Loe raamatut: «Spiegelfluch & Eulenzauber»

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Spiegelfluch & Eulenzauber
Kathrin Solberg

Copyright © 2020 by


Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: info@drachenmond.de

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-606-6

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Prolog

1. Lisbeth

2. Anthea

3. Anthea

4. Anthea

5. Anthea

6. Lisbeth

7. Lisbeth

8. Anthea

9. Lisbeth

10. Anthea

11. Anthea

12. Lisbeth

13. Lisbeth

14. Anthea

15. Lisbeth

16. Lisbeth

17. Lisbeth

18. Anthea

19. Lisbeth

20. Lisbeth

21. Anthea

22. Lisbeth

23. Anthea

24. Lisbeth

25. Lisbeth

26. Anthea

27. Anthea

28. Anthea

29. Lisbeth

30. Anthea

31. Lisbeth

32. Anthea

33. Lisbeth

34. Anthea

35. Lisbeth

36. Lisbeth

37. Anthea

38. Lisbeth

39. Anthea

40. Lisbeth

41. Anthea

42. Lisbeth

43. Anthea

44. Lisbeth

45. Anthea

46. Anthea

47. Lisbeth

48. Anthea

49. Lisbeth

50. Anthea

51. Lisbeth

52. Anthea

53. Lisbeth

54. Anthea

55. Lisbeth

56. Anthea

57. Anthea

Epilog

Danksagung

Prolog
Anthea


Wenn ich die Augen schließe, kehre ich zurück zu der Nacht, in der der Spiegel verschwand. Vor mir liegt eine Lichtung, flach und schwarz. Der Sommer steckt noch in den Kinderschuhen, ich erinnere mich an den süßlich-bitteren Geruch der Holunderblüten. Ich erinnere mich auch an meine Angst. Fühle sie wieder wie eine Faust, die mein Herz zusammendrückt.

Ein Gebüsch verbirgt mich vor den Blicken der Jäger. Meine Knie sinken in den Waldboden und Nässe kriecht aus der Erde in meine Kleidung. Jenseits meines Versteckes leuchten zwei Fackeln.

Die Angst lähmt mich. Ich bin sieben Jahre alt, kauere im Schutz des Gestrüpps wie ein Hasenjunges und fühle mich genauso hilflos.

Ganz ruhig, sagt Matejs Stimme in meinem Kopf. Du bist sicher. Sie wissen nicht, dass wir hier sind.

Obwohl ich meinen Gefährten nicht sehen kann, weiß ich, dass er auf der anderen Seite der Lichtung im Unterholz lauert. Mit einem siebten Sinn, den ich in jenen Tagen noch nicht hinterfrage, nehme ich wahr, wie Matej mit den Schatten zwischen den Bäumen verschmilzt und sich so leise wie ein Lufthauch bewegt. Er beobachtet die Männer auf der Lichtung, genau wie ich.

Es sind sechs und sie alle tragen die gleiche Uniform: langärmelige Hemden mit engen Manschetten und darüber ein ledernes Wams. Das Licht der Fackeln färbt die Ärmel der Hemden rot, aber ich weiß, dass sie eigentlich eine grüne Farbe haben. Wir haben die Jäger lange genug verfolgt. Die Jäger und den Albtraum, den sie mit sich tragen.

Mein Blick klebt an den Männern, weil ich nicht auf die Mitte der Lichtung sehen will. Dort haben sie ihn aufgestellt, übermannshoch und mit einem Tuch verhängt: den Spiegel. Allein wenn ich an ihn denke, kriecht eine Gänsehaut meine Arme hinauf.

Am Rand der Lichtung steht ein Pferdekarren. Die Tiere sind unruhig. Vielleicht wegen des Spiegels, oder vielleicht, weil sie als Einzige Matejs Nähe spüren. Der Wolf hat diese Wirkung auf Beutetiere. Noch während ich hinsehe, springt ein weiterer Jäger von der Ladefläche des Wagens und geht auf die Mitte der Lichtung zu. Er ist jünger als die anderen, vermutlich um die sechzehn Sommer alt. In seinen Armen trägt er ein Kind. Es ist in einen Umhang gewickelt, aber seine Beine und nackten Füße baumeln über dem Arm des jungen Mannes.

Ich weiß bereits, was jetzt passieren wird. Als wir die Jäger quer durch die nördlichen Provinzen verfolgt haben, stießen wir drei Mal auf Orte, in denen kleine Mädchen verschwunden waren. Matej hatte mir erklärt, was das bedeutete.

