Loe raamatut: «Der Sturm entfacht von Herwarth Walden»

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Kerstin Herrnkind

Der Sturm entfacht von Herwarth Walden

Expressionismus für Einsteiger

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Expressionismus - was ist das eigentlich?

Herwarth Walden - biografisches Stationen vor 1910

"Der Sturm" entfacht von Herwarth Walden. Die Geschichte der Zeitschrift von 1910 bis 1914

"Prüderie und sittliche Verlogenheit" - die Programmatik der Zeitschrift

"Der Sturm" und "Die Brücke"

Die Eröffnung der Sturm-Galerie 1912

Die ersten Sturm-Ausstellungen 1912

"Wir wollen den Krieg preisen ..." Der Wirbel um die Futuristen-Ausstellung 1912

„Farben- und Formenwahnsinn“ - der Skandal um die Kandinsky-Ausstellung in Hamburg

„Tollwütige Pinseleien“ - der Erste Deutsche Herbstsalon 1913

Erster Weltkrieg - "Der Sturm" von 1914 bis 1918

Das Ehepaar Walden in geheimer Mission - oder „The art of propaganda“

„Blödsinn oder grober Unfug" - die Kontroverse um den Dichter August Stramm

„Krankhafte Erscheinungen“ und „verbrecherischer Bluff“ - die Sturm Kunsttheorie

Sturm-Kreis, Sturm-Kunstschule, Sturm-Abende, Sturm-Bühne

Herwarth Walden ein Macho?

"Der Sturm" von 1919 bis 1928 - Waldens politisches Engagement

"Expressionismus ist Kunst. Weiter nichts." Das politische Engagement der Sturm-Künstler und die neue Sturm-Kunsttheorie

Waldens Kampagne gegen Paul Westheim und der Streit ums Honorar mit Chagall und Kandinsky

Walden als Kommunist

„Der Sturm“ verebbt

Waldens Schicksal nach 1932

"Der Sturm" und andere Zeitschriften des Expressionismus - ein Vergleich mit "Die Aktion“

"Der Sturm" und seine Bedeutung für die Moderne

Literaturnachweise

Literaturliste

Impressum neobooks

Expressionismus - was ist das eigentlich?

„Der Sturm“ gehört neben den Zeitschriften „Die Aktion“ und „Die weißen Blätter“ zu den wichtigsten Sprachrohren der expressionistischen Bewegung (1). Doch was verbirgt sich eigentlich hinter dem Wortungetüm „Expressionismus“? Die Experten unter Euch und Ihnen können nun getrost umblättern. Für diejenigen aber, die schon immer über dieses Wortungestüm gestolpert sind, hier der Versuch einer kurzen Erklärung. Die Betonung liegt auf „kurz“, denn natürlich kann dieser Abriss weder der Bewegung noch dem Begriff gerecht werden. Denn selbst in den Augen von Experten ist „der Expressionismus nun einmal ein höchst komplexes Gebilde, das sowohl künstlerisch als auch weltanschaulich nur schwer auf einen Nenner zu bringen ist“ (2).

Das Wort „Expressionismus“ kommt aus dem Lateinischen. „Expressio“ heißt Ausdruck (3) und „exprimere“ ausdrücken (4). Daraus leitet sich der Begriff „Ausdruckskunst“ ab, der synonym für „Expressionismus“ verwandt wird (5).

Ein besonderes Problem der Definition besteht daran, dass der Begriff nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch „zur Bestimmung von Stilepochen der bildenden Künste und der Musik“ (6) verwandt wird. Das liegt daran, dass der Ausdruck „zunächst von der bildenden Kunst und der Musik geprägt, dann von Musik und von der deutschen Literatur“ (7) übernommen wurde. Es handelt sich also um einen „Sammelbegriff“ (8), der nur als „Provisorium“ verstanden werden kann.

