Loe raamatut: «Klaus Mann - Das literarische Werk», lehekülg 28

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Später kam er auch auf Erfahrungen zu reden, die freundlicher waren. »Ganz vergeblich ist die große Arbeit nicht! Manchmal wird einem bestätigt: es hat Sinn gehabt. Irgendein junger Mensch schreibt uns – aus Argentinien oder Palästina oder Neuseeland – und er berichtet: Es geht ihm gut dort, er hat zu tun. Wir haben ihn hingebracht. Wir haben ihn hier etwas lernen lassen und haben ihm zu dieser Stellung in einem fernen Lande verholfen. Nun denkt er dort drüben an uns … Das macht Freude!« Herr Nathan sah plötzlich beinah vergnügt aus und rieb sich die Hände, wie einer, der ein gutes Geschäft gemacht hat – ein redliches, feines Geschäft. »Manche von unseren Schützlingen haben auch in Europa irgendwo Stellung gefunden«, sagte er noch. »Einige sogar hier im Lande. Die besuchen mich dann ab und zu. Nicht alle, natürlich: manche legen Wert darauf, mich nie wieder zu sehen und das Comité zu vergessen – was ich begreiflich finde. Andere aber lassen sich zuweilen sehen. Männer, denen ich im Jahre 1933 helfen konnte, haben inzwischen hier geheiratet; dann bringen sie wohl auch ihre Frau mit, manche sogar ein Kind – ein Emigrantenkind; aber es kann schon ein bißchen in der Sprache unseres Landes plappern. – Das macht Spaß!« sagte Herr Nathan wieder, und noch einmal ging das ungeübte, schwere, innige Lächeln über sein sorgenvolles altes Gesicht.

Schließlich fiel Benjamin ein: »Ich wollte mit Ihnen ja einen bestimmten Fall besprechen. Es handelt sich da um einen jungen Mann, der früher bei der Berliner Polizei angestellt war. Ein sehr anständiger Bursche, wie mir scheint – vielleicht durch Leiden etwas aus der Form gekommen …«

Herr Nathan lauschte – gleich interessiert; schon bereit, zu helfen; sich alle Möglichkeiten zu überlegen; von Herzen willens, diesen Menschenbruder, wenn es irgend angehen sollte, zu retten.

Im Spätsommer des Jahres 1937 beschloß Marion, im Herbst nach Amerika zu fahren. Ein wichtiger New Yorker Agent war in Prag und Zürich Zeuge ihrer Erfolge gewesen; von ihm kam das Angebot: sie sollte eine Vortragstournee durch die Vereinigten Staaten machen. Erst hatte sie gezögert; nun aber nahm sie an. Sie meinte, Europa nicht mehr ertragen zu können. Es waren zuviel der Verluste, zuviel der Erinnerungen, überall. Sie empfand schon seit langem: ›Es ist zuviel – ganz entschieden zuviel. Entweder auch ich sterbe, oder ich muß etwas Neues anfangen.‹

Sie studierte einen Teil ihres Programms auf englisch; andere Partien sollte sie im deutschen Original mit englischen Erläuterungen bringen. Übrigens hatte ihr der Agent versprochen, daß in den Kreisen, vor denen sie auftreten würde – Klubs, Universitäten, literarische Gesellschaften – mindestens ein Teil des Publikums Deutsch verstehe.

Das Visum hatte sie bekommen. Sie behielt ja den guten französischen Paß; sie war die Witwe des citoyen Marcel Poiret. Das Schiffsbillet war besorgt. Die Abschiede konnten beginnen. Marion, wehmütig und empfindsam gestimmt, hatte nur das eine Wort im Herzen: Abschied … Abschied von den Gräbern; Abschied von den noch Lebenden. Ich bin die Überlebende. Ich bin die Abreisende. Ich bin die, welche etwas Neues beginnt. Ich reise nach Amerika und mache mich in Klubs wie auch in Universitäten bemerkbar. Dieses ist Abschied – eine Realität; die Realität unseres Lebens. Das ganze Leben ist Abschied. Abschied auf Bahnsteigen, auf Flugplätzen, Landungsstegen; Abschied in Schlafzimmern, Cafés, Hotelhallen, auf der Straße, an einer Haustür. Adieu, schreib mir mal, mach’s gut, vergiß mich nicht – ach, vergeßt mich nicht, und adieu!