Die Fackelträger rücken näher an den Spiegel heran, während ihr Anführer, ein Graubart mit Schatten unter den Augen, die Hand nach dem Tuch ausstreckt. Die Angst brennt jetzt wie Brennnesselgift unter meiner Haut. Ich ziehe mich tiefer ins Gebüsch zurück, mache mich noch kleiner.

Ruhig, wiederholt Matej, aber mein Herz schlägt so schnell und so hoch in meiner Brust, dass es sich anfühlt, als ob ein Schmetterling aus meiner Kehle entkommen will.

Der Anführer zieht das Tuch herunter und offenbart den kreisrunden Spiegel. Das Glas gleißt im Mondlicht; oder zumindest glaube ich das. Erst später werde ich mich daran erinnern, dass der Himmel in jener Nacht bewölkt war. Der Spiegel leuchtete von innen heraus.

Die Jäger warten, die Gesichter dem Spiegel zugewandt, die Fackeln erhoben. Einen Moment lang erstarrt die Szene auf der Lichtung, dann fährt ein Windhauch über die Fackeln und lässt die Flammen flackern. Keiner der Bäume rings um die Lichtung regt sich, tatsächlich weht nicht einmal ein leises Lüftchen. Aber wenn es keinen Windstoß gab, was habe ich dann gesehen? Den Atem des Spiegels?

Der Jäger mit dem Kind geht auf die Mitte der Lichtung zu, mit schleppenden Schritten, so als würde er schlafwandeln. Wenige Handbreit vor dem Spiegel legt er das Kind auf dem Boden ab und öffnet den Mantel. Es ist tatsächlich ein Mädchen. Ich kann sein Gesicht nicht sehen, aber die kleine Hand, die jetzt auf dem Gras liegt, zuckt schwach. Der Anführer der Jäger zieht ein Messer mit einer glänzend schwarzen Klinge aus seinem Gürtel.

Ein Wimmern dringt über meine Lippen, aber diesmal beruhigt Matej mich nicht. Er ist selbst so gespannt wie eine Bogensehne. Gleich. Gleich wird er seine Gelegenheit bekommen.

Als der Jäger das Messer hebt, glänzt das Licht des Spiegels auf der Klinge. Mit einer raschen Bewegung zieht er die Schneide über seine Handfläche und drückt die blutende Hand gegen das Glas. Er raunt etwas, was ich nicht verstehe.

Mittlerweile kann ich den Blick nicht mehr abwenden. Ich höre ein leises Klirren und Knirschen, dann erzittert das Glas und die Hand des Jägers sinkt durch den Spiegel wie durch die Oberfläche eines Sees.

JETZT. Matejs Gedanke dröhnt in meinem Kopf wie eine Glocke. Der Weg an den Ort hinter dem Spiegel steht offen. Wenn Matej jetzt losrennt, wird es ihm dann gelingen, wovon er so lange geträumt hat? Wird er durch den Spiegel springen und auf der anderen Seite die eine Frau finden, deren Verlust er niemals verkraftet hat?

Auf den Wink ihres Anführers hin heben zwei Männer das Mädchen hoch und tragen es mit den Füßen voran auf den Spiegel zu. Das Glas schlägt Wellen, als der älteste Jäger seine Hand zurückzieht. Es wird nur wenige Augenblicke dauern, bis sich die Barriere wieder schließt.

Myrsina. Matej gräbt die Krallen in den Boden und rennt los. Ich bin jetzt aus seinen Gedanken verschwunden. Sein ganzes Wesen sehnt sich nach Myrsina, der Maskenschneiderin mit den glutroten Haaren. Seine Gefährtin. Die Frau, die der Spiegel vor einem Jahr verschlungen hat.

Mein eigener Kopf ist viel zu voll. Matejs Sehnsucht überlagert sich mit meiner Angst und der Szene, die sich immer noch auf der Lichtung abspielt. Ich spüre den weichen Waldboden unter Matejs Pfoten, während die Männer das Mädchen in den Spiegel schieben. Sein Fuß berührt das flüssige Glas. Das Geisterlicht des Spiegels gleitet über ihre Haut, dann streckt sich eine weiße, durchscheinende Hand nach ihr aus und umfasst ihren Knöchel.