In der Malerei konzentriert sich der Expressionismus „unter Verzicht auf die naturgetreue Wiedergabe (10) auf die „Herausarbeitung des Geistigen, Seelischen" (11). In der Literatur hat die Ausdruckskunst zum Ziel, „möglichst rein das seelische ,Ich' auszudrücken in dem Glauben, damit das Wesentliche über die Welt und die Dinge auszusagen“ (12). „Alles künstlerische Schaffen“ - ob nun in der bildenden Kunst oder in der Literatur - „soll nunmehr die Projektion des tieferen ,Ich' des Künstlers“ (13) darstellen. Die Expressionisten verstehen sich als Gegenbewegung zur „materiellen Wirklichkeitsabbildung“ (14) des Naturalismus und zur reinen „Wiedergabe äußerer Eindrücke“ (15) des Impressionismus. „Das Werk betrachtet nicht mehr die äußere Wirklichkeit, sondern schlägt eine andere Wirklichkeit vor, und zwar die des Künstlers“ (16).

Bei dem Versuch zu klären, wann und wo der Begriff „Expressionismus“ das erste Mal aufgetaucht ist, stößt man auf die unterschiedlichsten Theorien. In einer alten Ausgabe von „Knaurs Lexikon der modernen Kunst“ heißt es: „Herwarth Walden ... prägte ihn um 1911, um mit ihm ziemlich unterschiedslos alle fortschrittlichen, künstlerischen Richtungen seiner Epoche - einschließlich Kubismus, Futurismus und abstrakter Kunst zu bezeichnen“ (17). Die ersten schriftlichen Belege für die Verwendung des Begriffs in Deutschland datieren ebenfalls aus dem Jahr 1911 (18). Im Katalog einer Ausstellung der Berliner Secession bezeichnet der Begriff Bilder von Braque, Derain, Picasso, Vlaminck u.a. (19). Der Sturm erwähnt „im Juli 1911 den Begriff zum ersten Mal (20), und zwar im Rahmen einer Ausstellungsbesprechung.

Die expressionistische Bewegung entsteht um die Jahrhundertwende und wird von Künstlern ins Leben gerufen, die zwischen 1875 und 1895 (21) geboren worden sind. Diesen jungen, meist „aus wohlsituiertem Bürgertum“ (22) stammenden Künstlern und Schriftstellern ist eins gemeinsam: „Der Protest gegen das in alten Autoritätsstrukturen erstarrte wilhelminische Bürgertum und gegen eine zunehmende Mechanisierung des Lebens, die Angst vor einer Bedrohung des Geistes und die Vorahnung einer apokalyptischen gesellschaftlichen Katastrophe“ (23), die sich 1914 mit dem Ersten Weltkrieg auch bewahrheitet. Hinzu kommen die gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen in den Jahrzehnten von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, die sich „für die expressionistische Generation im Erlebnisraum Großstadt“ (24) verdichten. Die ehemalige Reichshauptstadt Berlin, eines der Zentren der expressionistischen Bewegung, wächst beispielsweise von 800.000 Einwohnern im Jahre 1870 auf über zwei Millionen im Jahr 1910. 1920 - also zum Ende des expressionistischen Jahrzehnts - sind es über vier Millionen Einwohner (25). Darüber hinaus entwickelt sich die bis dahin agrarische oder kleinstädtische Lebensform gewöhnte deutsche Nation innerhalb von 50 Jahren zu einer Industriegesellschaft. Diese existentiellen Entfremdungs- und Angsterfahrungen der jungen Generation schlagen sich vor allem in der Lyrik (26) nieder, wie zum Beispiel in dem Gedicht „Städter“ von Alfred Wolfenstein (* 28.12.1883 in Halle (Saale) † 22.1.1945 in Paris), das aus urheberrechtlichen Gründen hier leider nur stark verkürzt zitiert werden darf:

„Nah wie Löcher eines Siebes stehn Fenster beieinander, drängend fassen Häuser sich so dicht an, dass die Straßen Grau geschwollen wie Gewürgte sehn … Und wie stumm in abgeschloßner Höhle … Steht doch jeder fern und fühlt: alleine. (27) Auch in der Bildenden Kunst spiegelt sich diese Orientierungslosigkeit im Erlebnisraum Großstadt wider, wie zum Beispiel in dem Bild: „Ich und die Stadt“ von Ludwig Meidner. Es zeigt ein Gesicht, das zwischen Häuserschluchten versinkt. Die politischen Ereignisse zwischen 1914 und 1923, also der Krieg, die Revolution, die Nachkriegsmisere und die Inflation, haben den „gesteigerten Ausdruckswillen“ (28) in der Literatur und in der bildenden Kunst zweifellos stark beeinflusst. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass die expressionistische Bewegung schon 1910 deutlich ausgeprägt ist. Die politischen Ereignisse sind nur als ein Teilaspekt bei der Entstehung der expressionischen Bewegung zu berücksichtigen. Die Angst vor der „Selbstentfremdung vom Mitmenschen“ und „von der Gesellschaft vor allem“ (29) hat seinen tieferen Ursprung in der Ablehnung des Naturalismus als Kunstrichtung und als Lebensphilosophie. Der Naturalismus drückt das Lebensgefühl des Menschen im neunzehnten Jahrhundert aus, das durch die Industrialisierung und die zahlreichen Entdeckungen auf dem Gebiet der Technik, der Chemie, der Heilkunde, der Physik etc. geprägt ist: „Die Natur als Wirklichkeit, die Natur als Übermacht, die Natur als regulierendes Gesetz“ (30). Doch diese Naturgesetze, die zum Maß aller Dinge erhoben werden, „legten sich als ... Schlingen um das Individualgefühl des Menschen, zogen sich enger und erstickten es" (31). Die Menschen fühlen sich klein, machtlos und ausgeliefert. “Der Mensch war zum bloßen Anhängsel der Natur geworden, und die Natur, gestachelt von ihrem trunkenen Freiheitsgefühle, stürmte hohnlachend davon und schleifte den geschundenen Menschen am Boden hinter sich her" (32). Diese Geisteshaltung schlägt sich auch in der bildenden Kunst und in der Literatur nieder. Der Naturalismus strebt eine möglichst genaue Abbildung der Wirklichkeit an und lässt der Fantasie keinen Spielraum. Dieses Weltbild, das alles und jedes mit Naturgesetzen zu erklären versucht, und das sich auch in der strengen wilhelminischen Gesellschaftsordnung widerspiegelt, ist der Nährboden für den Expressionismus und die Zurückbesinnung auf das Seelische, das mehr und mehr an Bedeutung zu verlieren scheint. Um die „Erneuerung des Menschen“ (33) und damit der Gesellschaft zu erreichen, gehen die Expressionisten unterschiedliche Wege. Die einen vertrauen sich „ganz der Seele an, die ihnen als die große Heilkraft für den Einzelnen und die menschliche Gesellschaft erscheint - ihre Dichtung ist ein Weg nach innen - die anderen einzig dem Geiste, der hier mit dem aufklärerischen Verstande gleichgesetzt wird - ihre Dichtung ist Politik" (34).

Doch welchen Weg diese jungen Dichter und Künstler auch einschlagen, sie finden sich alle in den zahlreichen expressionistischen Zeitschriften wieder. Dass sich Walden der Bedeutung seiner Zeitschrift sehr bewusst ist, zeigt ein Zitat aus dem Jahr 1918: „Alle Künstler, die eine führende Bedeutung für den Expressionismus haben, sind an einer Stelle vereint. - Diese ist der Sturm“ (35).