Adieu, liebste Mama, du bist älter und schöner geworden, der Schmerz um Tilly hat dich sowohl älter als auch schöner gemacht. Wir weinen noch ein wenig, weil Tilly auf und davon ist, spurlos verschwunden, hinweggehuscht – wir aber müssen weiterleben; müssen hier sitzen und uns nochmals umarmen: Adieu, liebste Mama! Grüße die dumme kleine Susanne – ist sie immer noch so gräßlich reaktionär? Ein komisches Kind! Wie lange muß sie eigentlich noch in diesem teuren Internat bleiben? – Na, adieu also, ich rufe dich aus Paris wohl noch an, ehe ich fahre …

Und dann, in Paris. – Adieu, liebste Schwalbe – Kopf hoch, altes Ding! Aber wer wird denn weinen … Wir schaffen es schon! Sind doch zwei tüchtige alte Kerle – du und ich: wind- und wetterfest, möchte ich sagen, wir erleben auch noch bessere Tage – laß dich küssen – laß dich sehr küssen, alte Schwalben-Mutter!

Adieu, liebes Meisje – bist du immer noch glücklich? Ja, du siehst immer noch glücklich aus; schön und glücklich, wie ein militanter Erzengel. Erstaunlich, daß es so was gibt; großartig, daß es so was gibt. – Braver alter Dr. Mathes – adieu.

Ilse Ill war beim Abschied säuerlich; denn sie hatte so gut wie überhaupt keinen Erfolg mehr. Weder grünes Haar noch violette Wangen halfen ihr auf die Dauer; auch ihre Affäre mit einem veritablen Negerkönig hatte nicht das erwartete Aufsehen gemacht – kein Wunder, daß sie sich verbittert zeigte. »Ich möchte wohl auch nach Amerika!« schmollte sie. »Wenn ich Talent habe, bin ich doch nicht häßlich.«

Was den Bankier Bernheim betraf, so schien er ein wenig abgekämpft, wenngleich immer noch würdig. »Liebes Kammermädchen«, sagte der reiche Mann schlicht, »mir tut es leid, daß du fährst.« Dann stellte sich heraus: Er war es müde, immer nur Geschäfte zu machen. Das schlimme Abenteuer von Mallorca hatte nachhaltig auf ihn gewirkt. »Ich bin innerlicher geworden«, erklärte er und ließ durchblicken, daß er vielleicht zum Katholizismus übertreten werde. Übrigens wollte er aufs Land ziehen, nach Österreich, in die Nähe von Wien. Dort hatte man ihm ein reizendes altes Haus angeboten: es kostete beinah nichts. Professor Samuel war aufgefordert mitzukommen, glaubte aber nicht an die Stabilität der österreichischen Regierung und zog es vor, eine andere Einladung, nach Palästina, anzunehmen. »Ich möchte nicht noch eine dritte faschistische Invasion erleben, nachdem ich die in Deutschland und in Spanien mitgemacht habe«, sagte der alte Künstler: nicht bitter, aber ziemlich mißtrauisch geworden. Bankier Bernheim fand solche Äußerungen einfach albern. »Die österreichische Unabhängigkeit wird von Frankreich und England garantiert«, eröffnete er allen, die es hören wollten. »Und außerdem hat der Bundeskanzler Schuschnigg das Heft fest in der Hand; die Mehrzahl der Bevölkerung ist ihm treu ergeben …«

Marion fand ihn seltsam verändert, und übrigens nicht nur ihn. Auch Nathan-Morelli, zum Beispiel, war nicht mehr völlig der gleiche, als den man ihn einst gekannt hatte – ermattet, auch er, und sein gelbliches Mongolengesicht, das so spöttisch und blasiert gewesen war, zeigte jetzt mildere, auch tiefere Züge. Marion war befremdet; denn Morelli gestand, daß er um Deutschland litt. »Ich habe Heimweh« – gerade von ihm hätte dies niemand erwartet. Nun aber sprach er es aus und blickte wehmütig sinnend aus seinen schiefgestellten, schmalen Augen. Warum sehnte er sich nun nach Landschaften, Menschen, Städten, die er früher vernachlässigt hatte? »Es ist eine Schmach, was mit Deutschland geschieht«, sagte er. »Es verfolgt mich in meinen Träumen … Wenn ich meine Sirowitsch nicht hätte, ich könnte wohl gar nicht mehr leben. Sie bedeutet ein Stück der verlorenen Heimat für mich.«

Theo Hummler, inmitten seiner politischen Aktivität, war herzlich traurig über Marions Abreise. Seiner alten Schwäche für sie war er treu geblieben. Er gab ihr Aufträge für New Yorker Freunde mit und erkundigte sich schließlich, ob er sie küssen dürfe. Sie gestattete es, er bekam feuchte Augen. Adieu, adieu, schreib mir mal, vergiß mich nicht, dieses ist Abschied.

