Einführung in die Psychomotorik

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Einführung in die Psychomotorik
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utb 2239

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Prof.Dr. Klaus Fischer, ist Universitätsprofessor und Leiter des Arbeitsbereiches Bewegungserziehung und Bewegungstherapie an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, Department Heilpädagogik und Rehabilitation.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 2239

ISBN 978-3-8252-4802-4

ISBN 978-3-838-54802-9 (EPUB)

4. Auflage

© 2019 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Cover unter Verwendung eines Fotos von © philippe Devanne/Fotolia

Abbildung 12a und b im Innenteil wurden erstellt von Roland Seeger/FFS, Hohenahr

Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Vorwort

1 Historie und Entwicklung der Psychomotorik

1.1 Ursprünge

1.2 Psychomotorik als Meisterlehre

1.3 Etablierung der Psychomotorik als Wissenschaftsdisziplin (Motologie)

1.4 Ziele und Inhalte

1.5 Paradigmenwechsel in der Fachdiskussion

1.6 Nationale und europäische Entwicklungen der Psychomotorik

1.7 Evaluations- und Wirksamkeitsforschung in der Psychomotorik

2 Schlüsselbegriffe der Psychomotorik und deren Bezugstheorien

2.1 Bewegung und Wahrnehmung als Grundkategorien

2.1.1 Entwicklung durch Handeln

2.1.2 Wahrnehmung: Von der Sinnestätigkeit zur Erkundungsaktivität

2.1.3 Wahrnehmungsentwicklung und Wahrnehmungslernen

2.1.4 Implikationen für die Psychomotorik

2.1.5 Aktuelle Entwicklungen in interdisziplinärer Blickrichtung

2.2 Bedeutung und Entwicklung emotionaler Kompetenzen

2.2.1 Das strukturalistische Paradigma: Emotion als spezifischer psychischer Zustand

2.2.2 Das funktionalistische Paradigma: Emotion als spezifische psychische Funktion

2.2.3 Das kontextualistische Emotionsparadigma

2.2.4 Das dynamisch-systemische Emotionsparadigma

2.3 Selbstkonzept und Körpererfahrung

2.3.1 Das Selbstkonzept nach Epstein

2.3.2 Das Selbstkonzept nach Filipp

2.3.3 Körpererfahrung als Teilkonzept des Selbstkonzepts

2.3.4 Selbstkonzept und Selbstwirksamkeit in der Psychomotorik

2.4 Bedeutung und Entwicklung sozialer Kompetenzen

2.4.1 Selbstbehauptungs- und Anpassungsfähigkeit als Grundlage sozialer Kompetenz

2.4.2 Theory of Mind und soziale Kognition

2.4.3 Soziale Kompetenz im Spiegel sozialer Beziehungen

2.5 Soziomotorik: Zur sozial-ökologischen Bedeutung von Körper und Bewegung

2.5.1 Die gesellschaftliche Bedeutung des Körpers

2.5.2 Erlebnisorientierung und Naturerfahrung als Lösungswege aus dem Körperdilemma

2.6 Sozialräumliche Implikationen der Bewegung

2.7 Kinderspiel und Psychomotorik

3 Entwicklungstheoretische Perspektiven der Psychomotorik

3.1 Theorieübergreifende Orientierungen der Psychomotorik

3.2 Die neue Körper- und Bewegungsdebatte

3.3 Embodiment: Verbindendes Konzept transdisziplinärer Fachdiskurse

3.4 Theorie-Bezüge der metatheoretischen Orientierungen

3.4.1 Bewegung und Erfahrung: Konstruktion als Leitbegriff

3.4.1.1 Jean Piaget: Leben und Werk

3.4.1.2 Die Theorie der kognitiven Entwicklung nach Piaget

3.4.1.3 Grundprinzipien der Theorie

3.4.1.4 Die Entwicklung der sensomotorischen Intelligenz

3.4.1.5 Symbolfunktion des Handelns und Objektpermanenz

3.4.1.6 Kritik, Weiterentwicklung und Bedeutung des piagetschen Konzepts

3.4.2 Person und Bewegung: Die identitätsbildende Perspektive

3.4.2.1 Erik H. Erikson: Leben und Werk

3.4.2.2 Die Theorie der psychosozialen Entwicklung nach Erik H. Erikson

3.4.2.3 Bewertung und aktuelle Weiterentwicklungen der identitätsbildenden Perspektive

3.4.2.4 Bindungstheorie: Beziehungsgestaltung und Explorationsverhalten als Wirkfaktoren

 