Die Zeit zwischen 1910 und 1920 wird in der Literatur oft als „das expressionistische Jahrzehnt“ beschrieben. Die Rolle des Expressionismus in dieser Zeit war jedoch gering. Die Kulturlandschaft wurde damals viel weniger von expressionistischen, futuristischen, aktivistischen und dadaistischen Impulsen geprägt, als es von manchen Zeitgenossen nachträglich dargestellt worden ist. „Die Öffentlichkeit lachte und spottete“ (36) zwar über die Expressionisten, „meist aber schwieg“ sie (37). Die Stilismen der Jahrhundertwende standen in der Gunst des Publikums nach wie vor ganz vorn: „Klassiker-Rezeptionen im Zeichen eines trivialen Neuidealismus, der gediegene Roman des poetischen Realismus und nicht zuletzt die Heimatkunstbewegung, waren für das breite Publikum und seine kulturellen Bedürfnisse gewiss repräsentativer als Expressionistisches“ (38).

Herwarth Walden - biografisches Stationen vor 1910

Als der expressionistische Dichter und Dramatiker August Stramm gefragt wurde wurde: „Was ist der Sturm“, antwortete er: „Der Sturm ist Herwarth Walden“ (1). Herwarth Walden der „Gründer und Leiter des Sturm vom ersten bis zum letzten Tage“ (2), war die „Seele des Sturm“ (3). Seine persönliche Entwicklung vom unpolitischen Streiter für die Moderne sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur hin zum Kommunisten (4) spiegelt sich im Sturm wider. Bei der Gründung ist „Der Sturm“ ausschließlich als „Wochenschrift für Kultur und die Künste“ (5) gedacht. Im Laufe seiner 22-jährigen Geschichte entwickelt sich „Der Sturm“ mit dem verstärkten politischen Engagement des Herausgebers auch zu einer politischen Zeitschrift. Die Geschichte der Zeitschrift ist nicht zu trennen von der Persönlichkeit des Herausgebers.

Herwarth Walden wird am 16. September 1878 in Berlin als Georg Lewin geboren. Seine Eltern sind der Arzt Victor Lewin und dessen Ehefrau Emma, geborene Rosenthal (7). Den Künstlernamen Herwarth Walden wird ihm seine erste Frau Else Lasker-Schüler verpassen. Sie nennt ihn erst Goldwart, den Musikanten. Später

wird Herwarth Walden sein offizieller Name (8).