Auch bei Madame Rubinstein machte Marion ihre Abschiedsvisite. »Es ist immer so schön, in eurer Stube zu sein«, sagte sie, wie vor viereinhalb Jahren – und wirklich, hier hatte sich nichts verändert: die gleichen Modelle alter Segelschiffe, die auf der Kommode und auf mehreren Regalen plaziert waren; die gleichen ausgestopften Vögel und Fische an den Wänden. »Ja, es ist ein gemütlicher Raum«, sagte Anna Nikolajewna, während sie ihrem Gast Kirschenkonfitüre und kleines Gebäck auf den Teller legte. »Aber mon pauvre Léon wird immer trauriger …« Auch die kleine Germaine machte ihr weiter Sorgen; sie schien nun beinah dazu entschlossen, sehr bald nach Rußland, in die unbekannte Heimat, zurückzukehren. – Adieu, Anna Nikolajewna – ich will nicht werden wie du, ich bin nicht wie du, unsere Fälle sind wesentlich voneinander verschieden. Du trauerst dem unwiederbringlich Verlorenen nach; ich träume dem entgegen, was wir gewinnen wollen … Adieu!

Marion sah noch einmal den vornehmen und hoffnungslosen Schachspieler im »Café Select«: den ungarischen Grafen, der seine Güter verteilt und sich solcherart bei den Standesgenossen unmöglich gemacht hatte. Sie sah David Deutsch, der seinen soziologischen Studien nachging, erschreckend bleich war und sich schief verneigte. Er lehnte es aufs entschiedenste ab, von sich selbst zu sprechen: »Mein Fall ist melancholisch«, sagte er kurz. »Ich muß irgendwie mit ihm fertig werden.« Indessen sprach er von Martin. »Weißt du noch, Marion? Weißt du noch?« – Ja, sie wußte noch. Sie vergaß die Gesichter nicht, die untergetaucht waren ins Nichts; nur zu genau erinnerte sie sich ihrer. Ach Martin – deine kokett-pedantische Stimme – »Natürlich bin ich eigentlich kein Morphinist – weißt du« – wohin, wohin? Ach Marcel – dein lockend-klagender Vogelschrei auf der Treppe – wohin? Und dann die Sturzflut der Worte; der Blasphemien, Flüche, Zärtlichkeiten – wohin?

Ein paar Tage, ehe Marion reiste, kam noch eine Aufforderung, die sie nicht ablehnen wollte. Eine Massenversammlung für die spanischen Loyalisten wurde veranstaltet in einem der größten Pariser Säle. Marion sollte unter den Sprechern sein – nicht als Rezitatorin diesmal, sondern als einfache Rednerin; es war ihr eigenes Wort, was man hören wollte, ihren Protest, ihren Aufruf. Hierüber freute sie sich und war auch etwas erstaunt. ›Bin ich eine – Persönlichkeit, daß man mich heranzieht zu so großen Anlässen?‹ dachte sie, fast erschrocken. ›Habe ich mir einen Namen gemacht im Lauf dieser bitteren Jahre? Ich bin herumgereist und habe Verse aufgesagt … Bin ich dadurch berühmt geworden?‹

