Loe raamatut: «Jetzt kennen Sie 28 Dirigentinnen!»

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Kathrin Hasselbeck Jetzt kennen Sie 28 Dirigentinnen! Der langsame Wandel eines männlich dominierten Berufsbildes

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Kathrin Hasselbeck

Jetzt kennen Sie 28 Dirigentinnen!

Der langsame Wandel eines männlich dominierten Berufsbildes

Kennen Sie eine Dirigentin? Der Nachname würde für den Anfang schon reichen. Mein Smartphone kannte nicht mal die Berufsbezeichnung. Tippte ich »Dirigentin«, korrigierte es automatisch zu »Dirigent in«. Da so eine künstliche Rechthaberintelligenz aber auf Weiterlernen programmiert ist, weiß sie inzwischen: It’s a thing! Und das nicht nur im Singular: Auch »Dirigentinnen« sind im Wortschatz meiner Autokorrektur angekommen. Da hat mein Smartphone den Bayreuther Festspielen etwas voraus. Dort wird dieses Jahr zum ersten Mal eine Dirigentin zu Gast sein: Oksana Lyniv. Auch bei den Salzburger Festspielen schaffte es bisher nur eine einzige Frau, eine Opernpremiere zu dirigieren: Joana Mallwitz konnte letztes Jahr die Bühne im Großen Festspielhaus erobern. Ihre »Così« wurde bejubelt und kehrt diesen Sommer wieder zurück. Dann soll außerdem noch Mirga Gražinytė-Tyla mit ihrem City of Birmingham Symphony Orchestra auftreten. Außer diesen beiden Dirigentinnen nennt das Programmbuch für 2021 20 Dirigenten. Wenn die Salzburger Festspiele so weitermachen, sind wir schon 2030 bei fifty-fifty. Das ist natürlich optimistisch gerechnet.

Bleiben wir optimistisch: Denn jetzt kennen Sie schon drei! Und zwar drei richtig gute. Könnerinnen, fantastische Musikerinnen! Joana Mallwitz, Mitte 30, Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg und »Dirigentin des Jahres« 2019.1 Im selben Jahr widmet ihr die Süddeutsche Zeitung eine »Seite Drei«.2 Dort liest man von ihrer zügigen, aber nie übereilten Karriere, man lernt Mallwitz als blitzgescheite, hochtalentierte, gestaltungsmächtige und arbeitssüchtige Maestra kennen – und als Musikjunkie, der ganze Nächte mit Partitur und Klavier verbringt. Ein Name, den man sich merken sollte.

Das gilt auch für Mirga Gražinytė-Tyla, ebenfalls Jahrgang 1986, ebenfalls zur Dirigentin des Jahres gewählt.3 Sie machte 2016 Schlagzeilen, als sie mit nur 29 Jahren Chefdirigentin des City of Birmingham Symphony Orchestra wurde. Das europäische Feuilleton war aus dem Häuschen, weil sie damit so bedeutenden wie gefeierten männlichen Vorgängern wie Simon Rattle oder Andris Nelsons folgt. Außerdem konnte sie sich 2019 als erste Dirigentin einen Label-Exklusivvertrag sichern – bei der Deutschen Grammophon. Ihren für deutsche Augen und Zungen herausfordernden Namen hat sie selbst gewählt – als Künstlernamen. »Tyla« ist in ihrer litauischen Heimatsprache die »Stille«. Sie möchte Taten sprechen lassen, nicht Worte.4 Und dieser Name steht auch auf der Rangliste der »Top-Konzertdirigenten 2019« des internationalen Online-Musikmagazins Bachtrack. Die Liste folgt nicht qualitativen, sondern quantitativen Kriterien – der Auswertung von weltweit knapp 35 000 Veranstaltungen. Sechs Jahre zuvor war unter den Top-100-Dirigenten eine einzige Frau. 2019 sind es immerhin acht.5

Die Zahlen zeigen es: Frauen am Pult sind rar

Schauen wir uns noch ein paar Zahlen an. Das Beste gleich zu Beginn: Immerhin 36,2 Prozent der Menschen, die in Deutschland 2018/2019 Dirigieren studieren, sind weiblich.6 Ernüchterung folgt beim Blick auf die Führungspositionen in Deutschland, vor allem, was die Stellen als Chefdirigentinnen und Generalmusikdirektorinnen betrifft: Im Januar 2021 stehen fünf Frauen 121 Männern gegenüber.7 Das sind knapp vier Prozent – international liegt die Frauenquote nur unwesentlich höher, nämlich knapp unter fünf Prozent.