Jetzt kommt der Moment. Der Moment, der mich verfolgen wird. Der Moment, in dem ich Matej verrate. Die Angst und das Entsetzen fluten meinen ganzen Körper, fegen alles andere fort, jede Vorsicht, jeden Vorsatz, leise zu sein.

Ich schreie. Und mache damit all unsere Pläne zunichte.

1

Lisbeth


September 1552

Etschtal, nördlich der Alpen

Lisbeth hasste es, in einer Kutsche zu reisen. Sie wurde nicht nur durchgeschüttelt, sie bekam auch nichts zu sehen. Als wäre das Holzgitter vor den Fenstern nicht einengend genug, versperrten zusätzlich Vorhänge die Sicht nach draußen. Gott verhüte, dass die Insassen mit einer frischen Brise oder einem Hauch Sonnenlicht in Berührung kamen.

Wie viel lieber wäre sie mit ihrem Gefolge geritten, am besten inmitten ihrer Hundemeute. Sie vermisste Fenn, ihren liebsten Jagdgefährten. Aber ihn hier in der Kutsche einzusperren wäre die reinste Folter gewesen. So konnte wenigstens einer von ihnen die Straße entlang­jagen.

Sie seufzte. Es war nicht zu ändern. Gerade die Ankunft in ihrem neuen Anwesen sollte allen Regeln der höfischen Etikette folgen. Ihre Mutter hatte ihr oft genug eingebläut, dass der erste Eindruck der wichtigste war. Lisbeth wusste, dass sie recht hatte. Also ließ sie sich wie ein Gepäckstück zur Burg ihres frisch angetrauten Mannes transportieren, saß in einem viel zu ausladenden Kleid auf der gepolsterten Bank und drehte an den Ringen an ihren Fingern.

Klara saß ihr gegenüber und fächerte sich Luft zu. »Ich hoffe, wir sind bald da«, sagte sie. »Dieses Gerüttel schlägt mir auf den Magen. Ich hab mich seit gestern nicht mehr getraut, auch nur einen Krümel zu essen.« Die Kutsche donnerte in ein besonders tiefes Schlagloch und die Frauen stützten sich an den Seitenwänden der Kutsche ab. Als die Kutsche sich auch noch mit einem Ruck zur Seite neigte, stieß Lisbeth mit der Schulter gegen die Wand.

»Jesus Maria«, fluchte Klara.

Lisbeth lächelte. »Sei froh«, sagte sie. »Ich glaube, dein Wunsch geht in Erfüllung.« Sie lehnte sich zur Tür und schob den Vorhang zur Seite. Zwischen dem filigranen Gitterwerk erhaschte sie einen Blick auf Dornenhecken und eine hohe Mauer. Vermutlich die unterste Ringmauer der Burg Wolkenstein.

Draußen trieb der Kutscher die Pferde an und es ging steiler bergan. Reihen aus grünen Weinstöcken blitzten hinter einer weiteren Mauer auf, dann rumpelte die Kutsche in den Schatten eines breiten Tores. Lisbeth ließ den Vorhang wieder vor das Fenster gleiten.

»Wir sind da.«

Klara seufzte. »Gott sei Dank.«

Hufe klapperten über Pflastersteine, jemand rief etwas, dann zügelte der Kutscher die Pferde und sie kamen zum Stehen. Stille senkte sich über die Kutsche.

Lisbeth stieß einen langen Atemzug aus. »Also gut. Wie sehe ich aus?«

Klara legte ihren Fächer beiseite und beugte sich vor. Mit ein paar geschickten Handbewegungen brachte sie Lisbeths Frisur in Ordnung und ordnete die Perlen ihres Geschmeides.

»Aphrodite aus den Wellen«, sagte sie.

Lisbeth schnaubte. »Mit ein paar zusätzlichen Lagen aus lächerlich schwerem Stoff.« Sie strich sich den Rock glatt und klopfte an die Wand der Kutsche. Augenblicklich öffnete sich die Tür. Draußen stand ein grauhaariger Mann im aufwendigen Wams des Burgverwalters. Ein Diener huschte herbei und stellte ein Holztreppchen vor den Ausgang der Kutsche. Lisbeth stand auf und wuchtete ihr Kleid und sich selbst aus der Kutsche.

»Die Herrin Elisabeth von Zirm, Gräfin von Dornsberg«, verkündete der Burgverwalter lauthals. Er verbeugte sich, reichte ihr die Hand und half ihr die Stufen hinunter auf den Hof.