Später fiel ihr ein, daß man sie auf dem Podium haben wollte, um Marcel Poiret zu feiern – den Soldaten, den Dichter, Helden, Märtyrer. Sie war seine Gattin gewesen. Sie trug seinen Namen. – Alle im Saal erhoben sich von ihren Sitzen, als die Witwe des Märtyrers ans Rednerpult trat. Tausende standen stumm – Pariser Arbeiter und Intellektuelle und Frauen – sie reckten schweigend die Faust; sie senkten die Stirnen zu seinem Gedächtnis. Marion hatte Tränen in der Stimme, als sie zu sprechen begann. Wie glücklich wäre ihr Marcel, wenn er dies sehen dürfte! (Vielleicht darf er es sehen; vielleicht darf er glücklich sein …) Sein Leben lang hatte er darunter gelitten, daß er von der Masse nicht verstanden wurde. Nun, da er tot war, huldigte sie ihm. Die einfachen Leute konnten ihn erst begreifen, da er sein Blut vergossen hatte, für die gemeinsame Sache. Er hatte gekämpft, gelitten und sich geopfert; deshalb reckten sie nun die Fäuste, ihm zu Ehren und im Gedenken an ihn. – Marion redete einfach zu ihnen, wie sie empfanden. Sie rief: »Er ist in einem großen Kampf gestorben, der Kampf geht weiter, vielleicht stehen wir erst am Anfang.« Sie erzählte – als wären es gute alte Bekannte, an die sie sich wendete: »Ich fahre jetzt nach Amerika, dort haben wir Freunde, ich werde sie von euch grüßen. Überall finden wir tätige Kameraden. Gerade weil die Freiheit überall gefährdet ist, gibt es überall Tapfere, die sie verteidigen wollen. Schließlich aber gewinnen wir unseren Kampf!« Dies erklärte sie zuversichtlich; hatte dabei auch den altbewährten Flammenblick, und sah schön aus, wie sie nun ihrerseits die Faust hob – als Abschiedsgruß an das französische Volk.

Die Tausende im Saal hatten noch mehrfach Gelegenheit, von den Sitzen zu springen, Lieder zu singen und die Fäuste zu recken; verschiedenen Rednern gelang es noch, sie aufzurütteln und zu begeistern. Der junge Deutsche, der gerade erst aus Madrid hier eingetroffen war und auf zwei Krücken humpelte – denn ein Granatsplitter hatte ihm den Hüftknochen zerschmettert – erntete Beifallsstürme, als er gelobte: »In Spanien habe ich für die spanische Freiheit gekämpft. Ich würde auch für eure Freiheit in Frankreich kämpfen, wenn es jemals sein müßte – das verspreche ich euch!« Daraufhin wurde die »Internationale« gesungen. – Mit ihr empfing man auch den jungen Holländer, der damals, bei der Schwalbe – nach Martins Beerdigung – heroische Anekdoten erzählt hatte. Er gefiel den Leuten; denn er schien einer von ihnen. Sein langes, starkknochiges, kräftig gebräuntes Gesicht glich dem eines Bauernburschen – wenngleich bei genauerem Hinsehen festzustellen war, daß es in den vertieften Zügen die Zeichen und Male des Geistes trug. Um ergreifende Anekdoten »aus dem Alltag des Bürgerkriegs« war er auch jetzt nicht verlegen. Er rührte seine Zuhörer, und übrigens verstand er es, sie zu erheitern; denn er streute Komisches ein.

Hingegen schien es die Absicht des hochberühmten französischen Romanciers, einzuschüchtern und Entsetzen zu verbreiten. Von allen Autoren der jüngeren Generation war er es, der am meisten bewundert wurde – nicht nur für seine Werke, sondern auch für politische Taten. Um die Sache des Fortschritts hatte er sich aktiv verdient gemacht. Die Masse kannte seinen Namen; viele hatten sogar seine Bücher gelesen. Man jubelte ihm zu; er antwortete mit einem nervösen Nicken – das er übrigens während seines ganzen Vortrages beibehielt: es war fast ein Tick. Sein schöner, schmaler Kopf zuckte und machte seltsam hackende kleine Bewegungen. Unter einer drohend geduckten, breiten und blanken Stirn brannten, befehlshaberisch und begeistert, die tiefen Augen. Unter einer nervös schnüffelnden Nase verzerrte und öffnete sich der Mund. »Camarades!« schrie der große Romancier in die erschütterte Menge. »Was ist Spanien? Nur die Generalprobe! Es wird schlimmer kommen. Heute kreisen die Bombenflugzeuge der Faschisten nur über Barcelona, Valencia, Madrid – über den schönen Städten des tapferen spanischen Volkes. Auch über unseren Städten werden sie kreisen. Ich sehe den Himmel verdunkelt …« Er beschwor apokalyptische Bilder. »Camarades – wir werden alle keines natürlichen Todes sterben!« prophezeite er gräßlich. »Unsere Generation wird aufgeopfert!« – Er war ein vorzüglicher Redner. Kein Laut war im Saale zu hören, während seine Stimme donnerte, seine Augen blitzten. Man war entzückt und entsetzt. Er weckte Enthusiasmus und Grauen. Er sprach nicht von Siegeshoffnungen; nur von dem Inferno, das sich vorbereite. An seinem fürchterlichen Ernst aber war zu ermessen, wie entscheidend wichtig der Kampf war. Der Sieg mußte unendlich kostbar sein, wenn es sich lohnte, ihn so teuer zu bezahlen.