Wer sind die fünf hauptberuflichen Orchesterleiterinnen auf Chefpositionen in Deutschland? Neben Joana Mallwitz an der Staatsoper Nürnberg: Judith Kubitz (dirigierende Intendantin beim Sorbischen National-Ensemble Bautzen), Julia Jones (Wuppertaler Bühnen), Ewa Strusińska (Theater Görlitz) und Anna Skryleva (Theater Magdeburg). Mehr als die Hälfte dieser Stellen liegt in Ostdeutschland, das in Sachen Gleichstellung vor Westdeutschland liegt.8 Nur zwei der von Frauen geleiteten Orchester entsprechen der höchsten Qualitätsstufe nach TVK 9 A: Nürnberg und Wuppertal. Was aber besonders auffällt: Vier dieser fünf Stellen sind an Musiktheatern. Das Podest der Dirigentin befindet sich also im Orchestergraben. Für diejenigen, die gewollt oder ungewollt schon lange kein Opernhaus mehr betreten haben: Je nach Architektur des Saals sieht man mal die Taktstockspitze, mal den Haarschopf, meist aber gar nichts vom Menschen auf dem Podest. Manche Zungen behaupten, es sei kein Zufall, dass Frauen im 20. Jahrhundert eher die Möglichkeit bekamen, an der Oper zu dirigieren als im Konzertsaal.10 Das Publikum möge doch vor dem Schock dieses ungewohnten Anblicks bewahrt werden. Wobei hier nicht unerwähnt bleiben soll, dass auch Opernorchester hin und wieder Konzerte auf der Bühne geben.

Natürlich dirigieren Frauen auch große Symphonieorchester – derzeit in Deutschland allerdings nur als Gastdirigentinnen. In den vergangenen 50 Jahren hatten dennoch manche feste Chefposten inne. Nein, nicht bei den Berliner Philharmonikern oder der Dresdner Staatskapelle. Sondern beim Städtischen Symphonieorchester Solingen (Sylvia Caduff) oder bei der Neubrandenburger Philharmonie und den Bergischen Symphonikern (Romely Pfund). Generalmusikdirektorinnen an deutschen Theatern gab es noch einige mehr, zum Beispiel in Ulm (Alicja Mounk), Meiningen (Marie-Jeanne Dufour), Mainz (Catherine Rückwardt), Hamburg (Simone Young), Halle (Ariane Matiakh) oder Freiburg im Breisgau (Karen Kamensek). Und damit auch wieder in Orchestergräben – aber nicht nur. In vielen mittelgroßen Städten gibt es nur ein Orchester, das sowohl am Theater im Graben als auch im Konzertsaal auf der Bühne spielt. Ganz so wortwörtlich »versteckt« können also die letztgenannten Dirigentinnen nicht gewesen sein.

Verlässt man den wortwörtlichen Bereich, dann trifft das mit dem Verstecken dennoch zu. Die genannten Zahlen zeigen klar, dass Frauen am Pult der großen Orchester mit dem gängigen symphonischen Repertoire eine Rarität sind. Punkt. Das weltweit meistbeachtete Klassik-Event, das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, wurde noch nie von einer Frau dirigiert. Dirigentinnen verstecken sich anderswo, in den Nischen – und da ist ihr Anblick gewohnt. In der Alten Musik, bei den Originalklangensembles, haben sich beispielsweise Emmanuelle Haïm, Christina Pluhar, Michi Gaigg oder Katharina Bäuml einen Namen gemacht, ohne erst gläserne Decken durchbrechen zu müssen. Vielleicht, weil es eine Szene ist, die weniger wert aufs Rampenlicht legt, die weniger beachtet, flexibler, kreativer, bunter ist? Weil die Musik, die sie aufs Programm setzt, historisch betrachtet oft gar keinen Taktstock braucht? Oder weil die »historisch informierte Aufführungspraxis« selbst erst im 20. Jahrhundert entstand und damit nicht so schwer von der Tradition des Maestro-Mythos aus dem 19. Jahrhundert überschattet ist? Ähnliches trifft auch auf A-cappella-Chormusik und Neue Musik zu. Auch diese Genres kommen gut ohne Pult-Diktator*innen aus und ziehen womöglich deswegen häufiger dirigierende Frauen an.

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