Einer der Sänger im Gefolge ihres Ehemannes hatte Lisbeth die Burg Wolkenstein als einen Prachtbau inmitten eines fruchtbaren grünen Tales beschrieben: Der Sonnengott selbst hat eure neue Heimat gesegnet. Zumindest heute stimmte das. Ein blauer Himmel spannte sich über den Zinnen und die Sonne ließ die weiß getünchten Gebäude leuchten.

Die Kutsche hatte in einem weiten Innenhof haltgemacht und wie es schien, hatten sich alle Bewohner der Burg zur Begrüßung der neuen Gräfin versammelt. Knechte, Mägde, sogar die Köche mit ihren weißen Kappen und einige Kinder, die sich alle Mühe gaben, still zu stehen. Die Soldaten, die Graf Konrad zum Schutz der Burg hiergelassen hatte, standen auf der anderen Seite der Kutsche in Reih und Glied.

Als Lisbeth auf den Hof trat, verbeugten sich die Männer und die Frauen sanken in einen tiefen Knicks. Klara stieg hinter Lisbeth aus und in dem Moment polterte der erste Wagen von ihrem Gefolge in den Hof. Pferde trabten die Auffahrt zur Burg hinauf und Lisbeth hörte ein aufgeregtes Bellen.

Jakob hatte die Hunde tatsächlich frei laufen lassen. Guter Mann. Lisbeth registrierte die Ankunft ihrer Entourage, konzentrierte sich jedoch auf das Burgvolk vor ihr. An der Spitze einer Gruppe gut gekleideter Damen stand eine stattliche Frau mit kastanienbraunen Haaren. Ihre Kleider waren mindestens so opulent wie die von Lisbeth und in dem Netz, das ihre Haare zusammenhielt, funkelten winzige Edelsteine. Sie war eindeutig die Ansprechperson in dieser Versammlung. Lisbeth trat näher.

Der Knicks dieser Frau war eine Andeutung, gerade tief genug, um den Ansprüchen zu genügen. Lisbeth war kurz in Versuchung, sie länger als nötig verharren zu lassen, aber was würde sie dadurch gewinnen? Sie wollte mit diesen Menschen leben. Sich am ersten Tag Feinde zu machen wäre unklug.

»Werte Dame«, sagte sie daher und gab ihr mit einem Wink die Erlaubnis, sich zu erheben.

Die Frau richtete sich augenblicklich zu ihrer vollen Größe auf. Lisbeth lächelte und ihr Gegenüber hob ihre Mundwinkel um einen ganzen Millimeter.

»Die Herrin Barbara von Dornsberg«, stellte der Burgverwalter sie vor.

Meine Schwägerin, dachte Lisbeth. Soso.

»Schwester«, sagte Barbara, beugte sich vor und gab Lisbeth einen Kuss auf die Wange. Sie roch nach Lavendel und ihre goldenen Ohrringe glitzerten, als sie sich zurückzog. »Willkommen auf Burg Wolken­stein.«


Bereits nach ihrem ersten Gespräch mit Barbara war Lisbeth klar, dass die Berichte über Burg Wolkenstein ein wichtiges Detail ausgelassen hatten. Graf Konrads letzte Frau war zwar verstorben, aber auf Wolkenstein gab es immer noch eine Burgherrin. Nach dem ersten Hofknicks und der förmlichen Begrüßung übernahm Barbara ganz selbstverständlich die Führung. Sie löste die Versammlung im inneren Burghof mit einer Handbewegung auf und führte Lisbeth und Klara ins Innere des Palas, dem Hauptgebäude im Herzen der Burganlage.

»Es ist nicht schwer, sich hier zurechtzufinden«, sagte sie, als ein Diener ihr die große Flügeltür zum Palas öffnete. »Wenn Ihr so weit seid, können wir die einzelnen Flügel besichtigen und ich stelle Euch den Burgverwalter vor.« Sie schritt zügig durch die offene Tür und Lisbeth warf Klara einen vielsagenden Blick zu. Klaras Meinung über Barbaras rüdes Verhalten stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Ein Imbiss steht für Euch bereit, sobald Ihr euch frisch gemacht habt«, fuhr Barbara fort. »Am frühen Nachmittag können wir dann mit einem Rundgang durch die Gärten fortfahren. Die Lavendelbüsche und Kräuterkissen sind erst in diesem Frühjahr nach italienischem Vorbild angelegt worden. Anderswo wäre so ein Vorhaben sicher nicht umzusetzen, aber in unseren Gärten gedeihen sogar Orangenbäumchen. Ihr werdet bald feststellen, dass wir mit einem vorzüglichen Klima gesegnet sind.«