Nach so fulminanter rhetorischer Leistung schien es für die nächsten Sprecher fast hoffnungslos, noch irgend Eindruck zu machen. Trotzdem gelang es dem jungen Mann, der nun vom Versammlungsleiter vorgestellt wurde. Es war Kikjou – schon sein Name befremdete; beinah niemand hatte vorher von ihm gehört.

Er stand da, schmal und jung, und von seinem Antlitz kam ein Leuchten wie von weißer Flamme. War der Engel noch in seiner Nähe – der Unsichtbare, Geschwinde – und gab ihm von seinem Glorienschein etwas ab? – Kikjou stellte mit belegter Stimme fest: »Ich bin ein Christ; ich bin fromm« – was wiederum die Zuhörerschaft befremden mußte. Doch nickte man beifällig, als er dann erklärte: »Gerade deshalb verabscheue ich den General Franco und seine Faschisten. Sie morden nicht nur, sie wagen es, ihre Schandtaten im Namen des Herrn zu begehen, und schänden so den Allerhöchsten Namen. Sie meinen ihre schmutzigen Interessen und reden von Jesus Christus. O Schmach! O Ruchlosigkeit! – Die Folge hiervon muß sein, daß der einfache Spanier seinen Erlöser, der am Kreuze für ihn starb, hassen lernt, weil er seinen gebenedeiten Namen zusammendenkt mit den Namen von Unterdrückern, Mördern, Briganten. – Ich bin in Spanien gewesen«, teilte Kikjou mit. »Das erste Mal nur ganz kurz, unter seltsamen Umständen« – hierbei lächelte er, schamhaft und benommen – »dann ausführlicher; monatelang. Ich habe die Verhältnisse dort studiert; habe wohl auch versucht, mich nützlich zu machen. Die Berichte über meine Eindrücke und Tätigkeiten sind in vielen katholischen Zeitungen zu lesen; vielleicht haben einige von euch sie zu Gesicht bekommen. – Ich bedaure die Priester, die sich dazu hergegeben haben, Werkzeuge des heidnischen Faschismus zu sein. Der Schade, den sie der Sache des Christentums zugefügt haben, ist unermeßlich. Gott möge ihnen verzeihen; es geht über meine Kräfte, ohne Bitterkeit und Haß, ohne Verachtung an sie zu denken.« – Er erzählte, schilderte, was er gesehen hatte; seine Darstellung war knapp, anschaulich, sachlich. Er sagte: »Ich gehe nach Spanien zurück. Ich bete jede Nacht zu Gott, daß die gute Sache, die menschliche Sache siegen möge.« Ehe er abtrat, hob auch er die geballte Faust. – Er war etwas breiter in den Schultern geworden. Nun war er kein Knabe mehr.

Marion hatte ihn seit Marcels Tod nicht gesehen. Sie begegneten sich im Treppenhaus. »Du hast gut gesprochen«, sagte Marion. Er lächelte. »Man bekommt Übung … Früher haben die Menschen mir Angst gemacht. Jetzt ist es mir ganz natürlich geworden, ihnen zu sagen, was ich denke und fühle.« – »Du hast dich verändert.« Marion schaute ihn nachdenklich an. Er, statt zu antworten, bekam plötzlich einen Blick, der in Fernen ging. Auch der bleiche Glanz auf Stirn und Lippen war wieder da, während er leise sagte: »Marcel ist leicht gestorben. Er hat keine Schmerzen gehabt – oder doch nicht lange. Ins Herz getroffen. Tot.« Marion, furchtbar erschrocken, wollte fragen: Woher weißt du das? – Und: Wie kommst du auf diese Worte? – Aber andere Menschen drängten sich dazwischen; das Treppenhaus füllte sich, es gab eine Pause im Saal. Kikjou wurde von Marion getrennt. Er winkte noch einmal; der Blick seiner kindlichen, vielfarbigen, weit geöffneten Augen – ein freundlicher und ernster, dabei fast lustiger Blick – traf sie noch. Dann war er verschwunden, wie verschluckt von den Menschenmassen. Er wurde einer von ihnen; Marion fand ihn nicht mehr.