Walden entstammt einer jüdischen Familie. Seine Eltern sind jedoch keine praktizierenden Juden; trotz ihrer Abstammung sind sie keine aktiven Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Berlin (9). Herwarth Walden genießt im Elternhaus also offenbar keine jüdische Erziehung und fühlt sich auch später nicht als Jude. Wenn es überhaupt einen Anhaltspunkt für die Verwurzelung Waldens mit der jüdischen Tradion gibt, dann äußert sich diese in seinem „Umgang mit dem Wort und das Erleuchten eines Wortinhalts“ (10), der später in seinem Kampf für die Wortkunst zum Ausdruck kommt. Renate Krüger schreibt in ihrem 1966 erschienenen Buch: „Die Kunst der Synagoge - eine Einführung in die Probleme von Kunst und Kult des Judentums": „Die jüdische Bilderwelt ist eine illustrative Unterstützung des geschriebenen Wortes, das im Judentum einen größeren Wert und eine intensivere Wirkung besitzt als in anderen Religionen, auch im Christentum“ (11). Herwarth Walden geht in Berlin auf das Königstädter und das Leibnitzgymnasium (12). An den Berliner Gymnasien besuchen die Schüler seinerzeit je nach Konfession evangelischen, katholischen oder jüdischen Religionsunterricht (13), so kommt Walden mit dem jüdischen Glauben in Berührung. Herwarth Walden führt sich nach Berichten von Zeitzeugen jedoch weder traditionell noch national gebunden, und so kennt auch die Kunst, für die er sich später so vehement einsetzt, keine geographischen oder andere Grenzen. Nell Walden schreibt über ihren Mann: „Wenn mich jemand fragte: Wer war Herwarth Walden, dann müßte ich mit seinem eigenen Wort antworten: Ein Europäer. Er kannte und anerkannte keine traditionellen Bindungen. Er fühlte sich nie als Jude, aber auch nicht als Deutscher. Er liebte zwar Berlin, aber nicht, weil er dort geboren war, sondern weil ihm die Berliner Art gefiel ... Die deutsche Landschaft war ihm ebenso gleichgültig wie irgendeine andere auf der Welt. Es ist ja alles nur Thüringen, pflegte er zu sagen. Damit meinte er etwas recht Hübsches, aber gänzlich Bedeutungsloses“ (14). Trotzdem dürfte seine Geburtsstadt Berlin Waldens fast kosmopolitische Einstellung geprägt haben. Denn „schon in der wilhelminischen Periode entwickelt sich die Reichshauptstadt zu einer für diese Zeit gigantische Weltstadt“ (15). Berlin ist schon vor der Jahrhundertwende mit seinen 100 Vorbahnhöfen, 25 Fernbahnhöfen und den 40 Stadt- und Ringbahnhöfen (16) zu einer Art Knotenpunkt in Europa geworden. „Berlin ist die Hauptstadt der Vereinigten Staaten Europas“ (17) hat Herwarth Walden selbst einmal über seine Heimatstadt gesagt. Zwar toben in Berlin zu dieser Zeit „heftige soziale Kämpfe“ (18), dennoch entwickelt sich die damalige Reichshauptstadt zu einer kulturellen Hochburg. Es gibt in Berlin über 100 Zeitungen, eine Vielzahl von Zeitschriften und Gazetten, zahlreiche größere und kleinere Theater sowie Galerien und Kunstausstellungen (19). Nell Walden beschreibt die Atmosphäre Berlins in den ersten 25 Jahren dieses Jahrhunderts so: „Diese Zeit ... war eine Blütezeit der Kultur und Kunst in Deutschland. Die Verschmelzung von jüdischem Geist und jüdischer künstlerischer Begabung mit deutschen Kultur- und Kunstelementen hat zu einem Niveau an künstlerischen Leistungen geführt, das nicht so leicht wieder zu erreichen werden wird. Das Zentrum war Berlin ... War Berlin damals eine deutsche Stadt? Berlin war international“ (20).

Nach dem Abitur will Herwarth Walden Musik studieren. Doch seinem Vater, der Facharzt für Harn-, Blasen-, und Nierenkrankheiten ist und der später den Titel des geheimen Sanitätsrates (21) trägt, schwebt eine andere Karriere für seinen Sohn vor. Er soll entweder Arzt oder Buchhändler werden. Während sich Waldens jüngere Geschwister Gertrud und Hans den Wünschen des Vaters beugen, setzt Herwarth Walden sein Musikstudium durch. In einer Kurzbiografie, veröffentlicht in der Anthologie „Expressionistische Dichtung vom Weltkrieg bis zur Gegenwart“ (24), heißt es: „Soll Arzt oder Kaufmann werden. Flieht nach Florenz und studiert Musik“ (25). Da diese Anthologie von Herwarth Walden herausgegeben worden ist, liegt nahe, dass er die Biografie selbst verfasst hat, zumindest aber genehmigt hat. Von einer dramatischen Flucht nach Florenz kann allerdings keine Rede sein. Herwarth Walden studiert Klavier, Komposition und Musikwissenschaft bei Conrad Ansorge (1862 - 1930) (26), einem der bedeutendsten Pianisten seiner Zeit (27). Darüber hinaus besucht er das Berliner Konservatorium (28). Für sein hervorragendes Klavierspiel bekommt Herwarth Walden auf Empfehlung seines Lehrers ein Stipendium der Franz-Liszt-Stifung und geht 1897 für zwei Jahre nach Florenz (29). Als Herwarth Walden 1899 nach Berlin zurückkehrt, verdingt er sich als Musiklehrer und gibt Konzerte. Er komponierte darüber hinaus Opfern, Pantominen, Sinfonien, Klavierwerke und Lieder, darunter auch die bekannteren „Dafnis-Lieder“ zu Gedichten von Arno Holz: „Des berühmten Schäffers Dafnis sälbst verfärtigte Freß-, Sauff- und Venus-Lieder“ (30). Alfred Döblin schreibt 1911 im Sturm über die Musik Waldens: „H.W. kennen nur wenige als Komponisten. Die Strenge seines Geschmacks zieht nicht so leicht an. In seinen Liedern herrscht eine unvergleichliche künstlerische Zucht, die sich jede Äußerlichkeit untersagt, die rein musikalisch um den lyrischen Kern besorgt ist“ (31). Walden komponiert unter anderem auch Lieder nach den Gedichten von Richard Dehmel, Johann Wolfgang von Goethe, Peter Hille, Else Lasker-Schüler, Detlev Liliencron, Alfred Mombert und August Stramm. Zu erwähnen ist noch, dass Herwarth Walden Richard Strauss kannte und mit ihm Musikarbende organisierte (32). 1908 war er Mitherausgeber der „Symphonien und Tondichtungen“ von Richard Strauß (33). Ab 1910 spielt Walden noch hier und da als Komponist, ansonsten tritt sein musikalisches Schaffen immer stärker in den Hintergrund. Doch „Walden Interesse umfasste alles, was mit Kunst zusammenhing. Auch die angewandte Kunst interessierte ihn. Als Musiker lag ihm der Klang; Klang als Musik, Klang als Farbe. Darum Malerei“ (34).