Lisbeth verkniff sich einen Kommentar. Es war nicht schwer, Barbara zu durchschauen. Mit jedem ihrer Sätze pries sie die Erhabenheit der Burg an und stellte gleichzeitig klar, dass sie über das Anwesen und seine Abläufe Bescheid wusste. Das war wohl zu erwarten gewesen. Wenn sie gewohnt war, das Heft in der Hand zu halten, dann bedurfte die Ankunft einer neuen Gräfin eine gewisse Zeit der Umstellung. Lisbeth war gewillt, ihr diese Zeit einzuräumen. Solange diese Zeit nicht das vernünftige Maß überschritt.

Barbara führte sie durch einen hohen Durchgang, an dessen Wand sich das Wappen der Grafen von Dornsberg befand, ein viergeteilter Schild mit zwei Schwänen und zwei dreimal gebrochene Balken auf jeweils rotem und silbernem Untergrund. Ein Durchgang führte hinaus in einen Arkadenhof. Barbara ging weiter und wandte sich in Richtung einer Treppe, die zu ihrer Rechten nach oben führte.

Lisbeth fand, dass sie lange genug hinter der anderen Frau hergegangen war. Anstatt Barbara zu folgen, ging sie weiter geradeaus, bis sie zwischen zwei Säulen am Rand des Arkadenganges stand. Vor ihr öffnete sich ein Lichthof mit einem Mosaikboden aus Sandstein. Rosmarinsträucher in großen Kübeln standen zwischen den Säulen zu allen Seiten des Hofes und in der Mitte plätscherte ein Brunnen. Der Anblick erinnerte Lisbeth an die Innenhöfe, die sie bei einem Besuch in Florenz gesehen hatte.

Barbara, die Lisbeths Zurückbleiben schnell bemerkt hatte, tauchte an ihrer Seite auf. »Die Burg ist seit dem Abzug der Bischöfe in unserem Familienbesitz, aber die wichtigsten Neuerungen haben wir in den letzten fünf Jahren vorgenommen. Dieser Hof ist eine davon. Wie Ihr seht, öffnet er sich an vier Seiten zu den Wohngebäuden. Eine einzigartige Architektur, wie man mir versichert hat.« Sie wies nach oben zu einem Loggiengang, der einmal um den ganzen Hof lief. »Eure Gemächer befinden sich im zweiten Stock.«

Das war also der nicht ganz subtile Hinweis, dass der Rundgang weitergehen sollte. Lisbeth lächelte milde.

»Der Hof ist sehr schön«, sagte sie. »Er erinnert mich an den Stadtpalast der familia da Montefeltro. Der Marmor dieses Brunnens stammt direkt aus Konrads Steinbrüchen, nehme ich an?«

Barbara musterte sie kurz von der Seite. »In der Tat.«

»Euer Steinmetz hat sicher wundervolle Arbeit geleistet.« Lisbeth spürte förmlich, wie Barbara zögerte. Die korrekte Reaktion wäre jetzt, Lisbeth zu ermutigen, sich den Brunnen näher anzusehen. Das würde jedoch Barbaras Ablaufplan unterbrechen und Lisbeth ahnte bereits jetzt, dass ihre Schwägerin keine Freundin von Verzögerungen war. Sie ließ Barbara noch einen Moment zappeln, dann drehte sie sich immer noch lächelnd zu ihr um. »Ich freue mich darauf, mehr über mein neues Heim zu erfahren«, sagte sie. Ihr entging nicht, dass Barbara bei den Worten ›mein neues Heim‹ kurz die Stirn runzelte. Touché. Lisbeth lächelte noch herzlicher. »Wollen wir nach oben gehen?«, schlug sie vor. »Ich bin sicher, der Blick auf den Hof wird aus dem zweiten Stock noch beeindruckender sein.«


»Wir haben die besten Gärtner für die Gestaltung des Gartens kommen lassen«, imitierte Klara. »Die besten Steinmetze und die besten Unkrautjäter und die besten Lakaien, um mir bei dieser ganzen Lobhudelei den Schweiß von der Stirn zu tupfen.«

»Sch«, warnte Lisbeth. »Wir wissen noch nicht, wie viele Ohren diese Wände haben.«

»Wenn sie Ohren haben, dann nur die besten der besten«, erwiderte Klara.

