
Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg
Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020
Die Übersetzung von Anke Grube und Maren Klostermann
wurde für die vorliegende Ausgabe von Benjamin Bartel bearbeitet.
Umschlaggrafik: Johannes Nawrath
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN: 978-3-86754-990-5
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Zweiter Teil
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Erster Teil
Kapitel 1
Kriminalkommissarin Kate Delafield fuhr die Third Street hinunter. Fünf Streifenwagen standen vor den gelben Plastikbändern, die den Tatort weiträumig absperrten und leicht in einer milden Brise flatterten. Sie bog in die Harper Avenue ein und parkte ihren Plymouth. Detective Ed Taylor kletterte mit einem lautstarken Gähnen aus dem Auto und streckte sich ausgiebig. Taylor wusste von vielen vorangegangenen Ermittlungen, dass seine Partnerin Wert darauf legte, sich dem Tatort in aller Ruhe und mit großem Respekt zu nähern. Er blieb daher ein kleines Stück zurück, als Kate ihr Notizbuch aus der Umhängetasche kramte und sich Datum, Uhrzeit und Temperatur notierte: Los Angeles, 4. Februar 1989, 7 : 35 Uhr, ungefähr 13 Grad Celsius. Mit Taylor im Kielwasser ging sie zur Third Street.
Der Verkehr rollte zu dieser frühen Stunde noch flüssig über die nahezu menschenleere Straße und geriet nur am Ort des Polizeiaufkommens kurz ins Stocken. An der Ecke Harp Street strahlte die Neonreklame eines Spirituosengeschäfts eine unvollständige Buchstabenfolge über die Kreuzung, an der bereits die ersten Straßenlaternen ihre Nachtschicht beendeten. Die Samstagmorgendämmerung lag in den letzten Zügen. An das Spirituosengeschäft schmiegte sich ein Restaurant mit dem klangvollen Namen Indigo, gefolgt von der Minassian Teppich-GmbH und einem Vortragsraum der Christian Science. Daneben ein Schönheitssalon, eine kleine Wäscherei. Dann das Tradition.
Das Restaurant in der Mitte der Häuserzeile, deren abgesperrte Peripherie von Felix Knapp und Chris Hollings bewacht wurde, war kaum breiter als ein Schaufenster. Kate nickte den beiden Beamten anerkennend zu. Die weiträumig gespannten Absperrbänder würden die Presse auf Abstand halten.
Taylor duckte sich unter den Plastikbändern durch, während Kate noch ein paar Schritte weiterging und nicht auf das angestrengte Stöhnen ihres Kollegen achtete. Sie warf einen Blick in das Schaufenster des angrenzenden Geschäfts. Andrias Mauerloch – eine Modeboutique. Schaudernd betrachtete sie die ausgestellten Kleidungsstücke, die sie nicht einmal zu einer Halloween-Party anziehen würde. Das nächste Gebäude war eine chemische Reinigung, dann ein kleines Bürohaus und an der Ecke der Sweetzer Avenue eine Mini-Einkaufspassage mit einem halben Dutzend Geschäften. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine nahezu identische, ebenso willkürlich erscheinende Aneinanderreihung von Geschäften, nur dass hier ein 7-Eleven Supermarkt das Straßenbild beherrschte. Daneben befand sich der HiFi-Tempel Taj Soundworks, dann ein leerstehender Laden mit zerbrochenen Fensterscheiben, ein Geschäft namens Objects, eine Druckerei, ein Supernail, ein Yogacenter sowie ein Verpackungsbetrieb.
Kate hielt alles säuberlich in ihrem Notizbuch fest. Dann ging sie zurück zum Tradition und tauchte unter dem Absperrband durch, um das Restaurant näher in Augenschein zu nehmen.
Weiße Fensterläden schmückten die untere Hälfte des Frontfensters, gobelinartige Vorhänge die obere. Ein kleiner wolkenförmiger Baldachin in Dunkelblau beschirmte die Tür, deren Glasscheibe mit dem gleichen Vorhangstoff verziert war wie das große Fenster.