3.4.3 Der Person-Umwelt-Bezug oder: Die ökologischsystemische Perspektive der Entwicklung

3.4.3.1 Urie Bronfenbrenner: Leben und Werk

3.4.3.2 Der ökologische Ansatz Bronfenbrenners und seine Bedeutung für die Psychomotorik

3.5 Aktuelle Orientierungen des psychomotorischen Konzepts

3.5.1 Entwicklung als lebenslanger Prozess

3.5.2 Entwicklung durch die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben

4 Psychomotorische Konzepte im Spannungsfeld von Therapie und Pädagogik

4.1 Die funktionale Perspektive

4.1.1 Die Psychomotorische Übungsbehandlung (PMÜ) nach Kiphard

4.1.2 Das Konzept der Klinischen Psychomotorischen Therapie (KPT)

4.1.3 Die Sensorische Integration nach Jean Ayres

4.1.4 Die Sensorisch Integrative Motodiagnostik und -therapie (SIM) nach Kesper und Hottinger

4.2 Die erkenntnisstrukturierende/kompetenztheoretische Perspektive

4.2.1 Der handlungsorientierte Ansatz von Schilling

4.2.2 Die Kindzentrierte Mototherapie nach Volkamer und Zimmer sowie die kindzentrierte psychomotorische Entwicklungsförderung von Zimmer

4.2.3 Die Psychomotorische Entwicklungstherapie von Krus

4.3 Der Verstehende Ansatz in der Psychomotorik

4.4 Die ökologisch-systemische Perspektive

4.4.1 Der systemisch-konstruktivistische Ansatz von Balgo und Voss

4.5 Vergleichende Betrachtung und Ausblick

5 Psychomotorik im Spannungsfeld von Theorie und Praxis – Ausgewählte Beispiele über die Entwicklungsspanne

5.1 Psychomotorik zwischen Salutogenese und Resilienz

5.2 Frühe Bildung und Frühe Förderung

5.2.1 Bewegung in der frühen Kindheit

5.2.2 Bewegungsbaustellen und Bewegungslandschaften als Beispiele psychomotorischer Bildung und Entwicklungsförderung

5.2.3 Frühförderung und Frühe Hilfen

5.3 Psychomotorik im Grundschulalter

5.4 Von der Psychomotorik im Jugendalter über das Erwachsenenalter bis ins vierte Lebensalter (Motogeragogik)

6 Motodiagnostik, Evaluation und Wirkungsforschung

6.1 Motodiagnostik als wesentlicher Bestandteil des Fachgebietes Psychomotorik

6.1.1 Begriffliches und Historisches

6.1.2 Paradigmenwandel oder: Von der Kritik an den motometrischen Verfahren, über die qualitative Motodiagnostik zu einer kombinierten Vorgehensweise in der psychomotorischen Diagnostik

6.2 Evaluation und Wirksamkeit in der Psychomotorik

Anhang

Literatur

Adressen

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:


Literaturempfehlung
Pro/Contra, Kritik
Fallbeispiel
Übungsaufgaben

Vorwort

Die grundlegend überarbeitete und in großen Teilen ergänzte vierte Auflage dieser Einführung erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem sich das Fachgebiet der Psychomotorik einerseits im Feld von Bildung,Förderung und Gesundheit und im Aus-, Fort- und Weiterbildungssektor etabliert hat, andererseits erfordert die aktuelle interdisziplinäre Körper- und Bewegungsdebatte verschiedener Fachdisziplinen Aufmerksamkeit und eine eigene (Neu-)Positionierung. Bewegung und Körperlichkeit haben im internationalen Fachdiskurs in den 2000er Jahren eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren (Marshall 2015, 2016). Gegenwärtig etabliert sich interdisziplinär ein dynamisch-systemisches Entwicklungsverständnis (Witherington 2015), das Bewegung und Körperlichkeit eine fundamentale und verbindende Bedeutung für alle Entwicklungsbereiche zuschreibt (Krist 2006; Fogel 2011; Shepherd 2017). Genau dieses ist der Hauptbegründungsstrang für das psychomotorische Paradigma. Es geht darum, die Wechselwirkung von Bewegung, Kognition und sozial-emotionaler Kompetenz zu verstehen und für Prozesse der (kindlichen) Bildung und Entwicklungsförderung zu nutzen (Berthoz 2000; Kastner 2010). International hat sich dafür der Begriff „embodiment“ (Körperlichkeit) etabliert. Die neue Debatte um Körper und Bewegung weist der psychomotorischen Entwicklung eine integrierende Bedeutung zu (Krist 2006; Weber 2017).

Der Begriff Psychomotorik betont innerhalb der Fachdiskurse über die menschliche Motorik den engen Zusammenhang von Wahrnehmen,Erleben, Erfahren und Handeln in sozial-ökologischer Einbettung. Es sind dies die Schlüsselbegriffe und Gegenstandsbereiche, über die Selbstbildungsprozesse, Entwicklungsförderung und psychomotorische Gesundheitsförderung über die Entwicklungsspanne in vielen Anwendungsfeldern unseres Bildungs-, Hilfe- und Gesundheitssystems wirksam werden. In diesem Verständnis hat sich das Fach seit den 1950er Jahren als pädagogisch-therapeutisches Konzept entwickelt,das ebenfalls von der Wechselwirkung psychischer und motorischer Prozesse ausgeht und diese in einen Bezug zur menschlichen Persönlichkeitsentwicklung stellt (Eggert 1994/2008; Reichenbach 2011; Zimmer 2012; Fischer 2015a; Krus 2015a; Kuhlenkamp 2017).

Das neue Lehrbuch gibt einen Überblick über die zahlreichen Mosaiksteine der psychomotorischen Konzeptdiskussion in der Theorie und den Praxisfeldern und leistet somit einen Beitrag zum Implementationsprozess des Faches. Die Kapitelfolge bearbeitet die Historie und Quellenbezüge des Faches, die Schlüsselbegriffe, die entwicklungstheoretische Grundlegung und die Ausrichtung zwischen Pädagogik und Therapie einerseits sowie die Anwendung auf die verschiedenen Handlungsfelder von der Frühförderung bis zur Psychomotorik im Alter (Motogeragogik) andererseits. Das Kapitel Motodiagnostik, Evaluation und Wirkungsforschung sowie eine Adressenliste von nationalen und internationalen Vereinigungen, Hoch- und Fachschulausbildungen und Weiterbildungsakademien beschließen die Fachübersicht. Die Grundstrukturder vorliegenden Einführung ist gegenüber der letzten Ausgabe beibehalten, alle Teile aktualisiert und um diese Themen ergänzt worden:

■ die Embodimentdebatte

■ die Spielthematik in der Psychomotorik

■ den Stellenwert der psychomotorischen Diagnostik

■ Naturerfahrung und Spielraumgestaltung

■ Bewegung in der Kindheitsforschung

■ das Konzept der Bewegungsbaustelle

■ Wirksamkeitsforschung in der Psychomotorik

■ viele Bezüge und Quellen aus dem reichhaltigen Repertoire psychomotorischer Publikationen zu den Handlungsfeldern

Die Praxisthemen der Psychomotorik und ihre theoretischen Begründungszusammenhänge sind heute fester Bestandteil zahlreicher Ausbildungsgänge auf Fachschul-, Hochschul- und Universitätsebene. In vielen Studienschwerpunkten zur Kindheits-, Sozial-, Heil- und Sportpädagogik, aber auch zur Physio-, Ergo- und Sprachtherapie finden psychomotorische Themen Berücksichtigung; an vier Universitäten des deutschsprachigen Raumes (Köln, Marburg, Wien, Zürich) sind forschungsorientierte Masterschwerpunkte entstanden.