Sie lachten, und oh, es tat gut, die Maske der tadellosen Edeldame abzulegen. Barbara hatte sich verabschiedet, sobald sie Lisbeth und Klara in den Gemächern der Gräfin abgesetzt hatte. Eine der Mägde sollte Lisbeth zum Speisezimmer führen, sobald sie bereit war.

Lisbeth begrüßte die Verschnaufpause und die Gelegenheit, ihr neues Domizil in Augenschein zu nehmen. Sie war zufrieden. Sehr zufrieden. Beim Anblick der Wandvertäfelung aus dunklem Eichenholz, dem Deckengemälde aus Weinlaub und Äpfeln, den kunstvoll geschnitzten Truhen und dem Himmelbett wallte eine Woge von Stolz in ihr auf. Das alles gehörte jetzt ihr. Barbara hin oder her.

Mit schnellen Schritten ging sie zum nächstgelegenen Fenster und stieß es auf. Ihre Gemächer lagen im Westflügel des Haupthauses und von hier hatte sie einen atemberaubenden Ausblick über das Tal. Es war tatsächlich wundervoll grün. Obstwiesen erstreckten sich über viele Meilen unterhalb der Burg. Das blaue Band der Etsch schlängelte sich zwischen Feldern und Weilern dahin und erst in einiger Ferne begrenzte eine Bergkette die Reichweite ihrer neuen Besitztümer.

Lisbeth lehnte sich über den Sims nach draußen. Wenn sie sich nach rechts drehte, konnte sie über den Zinnen der Ringmauern die Wälder sehen, die sich die Hügel hinter der Burg hinauf erstreckten. Dunkle Eichen warteten dort, und sicherlich ganze Scharen von Hirschen und Wildschweinen. Hier würde sich gut jagen lassen.

Du hättest es schlechter treffen können, sagte sie sich, aber gerade dieser Gedanke dämpfte ihre Freude. Wie oft musste sie sich das noch einreden, bis endlich auch der letzte hartnäckige Funken Enttäuschung verglommen war? Sie hoffte, dass es nicht allzu lange dauern würde. Sich ein Leben zu wünschen, das für sie ohnehin nie möglich gewesen wäre, war Zeitverschwendung.

Lisbeth trat vom Fenster zurück und drehte sich um. Zwei ihrer eigenen Diener trugen die erste Truhe ihrer Aussteuer in das Zimmer nebenan. Klara machte sich umgehend daran, die Diener anzuweisen und den Inhalt der Truhe zusammen mit einer der Mägde zu sichten. Lisbeth legte indes ihre Perlen ab und löste die Bänder, die ihre Ärmel an ihrem Mieder befestigten. Sie schritt quer durch den Raum, warf die viel zu bauschigen Ärmel auf das Bett und begann, die Verschlussklammern ihrer Ohrringe zu lösen. Neben dem opulenten Bettgestell mit seinen samtenen Vorhängen wartete ein Frisiertisch und daneben ein mannshohes Möbelstück, das mit einem schwarzen Tuch verhängt war. Stirnrunzelnd nahm Lisbeth ihren ersten Ohrring ab und trat näher. Ein paar Falten des Tuches waren verrutscht und gaben die untere Ecke eines Spiegels preis. Im ersten Moment war sie irritiert, dann begriff sie. Dies waren die Gemächer der Gräfin. Das bedeutete, dass ihre Vorgängerin hier gelebt hatte – und wohl auch in diesem Raum gestorben war.

Lisbeth war Konrad Graf von Dornsbergs dritte Frau. Nummer zwei starb vor ein paar Monaten im Kindbett, zusammen mit dem ersehnten Erben. Nummer eins war vor Jahren an irgendeiner Krankheit gestorben und der einzige Sohn, der aus dieser Ehe hervorgegangen war, hatte in einem Scharmützel das Zeitliche gesegnet. Graf Konrad drängte verständlicherweise darauf, einen Nachfolger zu zeugen. Seine dritte Ehe war daher schnell und umstandslos geschlossen worden.

Lisbeth machte sich keine Illusionen: Ihre Verbindung hatte einen klaren Zweck. Aber das hieß nicht, dass sie nicht das Beste daraus machen konnte. Ihre Familie sah das ohne Zweifel genauso, auch wenn Lisbeths Mutter auf eine Verbindung gehofft hatte, die ihre Familie noch etwas näher an den Kaiserhof rücken würde. Aber, wie sie so schön sagte, es brachte nichts, sich zu beklagen.