Neben Sergeant Fred Hansen, der den Eingang bewachte, lehnte Taylor an der Außenfassade des Tradition und unterdrückte gerade ein weiteres Gähnen. Hansen, eine Hand auf dem Pistolenhalfter, in der anderen sein Klemmbrett, sah ihr entgegen. Sie nickte ihm zu: »Morgen, Fred.«
»Morgen, Kate.« Hansen erwiderte das Nicken und konsultierte mit düsterer Miene sein Klemmbrett. »Das Opfer heißt Edward Ashwell Crawford, weiß, männlich, genannt Teddie, T-e-d-d-i-e, laut Aussage seines Geschäftspartners.« Er deutete hinter sich. »Hübsches kleines Lokal mit angeschlossenem Partyservice.« Seine düstere Miene wurde weicher. »Netter kleiner Laden. Hätte nichts dagegen, selbst so was zu haben.« Der weiche Ausdruck auf seinem Gesicht verflüchtigte sich. »Abgesehen von der Küche. Wirklich idyllisch da drin. Sein Partner ist einmal durch den ganzen Raum geschliddert, um zu sehen, ob das Opfer noch am Leben ist.«
»Großartig«, murmelte Taylor. Er knöpfte sein Plaid-Jackett auf, zupfte an den Ärmeln und schob die Hände in die Taschen.
Kate kannte dieses nervöse Gezupfe nur zu gut – Taylor wappnete sich für das, was in der Küche des Tradition auf sie wartete. »Sonst noch was?«, fragte sie Hansen mit einer Brüskheit, die aus ihrer eigenen Anspannung resultierte, eine vertraute und notwendige Selbstschutzreaktion.
Hansen schüttelte den Kopf. »Der Partner ist völlig fertig, ich konnte nicht viel aus ihm rauskriegen.« Er deutete auf einen der Streifenwagen, der vor dem gelben Absperrband parkte. Im Fond saß ein Mann, den gebeugten Kopf in den Händen vergraben. »Pierce, Swenson, Foster und Deems überprüfen gerade die Umgebung, aber abgesehen vom 7-Eleven ist noch überall geschlossen. Hinter dem Restaurant gibt es eine kleine Allee. Sie wird gerade unter die Lupe genommen. Ich schätze, das Opfer ist schon seit ein paar Stunden tot. Das Blutbad da drin ist bereits am Eintrocknen.«
»Danke, Fred«, sagte Kate.
Hansen öffnete die Tür zum Tradition.
Eine Theke mit einer altmodisch verschnörkelten Registrierkasse füllte den vorderen Teil des langgestreckten Raums aus. An der Längswand befand sich eine gläserne Kühlvitrine. Sie war leer, aber die aufgeklebten handschriftlichen Schilder zeigten an, was hier eigentlich zur Auswahl stehen sollte: Limonenpasta mit Kräutern, gefüllte Weinblätter, Hähnchenbrust Dijon, Krabbensalat, buntes Gemüsebouquet.
Der hintere Teil des Lokals lag im Dunkeln, man konnte jedoch acht kleine Tische mit Tischtüchern erkennen, einen verschlissenen Orientteppich und kunstvoll verschnörkelte Eisenstühle mit gepolsterten Sitzflächen. Drei impressionistische Landschaftsbilder leuchteten traumartig aus dem Schatten hervor. Taylor sah sich um, kratzte die kahle Stelle an seinem Hinterkopf und drapierte einige helle blonde Haarsträhnen darüber. »Ziemlich halbseiden«, verkündete er.
Kate gefiel das Lokal, die sanfte Noblesse, die sich wohltuend vom lauten Kommerz der Straße abhob. Sie vermutete, dass das Restaurant eine treue Stammkundschaft anzog, die den unprätentiösen Charme zu schätzen wusste. Sie ging zur Theke und hielt einen Moment inne, um eine Karte in einem kleinen Weidenkorb zu lesen:
Tradition
Partyservice für Anspruchsvolle
Sie richtete sich auf, straffte die Schultern und ging auf die Tür hinter der Theke zu. Von der Türschwelle aus überflog sie zunächst mit schnellem Blick den Raum und begann sich dann sorgfältig umzusehen.