Dieses Lehrbuch möchte verschiedene interdisziplinäre Diskussionsstränge und Zusammenhänge verdeutlichen und mit dem psychomotorischen Fachdiskurs in Beziehung setzen. Sie eröffnet damit Möglichkeiten, dem gewachsenen Bedarf an fachlich-wissenschaftlicher Grundlegung für Abschluss- und Prüfungsarbeiten (z.B. Bachelor, Master) zu entsprechen.

Köln, im November 2018 Klaus Fischer

1 Historie und Entwicklung der Psychomotorik

1.1 Ursprünge

Konzeptbildung

Ein Konzept entsteht nicht plötzlich aus dem Nichts heraus, sondern es erwächst aus einem praxeologischen Hintergrund. Praxeologisch heißt praxisbezogen: Das Erkenntnisinteresse des Wissenschaftlers ist primärer fahrungs- und praxisfeldbezogen. Erst in einem zweiten Schritt wird der Versuch unternommen, durch Theorieanleihen eine Stimmigkeit des Theorie-Praxis-Verhältnisses herzustellen und das eigene fachliche Handeln zu begründen (Hölter 1998). Ein Konzept entwickelt sich also prozesshaft aus verschiedenen Ideen, Erfahrungen und Theoremen, die zusammengefasst, geordnet und weiterentwickelt werden.

Einen solchen Entwicklungsweg hat das psychomotorische Konzept genommen. Versucht man die Quellen der Psychomotorik zu beleuchten, so wird man feststellen, dass das Ideengut, das in die Psychomotorik eingeflossen ist, einer langen Tradition heil-, sonder- und sportpädagogischer Vorstellungen über die Bedeutung der Bewegung für die Förderung von Kindern, insbesondere entwicklungsbeeinträchtigten Kindern, entspricht. Das ursprüngliche Konzept der psychomotorischen Übungsbehandlung von Kiphard und Hünnekens nimmt also Anleihen bei der Leibeserziehung und Gymnastikbewegung, der Sinnes- und Bewegungsschulung und der rhythmischen Erziehung und macht Elemente für die individuelle Förderung motorisch beeinträchtigter Kinder nutzbar.

 

„Die großen Erfolge der Psychomotorischen Übungsbehandlung und Erziehung in der Förderung beeinträchtigter Kinder, die zu der großen Verbreitung dieser Methode führten, sind sicherlich darauf zurückzuführen, daß sie in besonderer Weise die enge Verbindung von Wahrnehmen, Bewegen, Denken und Erleben betonte und in das Zentrum praktischer Arbeit stellte“ (Irmischer 1993, 9).

Sinneserziehung

Kiphard beobachtet in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinikpraxis, dass viele seiner Patienten Beeinträchtigungen in ihren Wahrnehmungs- und Bewegungsmustern aufweisen und versucht ihnen die Möglichkeit zu geben, Entwicklungsprozesse nachzuholen. Praktische Anregungen und theoretische Begründung holt er sich aus den Arbeiten von Maria Montessori sowie Itard und Seguin. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts publizieren diese ihre Ideen, dass die Förderung von Wahrnehmung und Bewegung einen entscheidenden Einfluss auf die Erziehung von Kindern nehmen kann. Aus seinen erzieherischen Experimenten mit Victor, einem „wilden“ Jungen, der in den Wäldern Südfrankreichs aufgewachsen ist, entwickelt der französische Arzt Jean Itard eine Erziehungsmethode, bei der die Sinneserziehung einen wichtigen Platz einnimmt. Er versucht die „scheinbare Idiotie des Kindes“ zu heilen, indem er über gezielte Übungen die Entwicklung der Sinnesfunktionen, der intellektuellen und der affektiven Fähigkeiten des Jungen fördert. Itard findet heraus, dass eine isolierte Stimulation der Sinne sich positiv auf deren Entwicklung auswirkt.Dieses Prinzip der Förderung empfehlen später auch Maria Montessori und Kiphard. Seguin greift die Ideen von Itard auf und erweitert das Anwendungskonzept: Er vermutet, dass die intellektuellen Fähigkeitendes Menschen auf der Wahrnehmungsentwicklung aufbauen. In der Konsequenz entwickelt er ein Fördersystem spezieller Übungen (etwa Tast- und Geschicklichkeitsübungen, Übungen zur Förderung des Gehörs, des Gesichts- und des Geschmackssinns) und besondere Materialien zur Schulung von Nerven, Muskeln und der Sinne als Grundlage der Entwicklung von Intellekt und Wille.