Waldens Ehe mit Else Lasker Schüler

1899 lernt Herwarth Walden Else Lasker-Schüler kennen. Sie heiraten 1901 (35). Herwarth Walden erkennt das dichterische Talent seiner Frau, die eigentlich Malerin werden wollte (36). Else Lasker-Schüler beklagt sich in einem Brief an Franz Marc über ihre Drogensucht, der sie machtlos gegenüberstand (37). Sophie van Leer, die langjährige Sekretärin von Herwarth Walden, unterstellt ihm, er habe Else Lasker-Schüler nur geheiratet, um ihr Talent zu fördern und um sie vor dem körperlichen und seelischen Verfall zu bewahren: „Als junger Mensch heiratete er eine Dichterin, um sie und ihre Kunst von Krankheit und Zerfall zu bewahren. Er liebte sie nicht; aber er glaubte, irgendetwas schuldig zu sein. Er tat es mit Überzeugung und ohne Frage, ob es einen anderen Weg gäbe" (38).

Wenn Sophie van Leer recht hat, zeigt sich Walden hier zum ersten Mal als Förderer, der die Kunst über seine persönlichen Interessen stellt. Gleichwohl hält die Ehe zehn Jahre. Herwarth Walden und Else Lasker-Schüler werden 1911 geschieden (39). Bis dahin „hatten er und seine Frau eigentlich nur im Kaffeehaus gelebt“ (40). Der Ausdruck „Kaffeehausliterat“ ist noch heute negativ besetzt. In den Kaffeehäusern brodelt damals allerdings das kulturelle Leben: „Dort diskutierte man, schrieb an Artikeln, empfing seine Freunde und feierte, wenn irgendeiner aus dem Kreis zu Geld kam ... Ganze Zeitschriften und Bücher entstanden an Kaffeehaustischen ... Es gab Cáfes, wo der Ober, wenn er Getränke brachte, zu gleicher Zeit Papier und Bleistift mit auf den Tisch legte. Kaffeehäuser in dieser Form waren schöpferische Orte der Kommunikation" (41). Diese Kaffeehäuser prägen damals auch die Kulturlandschaft Berlins. Else Lasker-Schüler schreibt über die Stadt: „Eine unumstössliche Uhr ist Berlin, sich wacht mit der Zeit, wir wissen, wieviel Uhr Kunst es immer ist“ (42).