In der Mitte der Einbauküche, die mit zwei rostfreien Stahlspülen, resopalbeschichteten Arbeitsflächen und einem eingebauten Kühlschrank ausgestattet war, stand ein großer Tisch für die Essenszubereitung. Makellos, dachte Kate. Alles, was aus dieser Küche kam, würde sie bedenkenlos essen. Langsam ließ sie den Blick sinken, erforschte den Raum Abschnitt für Abschnitt, wie ein Kameraobjektiv. Der Schrank und die Wände waren strahlend weiß, abgesehen von einer recht umfangreichen Fläche direkt neben der Spüle, wo sich ein Muster von leuchtend roten Bögen und Spritzern mehrere Fuß hoch auf der Wand abzeichnete. Nah an der Fußleiste zog sich eine schmierige rote Spur entlang, als ob jemand mit der Hand darübergewischt hätte.
»Der Typ muss restlos ausgelaufen sein«, brummelte Taylor hinter ihr von der Türschwelle.
Sie senkte den Blick auf den glänzenden Fliesenboden. Der Leichnam von Edward Ashwell Crawford lag in einer riesigen Blutlache, die an den Rändern zu Rinnsalen zerfloss. In den Längsrillen zwischen den weißen Fliesen staute sich das Blut noch mehrere Fußbreit um die Leiche. Weitere vereinzelte Pfützen und Fußabdrücke bedeckten den übrigen Boden. Bei einigen der Fußspuren war deutlich zu erkennen, dass jemand auf dem glitschigen Untergrund ausgerutscht sein musste. Die schwarze Hose des Leichnams war blutgetränkt. Zwischen den Fetzen eines zerrissenen Hemds, das dunkelrot verfärbt an seinem Körper klebte, sah man an einigen Stellen weiße Haut hervorschimmern. Nur an einer Ecke des Kragens konnte Kate noch die ursprünglich weiße Farbe des Hemdes ausmachen. Teddie Crawfords Arme waren über der Brust verschränkt, als wollten sie das ausströmende Blut zurückhalten. Die leeren braunen Augen starrten zur Decke.
»Schweizer Käse«, kommentierte Taylor. »Den hat jemand total in Schweizer Käse verwandelt.«
»Es ist unglaublich, wie viel Blut ein Mensch hat«, murmelte Kate.
»Ein verdammt gutaussehender Junge«, verkündete Taylor.
Kate, die sich fragte, woran er das erkennen wollte, betrachtete den Körper genauer. Der Kopf lag in einer Blutlache, und das zerwühlte Haar, dunkel und kräftig, war davon durchtränkt; das kalkweiße Gesicht mit roten Tröpfchen bedeckt. Und doch – der Kopf war wohlgeformt, das Gesicht schön geschnitten. Lange dichte Wimpern umrahmten die starren, dunklen Augen, die Nase war aristokratisch geschwungen. Die Lippen wirkten selbst in der Starrheit des Todes noch voll und sinnlich, der Rumpf war schlank und wohlgeformt. Kate betrachtete die blutgetränkten Hände, die auffällig schmalen und feingliedrigen Finger des Opfers. Taylors Wahrnehmung inmitten dieses grausigen Blutbads überraschte sie. »Ja, du hast recht«, pflichtete sie ihm bei. »Äußerst gutaussehend.«
Und schwul. Das fühlte sie mit instinktiver Sicherheit. Sie beugte sich so weit wie möglich über die Türschwelle und betrachtete die Leiche. Die Handfläche wies nach unten, der kleine Finger war unnatürlich abgespreizt. Sie musste diesen Raum unbedingt näher untersuchen, und zwar so schnell wie möglich. Ungeduldig sagte sie: »So ein Mist! Wir können nichts tun, bevor der Gerichtsmediziner und die Spurensicherung da sind. Wir können nicht mal reingehen.«
Taylor deutete auf die verschmierten Blutlachen und Fußabdrücke. »Was willst du hier noch an Spuren verwischen?«
»Wir sollten es nicht noch schlimmer machen«, sagte Kate lakonisch. Als D-3-Kommissarin in diesem Mordfall trug sie die Verantwortung für die Ermittlungen, sie traf alle wichtigen Entscheidungen am Tatort. »Erst mal müssen Shapiro und Napoleon Carter hier gewesen sein. Vorher geht da niemand rein.«
»Siehst du das da?« Taylor deutete auf den Tisch.
Ein Stückchen Glas glänzte im fluoreszierenden Licht. Die Oberfläche war mit einer puderartigen Substanz bedeckt.