„Wenn Seguin als Voraussetzung für eine gezielte Förderung die Analyse der psychologischen und physiologischen Voraussetzungen der Kinder fordert, so erkennt er bereits den Wert dessen, was später als Diagnostik beschrieben wird“ (Irmischer 1993, 10).

Maria Montessori greift die Ideen der beiden Franzosen auf und integriert sie in ihr differenziertes Erziehungskonzept. Sie stellt die Erziehung der Sinne und der Bewegung in den Vordergrund und entwickelt dazu vielfältige Sinnesmaterialien. So betont sie die Wichtigkeit der Selbsttätigkeit und des Selbstlernens des Kindes, was später von Kiphard aufgegriffen wird. Während jedoch Montessori das Spiel als unnütze Tätigkeit ablehnt, dient es in der Psychomotorik als eine wichtige Ausdrucks- und Tätigkeitsform sowie als therapeutisches Medium (Irmischer 1993, 11). Kiphard entlehnt aus der Montessori-Pädagogik wertvolle Beiträge zur Sinnesschulung und auch einige Ideen über Fördermaterialien.

Geistigorthopädische Übungen

In Auseinandersetzung mit der Arbeit von Maria Montessori entsteht in Deutschland das System der geistig-orthopädischen Übungen von Lesemann (1925, 1972), das die Sonderpädagogik in der Bundesrepublik bis in die fünfziger Jahre beeinflusst. In der reformpädagogischen Tradition stehend weist Lesemann schon sehr früh der motorischen Förderung seiner Hilfsschulkinder einen besonderen Stellenwert zu, um mit einem gezielteren Entgegenwirken körperlicher Beeinträchtigungen und Gebrechen einen Beitrag zur ganzheitlichen Erziehung zu leisten. In der besten Absicht, die kindliche Persönlichkeit als Ganzes zu thematisieren, sind diese Sichtweisen doch ein Beleg für die defektologische Grundlegung der Heilpädagogik der damaligen Zeit und ein Quellennachweis für Parallelen des psychomotorischen Konzepts der Anfangszeit.

Rhythmik

Die Entwicklung der Psychomotorik wird von Anbeginn stark durch die Rhythmik geprägt; Elemente der Rhythmik sind bis heute wichtige Bestandteile psychomotorischer Arbeit. Mimi Scheiblauer (1956) und Charlotte Pfeffer (1958) versuchen, phantasievoll und einfühlsam durch Rhythmik die ganzheitliche natürliche Bewegungsentwicklung ihrer behinderten Kinder zu fördern. Kiphard übernimmt beispielsweise Teile aus dem Orff-Schulwerk und Orff-Instrumente, um das rhythmisch-musikalische Angebot zu erweitern (Schäfer 1993, 21).

Individuelle Zielsetzung

Das Verdienst des Psychologen Löwnau ist es schließlich, die Bewegungserziehung entwicklungsbeeinträchtigter Kinder um gezielte (psycho-)therapeutische Akzente bereichert zu haben. Kennzeichen seiner therapeutischen Überlegungen ist es, stärker individualisierte Zielsetzungen in den Förderprozess zu integrieren. Kein fremdbestimmter Lehr- oder Stoffplan (etwa der Leibeserziehung) solle Problemkindern „übergestülpt“ werden, um durch körperliche Ertüchtigungeine Verhaltensregulation zu erwirken, sondern gehemmte, ängstliche,aber auch unruhige und triebhafte Kinder bräuchten vielmehr einen möglichst behutsamen, nicht direktiven Weg, bei dem die Anerkennung der Persönlichkeit des Kindes im Vordergrund steht (Irmischer 1993, 16). Es sind dies bereits konzeptionelle Strukturelemente, die heute unter dem Begriff kindzentrierte Bewegungserziehung diskutiert werden und die Wesenszüge des psychomotorischen Konzepts ausmachen.