Adieu, kleiner Kikjou – auch du bist durch Abenteuer gegangen, die dich bedeutend verändert haben. ›Was ist aus le petit frère de Marcel geworden?‹ dachte Marion, innig betroffen. ›Der reizende, etwas suspekte Abenteurer – Martins schwieriger Liebling – zu was hat er sich entwickelt, und was wird aus ihm? – Sein Gesicht ist jetzt viel weniger weich, als ich es früher gekannt habe; härter, kühner, männlicher geworden. Es freut mich so, daß ich ihm noch begegnet bin! Ein gutes Wiedersehen zum Schluß. Ein guter Abschied von Europa; ein hoffnungsvoller Abschied.‹

Während der letzten Tage, die sie in Paris verbrachte, war sie besser gestimmt als die ganzen Wochen vorher; vielleicht hing es mit Kikjou zusammen, und er war es wohl, dem sie dankbar sein mußte.

Sie ging durch die geliebten, vertrauten Straßen und dachte: ›Au revoir. Ich sehe euch wieder. Wir sind noch nicht fertig miteinander; noch lange nicht. Uns steht noch allerlei bevor – euch und mir: nicht nur Bitteres, sondern auch Triumphe. Jetzt haben wir keine gute Zeit, viele Gefahren drohen; doch kommt es auch anders, auch besser.

Au revoir, Boulevard St.-Germain, Rue Jacob, Rue des Saints-Pères, Boulevard St.-Michel, Rue Monsieur le Prince; au revoir, Quai Voltaire, Place de la Concorde, Boulevard des Italiens, Place Blanche, Boulevard de Clichy, lächerliche alte Moulin Rouge. Auf Wiedersehen, du taubengraues, perlengraues Licht der geliebten Stadt! Heimat der Pariser, Heimat der Franzosen, Heimat der Heimatlosen, Herz Europas – leb wohl! Sieh mich nur recht spöttisch und zurückhaltend an – ich lasse mich von dir nicht kränken. Bin ich die Unerwünschte für dich, l’indésirée, und am Ende doch nur eine sale boche? Was ficht’s mich an? Ich liebe dich, auch wenn du keinen Wert darauf legst. Je t’aime malgré toi. Deine kühlen, spöttischen Blicke ärgern mich nicht; um es nur zu gestehen: eher sind sie geeignet, mich zu amüsieren. Was sagen mir deine Blicke? – Alors, en somme, Madame, vous êtes sans patrie … Da muß ich freilich etwas widersprechen. Heimat – das Wort ist so voll mit Sinn, so inhaltsreich, ist so schwer und tief. Ich bin so vielfach gebunden – nicht nur an Deutschland, das ich nie verlieren kann; auch an diese Stadt, die ich liebe, und an den Erdteil, den problematischen Kontinent, an das alte, besorgniserregende, treu geliebte Europa … Keine Heimat? Zuviel Heimat … Zuviel Erinnerungen … Würde ich so schweren Herzens abfahren, wenn es nicht die Heimat wäre, die ich verlasse? – Ich habe Angst um Europa. Ich sorge mich um Paris wie um eine Kranke. Ich zittere für Deutschland wie für einen nah Verwandten, der irrsinnig wird. Trotzdem reise ich ab. Ist dies Flucht? – Nein; denn ich komme wieder. Und vielleicht kann ich meinem alten Erdteil jetzt besser dienen – dort draußen und drüben.

Ich trage meine Sorge um Europa in die Welt hinaus.

Adieu, Champs-Élysées, Rond Point, adieu, Étoile! Ihr Häuser, ihr Bäume, sanftes Wasser der Seine, ihr Brücken, ihr Brunnen; ihr Menschen – lachende oder schimpfende oder betrübte Menschen; ihr blassen Kinder, spielend im Jardin de Luxembourg – lebt wohl!

Adieu, Paris – und leb wohl!‹