»Koks«, sagte er.
Kate zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich.«
»Eine Party, die außer Kontrolle geraten ist«, sagte Taylor. »Ziemlich außer Kontrolle.«
»Vielleicht«, sagte Kate und betrachtete die starren Augen des Toten. Sie hoffte, dass dieser wunderschöne junge Schwule nicht sterben musste, weil eine Party ›außer Kontrolle geraten war‹.
Kapitel 2
»Dieses Lokal war mein Leben«, schluchzte Francisco Caldera. »Jetzt ist alles sinnlos, ohne Teddie …«
Der bleistiftdünne Latino saß zusammengesunken auf dem Rücksitz eines Streifenwagens, die Füße hingen seitlich aus der offenen Tür. Er hielt die Arme verschränkt und umklammerte verzweifelt seinen eigenen Körper. Kate und Taylor standen neben der offenen Wagentür.
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte Kate. Mit Mühe hielt sie dem verzweifelten Blick des jungen Mannes stand, der zu ihr hochsah. Nach einem einzigen Blick auf Taylor hatte er seine Augen nicht mehr von ihr abgewendet. Obwohl sie wusste, dass dieser junge Mann ein Verdächtiger war, dass Mörder oft genauso viel oder sogar noch mehr Kummer zeigten als jeder andere, verspürte sie den fast unbändigen Wunsch, ihm tröstend über sein feines, weiches Haar zu streichen.
»Gestern Abend«, sagte er und wischte sich die Tränen ab. »Wir haben das Lokal um elf geschlossen.«
»Schließen Sie immer um elf?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir hatten einen größeren Auftrag für eine Party heute Abend. Wir haben noch Marinaden und Saucen vorbereitet …« Er hob die Hand und ließ sie mit einer hoffnungslosen Geste wieder in den Schoß fallen. Er trug ein weißes Baumwolljackett über einem lindgrünen Hemd, dazu eine großzügig geschnittene graue Hose.
»Wer ging als Erster?«, fragte Kate.
Für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Seine dunklen, feuchten Wimpern schimmerten im Sonnenlicht. »Teddie. Gloria hat ihn abgeholt.« Auf Kates fragenden Blick hin fügte er hinzu: »Gloria Gomez. Die beiden wohnen zusammen – drüben auf Crescent Heights.«
Teddie hatte also mit einer Frau zusammengewohnt. Trotzdem zweifelte Kate keinen Moment daran, dass Teddie Crawford schwul gewesen war. Ebenso wie Francisco Caldera. Vielleicht war die Frau, mit der Teddie Crawford zusammengelebt hatte, lesbisch. »Haben die beiden gesagt, wo sie hinwollten?«, fragte sie.
»Sie wollten ins Malone’s. Eine Bar in West Hollywood.« Mit bitterem Selbstvorwurf fügte er hinzu: »Teddie wollte, dass ich mitkomme. Aber ich war zu müde … wollte ja unbedingt ein bisschen Schlaf nachholen. Wenn ich nur mitgegangen wäre … vielleicht würde er jetzt noch …«
Kate dachte an Joe D’Amico vom kriminaltechnischen Labor, der dauernd irgendwelche Klatschgeschichten aus den Schwulenbars in West Hollywood und Silverlake zum Besten gab. Aber der Name dieses Lokals sagte ihr nichts. Vielleicht war es erst neu eröffnet worden? Oder vielleicht keine Schwulenbar? Beiläufig fragte sie: »Hat das Malone’s ein spezielles Publikum?«
»Gemischt. Es ist eine von Glorias Lieblingskneipen. Sie war da mit ihrem neuen Freund verabredet, um ihn Teddie vorzustellen.«
Gloria Gomez war also allem Anschein nach heterosexuell. Und das Malone’s zog eine bunte Mischung von Leuten ganz unterschiedlicher sexueller Orientierung und ethnischer Herkunft an, wenn sie Gloria Gomez’ Vorliebe richtig deutete.