Ich hoffe, du bist stolz, Mama, dachte Lisbeth, aber allein schon der Gedanke schmeckte bitter. Gertrud von Zirm war nicht die Art von Mutter, die eine Tochter übermäßig lobte. Oder überhaupt lobte.

Die Frage, welche Hoffnungen Lisbeth mit einer Heirat verknüpfte, war zu keiner Zeit gestellt worden. Die Verhandlung über ihre Ehe hatten ihr Vater und Graf Konrad untereinander geführt. Als Ergebnis hatte ihr Vater ein paar Ländereien gewonnen, und Konrad eine junge Frau im besten gebärfähigen Alter. Nachdem sich beide Parteien einig waren, war Konrad kurz beim Stammsitz von Lisbeths Familie vorstellig geworden. Ihre Ehe wurde sozu­sagen auf der Durchreise geschlossen, der Graf war auf dem Weg zu einem Konzil in Trient. Der Vollzug der Ehe ging schnell und relativ schmerzlos vonstatten, und die Unterhaltungen, die Lisbeth bisher mit ihrem Ehemann geführt hatte, waren mit ›Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen‹ und ›Ich bevorzuge roten Wein‹ schnell zusammengefasst.

Nachdem also alles amtlich war, war Konrad nach Süden weitergezogen und Lisbeth hatte ihren Umzug nach Burg Wolkenstein vorbereitet. Über kurz oder lang würde Konrad zurückkehren und dann wohl so viel Zeit wie möglich zwischen ihren Laken verbringen wollen. Nun gut.

Lisbeth legte ihre Ohrringe auf dem Frisiertisch ab und löste das Netz, das ihre aufgesteckten Haare bedeckte. Dabei glitt ihr Blick zurück zu dem verhängten Spiegel. Sie sollte das Tuch herunter­ziehen; es war nun wirklich kein einladender Anblick. Eigenartig, dass die Dienerschaft das versäumt hatte. Vermutlich wurde es im Eifer des Gefechts vergessen, oder die Leute hier waren übermäßig abergläubisch. Der Brauch besagte, dass man nach dem Tod eines Menschen alle spiegelnden Oberflächen verhängen sollte, damit sich die Seele der Verstorbenen nicht darin verfing. Aber sechs Monate waren sicherlich genug Zeit, damit die Seele der zweiten Gräfin ins Himmelreich entschweben konnte.

Lisbeth legte ihr Haarnetz ab und suchte mit den Fingerspitzen nach den Haarnadeln. Sie wollte sich eben dem Spiegel zuwenden, als ein Windstoß vom offenen Fenster das Tuch bewegte. Eine weitere Handbreit Glas kam zum Vorschein. Lisbeth blieb mit der Hand an ihren Haaren stehen. Für einen Augenblick, einen winzigen Augenblick, hatte es so ausgesehen, als würde sich etwas auf dem Glas bewegen. Ein Schatten, der sich kräuselte und vor dem plötzlichen Lichteinfall zurückzog. Aber das konnte nicht sein, oder? Das hatte sie sich eingebildet.

Lisbeth spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten, aber noch bevor sie sich für ihr Hasenherz schelten konnte, marschierte Klara in den Raum.

»Dann wollen wir dich mal herausputzen.« Sie wuchtete ein frisches Kleid auf das Bett und warf einen kritischen Blick auf den verhängten Spiegel. »Wer hat denn diesen Staubfänger hier liegen gelassen?« Mit diesen Worten trat sie vor und zog das Tuch mit einem Ruck herunter.

Lisbeth zuckte zusammen, aber im nächsten Moment kam sie sich albern vor. Das, was zum Vorschein kam, war nichts weiter als ein gewöhnlicher Spiegel. Ein rechteckiger Rahmen aus Kirschholz und eine gläserne Spiegelfläche, die bereits einige schwarze Flecken aufwies. Wahrscheinlich war es das, was sie vorhin gesehen hatte.

Alberne Gans, schalt sie sich selbst. Was sie jetzt brauchte, war ein Glas Wein und etwas zu essen. Klara war nicht die Einzige, die während der Kutschfahrt gefastet hatte.

»Und?«, fragte Klara und begann, die Haarnadeln aus Lisbeths Haaren zu ziehen. »Bereit für Runde zwei?«

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