Der „Verein für Kunst“

Aufdiesem Nährboden gründet Walden 1903 den „Verein für Kunst“. In der Literatur wird das Gründungsjahr unterschiedlich mit 1903 oder 1904 angegeben. Die erste Veranstaltung findet jedoch laut Ankündigung am Dienstag, dem 4. Oktober 1903, statt. Damit steht fest, dass Walden den Verein schon 1903 gegründet hat. Walden schreibt für den Verein eine Reihe von Künstlern an und lädt sie ein, für 100 Mark an den Veranstaltungen des Vereins mitzuwirken. Ein Standardbrief, den Walden an die Künstler verschickt, gibt Aufschluss über seine Motive, den „Verein für Kunst“ zu gründen: „Eine Anzahl Freunde der Kunst haben sich in Berlin zusammengetan, um den sogenannten ,Kunstförderungs-Vereinen‘ sowie den Agenturen entgegenzuarbeiten. Diese Unternehmungen fördern gewöhnlich Mittel- oder Publikumstalente oder erschweren durch hohe Prozente die Annäherung zwischen Künstlern und Genießenden, statt sie zu erleichtern. Dabei ist der ganze geschäftliche Betrieb keineswegs so kostspielig und kompliziert, wie es den Anschein hat.“ Walden will vierzehntägige Kulturabende veranstalten, „an denen nur wirkliche Künstler mitwirken werden“ (43): „Wir denken zum Beispiel an Aufführungen sogenannter ,unaufführbarer‘ dramatischer Werke und an Ankauf guter zeitgenössischer Literatur zur freien Verteilung an Volksbibliotheken etc. Es wird selbstverständlich zunächst das Vereinskapital im Interesse der Dichter und Künstler verwandt werden, die wir auffordern. Wir behalten uns jedoch vor, auch neuen Talenten, die zugleich schon Könner sind, auf diese Weise den Weg in die Öffentlichkeit zu erleichtern" (44).

Walden wandte sich also mit seinem Verein gegen die in erster Linie am finanziellen Gewinn interessierten Agenturen und Künstlervereinigungen. Der Brief zeugt von dem Idealismus Waldens, den er schon 1903 an den Tag legt. Er bietet jungen Talenten die Chance, sich erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren, ohne dabei auf seinen eigenen finanziellen Vorteil bedacht zu sein. Dieser Brief ist insofern von besonderem Interesse, weil Walden sich in den zwanziger Jahren von Kandinsky und Chagall den Vorwurf der Veruntreuung von Honoraren gefallen lassen muss. Aber dazu später mehr. Karl Kraus würdigt Waldens Engagement 1909 in „Die Fackel“: „Er macht im Stillen Musik und Lärm für die Musik der Anderen. Er hat den ,Verein für Kunst‘ gegründet und hat von einer großen Fähigkeit, sich zu begeistern, und von einem kleinen Besitz an Nervenkraft und sonstigen Lebensgütern nichts für sich zu behalten, um alles an die undankbare Aufgabe zu wenden, den Künstlern zu einem Publikum zu verhelfen. Die literarische Propaganda der Tat, die ein Handwerk der Routiniers und Schwindler geworden war, hat durch ihn ihre Ehre wiedergewonnen" (45). Im „Verein für Kunst“ treten „bis 1909 fast alle damals bedeutenden impressionistischen Schriftsteller zum ersten Mal an die Öffentlichkeit“ (46). Darunter: Alfred Döblin, Max Brod, Heinrich und Thomas Mann, Else Lasker-Schüler, Rainer Maria Rilke, Peter Hille, Karl Kraus, Richard Dehmel und Arno Holz (47). 1913 wird der „Verein für Kunst“ umorganisiert und Bestandteil des inzwischen gegründeten Verlags „Der Sturm“. In dieser Form besteht der „Verein für Kunst“ noch bis in die zwanziger Jahre (48).

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