»Diese Gloria«, sagte Taylor. »Wie hat sie sich mit Teddie verstanden?«
»Er war wie ein Bruder für sie. Alle mochten Teddie.«
»Mit einer Ausnahme offenbar. Erzählen Sie uns, was gestern Abend passiert ist.«
Caldera riskierte einen vorsichtigen Blick auf Taylor und schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was geschehen ist, nachdem Teddie das Restaurant verlassen hatte.«
Kate beobachtete ihren Partner. Sobald Taylor einem Mann begegnete, der irgendwie anders war als er selbst, musste er sich sofort aufblasen und seine vermeintliche Überlegenheit zur Schau stellen. Das jähe Aufflammen von Zorn verdrängte jeden Anflug von Müdigkeit in ihr. Francisco Caldera mochte in einer durch und durch amerikanischen Mittelschichtsfamilie geboren und aufgewachsen sein – für Taylor war er ein Latino und sonst gar nichts.
»Haben Sie mit eigenen Augen gesehen, dass Gloria Gomez ihn abgeholt hat?«, fragte Taylor.
»Sie hupte von der Allee her. Sie fährt einen Honda Civic, ich kenne die Hupe.«
Kate zog ihr Hosenbein hoch, stellte einen Fuß auf den Boden des Streifenwagens und beugte sich so weit zu Caldera vor, dass sie ihn fast berühren konnte. »Bitte sagen Sie uns«, sagte sie freundlich, »wann Sie heute Morgen hierhergekommen sind und was Sie gesehen haben.«
»Ich bin so gegen sieben ins Lokal gekommen …« Er sah sie an, seine dunklen Augen feucht vor Tränen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und versuchte so das Zittern seines Körpers in den Griff zu kriegen – ein vergebliches Unterfangen.
»Durch welche Tür sind Sie gegangen?« Taylor machte sich eifrig Notizen.
»Durch die Küchentür, wie immer. Dann sah ich Teddie dort liegen. Ich musste sehen, ob er … ich bin zu ihm gerannt … bin immer wieder ausgerutscht …«
Er senkte weinend den Kopf. Mit zitterndem Finger deutete er auf seine weißen Nike-Turnschuhe. »Das ist Teddies Bl …, das ist Teddies Blu …« Der Rest ging in erstickten Schluchzern unter.
Taylor fragte: »Haben Sie ihn berührt?«
»Ich weiß es nicht mehr, Sir.« Seine Stimme klang wie unter Wasser.
»Haben Sie die Leiche umgedreht?«
Caldera schüttelte den gesenkten Kopf. »Ich hatte Angst. Ich bin zum Telefon gerannt, dann kam die Polizei.«
»Warum hatten Sie Angst?«
Taylor sprach mit sanfter Stimme, aber Calderas Kopf zuckte hoch. »Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Es war Teddie. Mein Freund, der beste Freund, den ich je …« Er wurde erneut von einem Weinkrampf geschüttelt.
Taylor sagte: »Sie wussten, warum er ermordet wurde, deshalb hatten Sie Angst, richtig?«
Caldera starrte ihn an, während er versuchte, die Tränen von seinen Wangen zu wischen. »Mann, wovon reden Sie?«
Kate musste eingestehen, dass Taylor gute Fragen stellte. Dennoch mischte sie sich ein. »Was können Sie uns über Teddies Bekanntenkreis sagen?«
»Er kannte Gott und die Welt. Er kannte die ganze Straße hier, alle Nachbarn, da, wo er gewohnt hat. Er kannte einfach jeden.«
»Seine Familie«, sagte Kate. »Wissen Sie etwas über seine Familie?«
Er sackte noch weiter in sich zusammen, eine Hand über den Augen. »Joe und Margaret werden einfach …« Er schüttelte den Kopf.
»Joe und Margaret?«, wiederholte Taylor, während er sich eine Notiz machte.
»Sein Onkel und seine Tante. Sie haben ihn aufgezogen. Sie wohnen in einem Wohnwagenpark in Lancaster, aber Teddie besucht sie – ich meine, besuchte sie, sooft er … konnte. Oh mein Gott … er ist tot.« Seine Tränen waren nicht mehr aufzuhalten.