Einflüsse der Leibeserziehung

Wesentliche Impulse erhält die Psychomotorik aus der Leibeserziehung. Vertreter wie Liselott Diem (1935), die bereits 1935 für den Primarbereich eine ganzheitliche Bewegungserziehung fordert, Ludwig Mester, der das Ziel der Leibeserziehung in der Grundschule 1954 in der „Erziehung durch Bewegung“ sieht und Konrad Paschen, der dem Sportunterricht fachübergreifende Erziehungsaufgaben zuweist, sind nur einige Vertreter, die die Entstehung und Entwicklung der Psychomotorik beeinflussen. Von Seiten der Psychomotorik sind diese Quellen und Bezüge nicht hinreichend aufgearbeitet worden; allenfalls Irmischer (1984, 1993) beschäftigt sich mit einer historischen Perspektive. Sie sind jedoch wichtig für die Entstehungsgeschichte und wissenschaftliche Einordnung des Ansatzes sowie die Begründungslinien der aktuellen Annäherung von Psychomotorik und Sportpädagogik im Begriff der Bewegungserziehung. Wichtige Hinweise finden sich bei Röthig (1966) und Größing (1993), die die Quellen der Reformpädagogik und der Gymnastikbewegung – insbesondere des rhythmischen Prinzips – für eine sportpädagogische Grundlegung nachzeichnen. Als Überblicksdarstellung für den Elementar-, Primar- und Förderschulbereich unter einer inklusiven Perspektive ist auch das Werk von Stabe (1996) zur Rhythmik als ganzheitliche Entwicklungsförderung wertvoll. Erst in jüngerer Zeit wird das Thema des Rhythmisch-Musikalischen als wesentliches Element der psychomotorischen Entwicklungsförderung wiedererkannt (Röthig 2002; Wehle 2003; von Dreusche/Graul-Mayr 2006; Bankl 2016).

1.2 Psychomotorik als Meisterlehre

E.J. Kiphard

Der Begriff Psychomotorik ist in Deutschland eng mit dem Namen Kiphard (1923–2010) verbunden; dieser wird nicht selten als „Urvater“und „Seele“ bezeichnet (Abb. 1). Kiphard entwickelt die wesentlichen Grundzüge der Psychomotorik im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit am Westfälischen Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik in Hamm. Kiphard und Hünnekens (als ärztlicher Leiter) verknüpfen im klinischen Kontext die gerade bei dieser besonderen Klientel deutlich zu Tage tretende „diagnostische Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Entwicklungsstörungen/seelischen Behinderungen und motorischen Retardierungen mit dem Ansatz von Therapie über Bewegung, Förderung der Entwicklung über Motorik, der „Psychomotorischen Übungsbehandlung“ (Jarosch et al. 1987, 12). Am Anfang der konzeptionellen Entwicklungen in Deutschland steht in den fünfziger und sechziger Jahren nicht die Theorie, sondern die Praxis.


Abb. 1: E. J. Kiphard, der Begründer der deutschen Psychomotorik

Nach dem Umzug der Gütersloher Fachklinik in das Institut für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik nach Hamm (1965) kommt es verstärkt zu Forschungen und Veröffentlichungen über die Bedeutung der Motorik für die kindliche Entwicklung, Möglichkeiten der Motodiagnostik und pädagogischer und therapeutischer Förderung durch Psychomotorik.