Kate, die Francisco Caldera eingehend betrachtete, musste wie so oft in solchen Situationen daran denken, wie unterschiedlich Menschen – sie selbst eingeschlossen – auf einen Verlust reagierten. Die Leute waren entweder starr vor Schock und verhielten sich ruhig, fast normal, so wie sie es getan hatte, oder sie wurden vom Schmerz überwältigt. So schwierig es sein mochte, diese Qual mitanzusehen – den Schmerz herauslassen zu können hatte zumindest den Vorteil, dass der Trauerprozess in Gang und Heilung in Aussicht war.
»Es tut mir leid«, sagte Kate. »Ich weiß, dass dies sehr schwer für Sie ist. Aber um den Täter zu fassen, müssen wir so schnell wie möglich mit unseren Ermittlungen beginnen.« Sie fragte: »Hatte Teddie irgendwelche Feinde? Fällt Ihnen jemand ein?«
»Nein, niemand. Ich versichere Ihnen, Teddie war überall beliebt.«
»Jeder hat Feinde«, konstatierte Taylor.
»Teddie nicht«, beharrte Caldera mit ruhiger Überzeugung.
»Kennen Sie seine Freundin?«
»Freundin?« Caldera sah ihn an. »Teddie war schwul. Wie ich.«
Da war es. Kate staunte, mit welcher Selbstverständlichkeit Francisco Caldera darüber sprach. Sie fragte: »Wie sind Sie beide miteinander ausgekommen?« Bevor Caldera antworten konnte, formulierte sie ihre Frage direkter: »War er Ihr Geliebter?«
»Nein. Da lief nichts.« Kate hatte den Eindruck, dass ein stark bedauernder Ton in der Antwort mitschwang. »Er war mehr als ein Partner, er war wie ein Bruder für mich. Wir beide haben alles, was wir besaßen, in dieses Lokal gesteckt. Aber er war die Seele des Ganzen. Ohne ihn bin ich verloren.«
Taylor sagte fast gelangweilt: »Sie sind beide noch sehr jung. Woher hatten Sie das Startkapital?«
»Das war mein Geld. Aber er hatte die Ideen. Teddie war der geborene Restaurantbesitzer. Und er hat die Gäste bezaubert, das Geschäft fing gerade an –«
»Okay«, sagte Taylor, »woher hatten Sie das Geld?«
»Versicherung.«
Obwohl Kate ahnte, was kommen würde, wartete sie gemeinsam mit Taylor auf eine weitere Erklärung.
»Ein Freund ist gestorben, okay?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Es tut mir leid, Mr. Caldera«, sagte Kate.
Caldera zuckte die Achseln. »Nennen Sie mich Francisco. Und ich habe schon viele Freunde verloren … sehr viele.«
»Francisco«, sagte sie und lächelte. »Hatte Teddie einen festen Freund?«
Seine Züge entspannten sich, als er sie ansah. »Nichts Ernstes. Nicht seit Carl.«
»Erzählen Sie uns von Carl.«
Er zuckte die Achseln. »Da gibt’s nichts zu erzählen. Er ist Geschichte, seit über einem Jahr schon.«
Taylor fragte: »Wo können wir ihn erreichen?«
»Er steht im Telefonbuch. Carl Jacoby, Silverlake. Aber er hat mit dieser Sache nichts zu tun. Er hat die Beziehung zu Teddie abgebrochen, als sich herausstellte, dass er positiv war.«
»Teddie war HIV-positiv?« Taylors Stimme war plötzlich lebhaft geworden.
»Nein, nicht Teddie. Carl.«
»Ihr Freund Teddie hat ihn angesteckt«, kombinierte Taylor. »Stimmt’s?« Er gestikulierte so gebieterisch in Richtung Tradition, dass Kate sich beinahe umgedreht hätte. Sie stand mit dem Rücken zum Restaurant, um das unschöne Bild der blutgetränkten Küche abzuwehren.
»Nein, Teddies Test war negativ.«
Taylor schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
»Die Vorstellung, Teddie angesteckt zu haben, machte Carl große Angst. Er war so außer sich, dass er aus Teddies Leben verschwand.« Er sah Kate an, während er sprach. »Das passiert. Wenn du positiv bist, siehst du alles mit anderen Augen. Alles.«
Der Kriminaltechniker Napoleon Carter und sein Team waren am Tatort eingetroffen, außerdem die Expertin für Blutspuren, Charlotte Mead, der Fotograf Ted Carlton sowie Shapiro, der Fotograf vom Wilshire-Revier.
Kate sagte: »Wir werden später noch einmal mit Ihnen sprechen müssen, Francisco.« Leise fragte sie: »Wie alt war Teddie?«
»Dreiundzwanzig«, sagte er und brach in Tränen aus.
Das Tradition war aus allen Ecken und Winkeln fotografiert worden. Der Leichnam von Teddie Crawford stand zwar nicht mehr unter Blitzlichtbeschuss, würde aber trotzdem noch eine geraume Weile auf dem Boden liegen bleiben müssen. Charlotte Mead und Ted Carlton hatten gerade erst mit ihrer Arbeit begonnen. Am Ort des Verbrechens breitete sich in der erwachenden Tageshitze allmählich der starke Kupfergeruch des Blutes aus.
»Ed, Kate«, bellte Charlotte Mead von der Spüle aus.
Kate lächelte der großen, hageren Frau im blauen Kittel zu. Sie hatte schon in mehreren Mordfällen, in denen eine Blutspurenanalyse nötig gewesen war, mit ihr zusammengearbeitet. Charlotte Mead war brillant in ihrem ebenso komplizierten wie mühevollen und ausgefallenen Beruf.
»Kommen Sie hier herüber – alle beide«, befahl Mead. »Stecken Sie die Hände in die Taschen! Wehe, Sie fassen was an! Ed, passen Sie auf, wo Sie Ihre Elefantenfüße hinsetzen.« Sie deutete auf eine Kreideroute, die um das Blutbad auf dem Boden herumführte.
Taylor schritt über die Türschwelle. »Keine Sorge, ich geh auf Zehenspitzen – wie eine Elfe.« Er stopfte die Hände in die Jackentaschen, Kate tat es ihm gleich – eine routinemäßige Vorsichtsmaßnahme, um nicht einmal versehentlich einen Gegenstand zu berühren. Kate war allerdings überzeugt, dass es für Taylors Vorsicht diesmal noch einen tieferen Grund gab: Der Tote war schwul gewesen, und dieser Raum schwamm in Blut.
»Euer Messerstecher hat sich geschnitten«, verkündete Mead. »Sehen Sie diesen hübschen runden Blutstropfen?« Sie deutete mit ihrem Stift auf einen kreisrunden roten Fleck auf der Abstellfläche neben der Spüle. »Wir haben einen Swimmingpool auf dem Boden, aber dieser Tropfen hier ist mutterseelenallein. Also kann er kaum vom Toten stammen. Und hier drüben auf einem der Wasserhähne ist auch Blut. Und hier an der Seife. Im Abfluss werden wir zweifellos ebenfalls Blut finden. Der Täter hat versucht, sich zu säubern.«
Meads verwitterte Gesichtszüge traten vor Eifer noch schärfer hervor. Ihr berufsmäßiges Interesse an diesem frischen Mordschauplatz schien noch relativ ungetrübt. Meads Aufgabe war es, den Tathergang für die Geschworenen zu rekonstruieren. Nur zu oft erschwerte die Polizeipräsenz – vielmehr deren Hände und Füße – diese Aufgabe.
Kate sah mit Respekt und ein wenig Neid auf Charlotte Mead. Ihr Fachwissen – und das der anderen Kriminaltechniker – war der einzig wirklich unparteiische Aspekt einer Mordermittlung. Mead stand nur auf der Seite ihrer wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse, und ihre Zeugenaussage vor Gericht konnte ebenso gut die Staatsanwaltschaft wie die Verteidigung zur Verzweiflung treiben. Egal, um was es gehen mochte, sie hielt sich strikt an die Fakten.
Kate sagte: »Gibt es sonst noch etwas, das Sie uns jetzt schon sagen können?«
Mead zeigte auf die Wand und die Schränke hinter der Leiche von Teddie Crawford. »Da sind ausgeprägte Schleuderspuren.« Mit ihrem Stift beschrieb sie einen Bogen in der Luft und zeichnete die schwachroten Blutspritzer nach, die sich auf den weißen Oberflächen weit nach oben zogen. »Euer Mann hat beim Zustechen Blut abgeschleudert. Sein eigenes Blut. Er hat zweifellos Schnittwunden. Überprüfen Sie die Krankenhäuser und Kliniken.«
»Wir werden das sofort veranlassen, Charlotte. Von der Waffe keine Spur, oder?«
»Sie wissen doch, Kate – die meisten schieben ihren Schniedel wieder in den Stall.«
»Ich frag ja nur.« Kate grinste sie an. Nach einer verbreiteten Ansicht unter Kriminalern deutete das mehrfache Zustechen mit einem Messer auf sexuelle Pathologie hin.