Erste Effizienzüberprüfung

Durch einen Forschungsauftrag des Sozialministeriums Nordrhein-Westfalen im Jahre 1957/58 kommt es zu einer ersten Effizienzüberprüfung der damaligen Psychomotorischen Übungsbehandlung.Die Ergebnisse werden 1960 im Jahrbuch der Jugendpsychiatrie (Band 2) veröffentlicht und im gleichen Jahr erscheint die erste Auflage des Büchleins „Bewegung heilt“, in dem Kiphard versucht, die Grundzüge seiner praktischen Arbeit in systematisierter Form darzustellen. Er setzt sich zum Ziel, über die Motorik eine leibseelische Harmonisierung und Stabilisierung der Gesamtpersönlichkeit der ihm anvertrauten jungen Patienten zu bewirken. So werden Übungen zur Sinnesschulung, Körper-, Raumwahrnehmung, Behutsamkeit, Selbstbeherrschung, rhythmisch-musikalischen Schulung und zum Körperausdruck spielerisch motivierend in Kindergruppen durchgeführt.

„Die besondere Faszination, die von der Persönlichkeit Kiphards über Zauberkünste, Gags, akrobatische Einlagen, Einsatz des Schifferklaviers ausging, darf nicht unerwähnt bleiben. Verhaltensänderungen waren bei den Kindern nach einer ca. 6-wöchigen psychomotorischen Übungsbehandlung deutlich beobachtbar: Die Kinder waren aufmerksamer, strukturierter, sozial integrierter, fröhlicher, mutiger und ausgeglichener im Verhalten“ (Schäfer 1998, 82).

Entwicklung der Motodiagnostik

Ein Forschungsauftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)im Jahre 1965/66 soll die ausgewiesenen Effekte belegen; jedoch erweisen sich die bekannten psychomotorischen Testbatterien als wenig effektiv. Forschungsanliegen wird es nun, neben der Erweiterung motometrischer Tests vor allem motoskopische Verfahren zu entwickeln. So entstehen in mehrjähriger interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Kiphard (unterstützt durch seine Mitarbeiter Ingrid Schäfer und Georg Kesselmann), dem Jugendpsychiater Helmut Hünnekens und dem Psychologen Friedhelm Schilling

■ der Trampolin-Körperkoordinations-Test (TKT); Veröffentlichung 1970,

■ der Körperkoordinations-Test für Kinder (KTK); Veröffentlichung 1974,

■ das Sensomotorische Entwicklungsgitter; Veröffentlichung mit Filmdokumentation 1975 (Schäfer 1998, 82).

Für die Anfangszeit der Psychomotorik konstitutiv – und wesentlich für ihre interdisziplinäre Anerkennung – ist somit ein diagnostisches Fundament (Schilling 1973, 2002; Schäfer 1993), das sich im Laufe der Ausdifferenzierung des Fachgebietes zu einem umfassenden (aber nicht einheitlichen) motodiagnostischen Konzept entwickelt hat. Dennoch bleibt die ursprüngliche psychomotorische Übungsbehandlung als Meisterlehre kiphardscher Prägung bekannt; sie gilt als Inbegriff der praxeologisch ausgerichteten Entwicklungslinie der Psychomotorik. Kiphards Verständnis zufolge handelt es sich um eine „Ermutigungspädagogik mit zirzensischen Mitteln“ (Seewald 1997, 4). Eine kategorische Zuordnung zu Pädagogik oder Therapie ist nicht erkennbar, vielmehr soll mittels einer spielerischen und darstellenden Methodik eine Hilfe zur Selbsterziehung ermöglicht werden. Kiphard selbst hat in seinem Werk eine Wandlung vollzogen, die die paradigmatischen Veränderungen der Psychomotorik widerspiegelt. Von einer medizinisch-psychiatrischen Sichtweise ausgehend hat er sich später verstärkt einem ganzheitlichen Paradigma verschrieben. Hierbei beruft er sich u.a. auf den Gestaltkreis von V. von Weizsäcker, auf die Reformpädagogik und die Rhythmikerziehung. Insgesamt ist die Meisterlehre (Kiphard 1998) jedoch vornehmlich als praxeologisches Konzept zu verstehen, da sie das Selbstverständnis aus der Praxis und weniger aus theoretischen Begründungszusammenhängen gewinnt. Kiphard bleibt sich im Grundkonzept seines Ansatzes ein Leben lang treu. In den persönlichen Rückblicken von Kiphard selbst (Kiphard 2002, 2004a und b) und in einem Schwerpunktheft der Zeitschrift Motorik nach Kiphards Tod durch Wegbegleiter (Höhne/Jessel 2011; Schäfer 2011; Göbel 2011) wird deutlich, dass Bewegung und Spiel als kindgerechte Elemente pädagogisch-therapeutischer Interventionen verbunden mit einem Schuss Freude, Humor und Clownerie immer ihre Wirkkraft entfalten. In einer Zeit der Verarmung des kindlichen Spielverhaltens gilt freudvolle Aktivität und Leidenschaft als Lebensbereicherung. Insofern hat das Lebenswerk Kiphards auch eine Zukunftsperspektive.

1.3 Etablierung der Psychomotorik als Wissenschaftsdisziplin (Motologie)

Aktionskreis Psychomotorik e.V.

Die Verwissenschaftlichung der Meisterlehre Kiphards ist in der Anfangsphase eng an die Gründung des Aktionskreises Psychomotorik (e.V.) gebunden. Dieser wird 1976 als gemeinnütziger Verein in Hamm/Westfalen gegründet. Der Begriff Psychomotorik betont innerhalb der menschlichen Motorik den engen Zusammenhang von Wahrnehmen, Erleben, Erfahren und Handeln. Damit ist der Gegenstandsbereich als Ausdruck der gesamten Persönlichkeit des Menschen programmatisch gesichert, der Zielbereich von Anfang an als interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft von Bewegungsfachleuten aus den Disziplinen Pädagogik, Psychologie und Medizin ausgewiesen (Kiphard 2004a; Müller 2001, 2002; Schilling 2001).

Internationale Motorik-Symposien

Vorausgegangen ist der Vereinsgründung ein erhöhtes Interesse der Fachöffentlichkeit an den Themen und Erfolgen der psychomotorischen Arbeit. Im Jahre 1968 findet das 1. Internationale Motorik-Symposium auf Initiative von Kiphard in Hamm statt. Es folgen das 2. Internationale Motorik-Symposium 1971 in Frankfurt zum Thema Die Bedeutung der Motorik für die Entwicklung normaler und behinderter Kinder und das 3. Symposium 1973 in Luxemburg zum Thema Motorik im Vorschulalter. Letzteres wird vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (Köln) durchgeführt und dokumentiert das gewachsene nationale und internationale Interesse an Ergebnissen der Motorikforschung in der Entwicklungsspanne der Kindheit. Der Kongressbericht wird dreisprachig (deutsch, englisch, französisch) von Müller et al. (1975) herausgegeben und wird zu einem Anknüpfungspunkt interdisziplinärer Fachgespräche.

Zeitschriften-publikationen

In der Folgezeit häufen sich die wissenschaftlichen Publikationen zur Psychomotorik (für einen Rückblick s. Fischer/Behrens 2012). Im Jahre 1976 gibt der AKP die Zeitschrift Psychomotorik heraus. F. Schilling (Marburg) übernimmt die Funktion des verantwortlichen Redakteurs und vertritt fortan den inhaltlichen Schwerpunkt Motologie und Motodiagnostik. E.J. Kiphard wird Fachredakteur für Mototherapie und G. Neuhäuser wird zuständig für die medizinischen Grundlagen. Ab 1978 ändert sich die Zeitschriftenpublikation durch Herausgabe von zwei Zeitschriften, der eher praktisch orientierten Praxis der Psychomotorik und der eher theoretisch orientierten Motorik. In der Folge erscheinen psychomotorisch orientierte Beiträge in zahlreichen pädagogischen, psychologischen und medizinischen Fachzeitschriften.Mehrere wissenschaftliche Buchreihen mit psychomotorischen Themenschwerpunkten werden herausgegeben.