Meads blaue Augen fixierten die Leiche auf dem Boden. Sie schüttelte den Kopf. »Schauen Sie sich das bloß an. So ein schöner Mann. Es ist wirklich ein Jammer.«
Einen Moment lang betrachteten sie beide schweigend Teddie Crawford. Dreiundzwanzig Jahre waren alles, was er erlebt hatte. Um den Rest hatte man ihn betrogen.
»Seien Sie vorsichtig, Charlotte«, warnte Taylor. »Der Typ war schwul, wissen Sie.«
Kate warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
Charlottes Stimme blieb ebenso ausdruckslos wie ihr Gesicht. »Ich bin die Vorsicht in Person, Ed.«
Hansen informierte Kate und Taylor, dass Gloria Gomez im Tradition eingetroffen war.
»Bringen Sie sie aufs Revier«, ordnete Kate an. »Ed und ich werden gleich da sein. Fred«, fügte sie hinzu, »sagen Sie uns umgehend Bescheid, wenn der Gerichtsmediziner da ist.« Sie wollte dabei sein, wenn Teddie Crawfords Leiche abtransportiert wurde. Charlotte Mead hatte ihr nützliche Informationen gegeben. Zu wissen, dass der Mörder verletzt war, grenzte die Zahl der Verdächtigen schon erheblich ein.
Vor den gelben Absperrbändern, die das Tradition abschirmten, hatten sich zahlreiche Schaulustige und Zeitungs- sowie Fernsehreporter versammelt. In trauter Eintracht warteten Menge und Fernsehkameras auf die gerechte Entlohnung für das lange Ausharren: einen kurzen Blick auf die Bahre mit der Leiche Teddie Crawfords, die zum bereitstehenden Wagen der Gerichtsmedizin gerollt wurde.
Inzwischen war auch Lieutenant Bodwin eingetroffen und betrat in Begleitung von Kate und Taylor das Tradition. Taylor informierte ihn über das Nötigste. Ohne eine Regung in den tiefen Furchen seines Gesichts musterte Bodwin von der Türschwelle aus die Küche, kein Wort kam über seine Lippen. Seine Aufgabe würde es sein, mit der Presse zu sprechen.
»Charlotte sagt, der Täter hat sich verletzt, Lieutenant«, berichtete Taylor. »Wir brauchen jemanden, der sofort alle Krankenhäuser und Ärzte überprüft.«
Ein kaum wahrnehmbares Zucken ging durch Bodwins Körper. Ohne den Blick vom Küchenboden abzuwenden, antwortete er: »Er müsste schon ein verdammter Volltrottel sein, um in ein Krankenhaus zu gehen, oder?« Damit kehrte er der Küche und dem arbeitenden Laborteam den Rücken zu.
»Gut für uns, dass es so viele Volltrottel unter den Verbrechern gibt«, entgegnete Kate freundlich.
Bodwin wusste so gut wie sie, dass kriminelles Verhalten wenig mit Intelligenz zu tun hatte. Seine spontane Bemerkung hing eher mit seiner unversöhnlichen Abneigung gegen Charlotte Mead zusammen. Mead, die alle Statusfeinheiten grundsätzlich ignorierte, würde selbst Chiefinspector Daryl Gates zur Schnecke machen, sollte er sich je erdreisten, die Unberührbarkeit eines Tatorts zu verletzen. Lieutenant Bodwin jedenfalls hatte es bitter bereut, dass er einmal unbedarft in einen Verbrechensschauplatz hineinmarschiert war. Charlotte Mead hatte seine Fingerabdrücke auf einem Beweisgegenstand gefunden und dafür gesorgt, dass der Bericht in der ganzen Abteilung die Runde machte.
»Ich werde jemanden damit beauftragen«, sagte Bodwin und ging hinaus, um sich den Fernsehkameras zu stellen.