Kurt Tucholsky – Gesammelte Werke – Prosa, Reportagen, Gedichte

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»Ah – das werden die von der Frau Adriani gewesen sein. Von Läggesta.« Und sie deutete über den See, wo man weit, weit in einer Lichtung recht undeutlich ein großes Gebäude liegen sah. »Das ist ein Pensionat, das ist eine Kinderkolonie. Ja.« Dazu machte sie ein Gesicht, wie ich es noch nie bei ihr gesehen hatte. Ich wurde neugierig. Man soll nie jemand nach dem fragen, was man wissen will, das ist eine alte Weisheit. Dann sagt er’s nicht. »Da sind gewiß viele Kinder … wie?« – »Ja, eine heile Masse«, sagte Frau Andersson; man mußte oft raten, was sie wohl meinte, denn sie übersetzte sich wahrscheinlich alles wörtlich aus dem Schwedischen. »In diesen Pensionat sind viele Kinder, aber nicht viele schwedische Kinder. Es gescheht Gottlob!« – »Warum Gottlob, Frau Andersson?« – »Jaha«, sagte sie und schlug mit der Seele einen Haken, wie ein verfolgter Hase, »da sind nicht viele schwedische Kinder, ne-do!« – »Schade«, sagte ich und kam mir mächtig diplomatisch vor. »Da ist es gewiß hübsch …« Frau Andersson schwieg einen Augenblick. Dann nahm sie beherzt einen kleinen Anlauf. Sie senkte die Stimme.

»Das ist … das ist nicht eine liebe Frau, der da ist. Aber ich will nichts Böses sagen … verstehn Sie. Es ist eine deutsche Dame. Aber sie ist keine gute Dame. Das Volk von Deutschland sind so wohnliche Menschen – nicht wahr … Waren Sie so gut, fassen Sie mir das nicht übel!« – »Sie meinen die Vorsteherin von dem Pensionat?« – »Ja«, sagte Frau Andersson. »Die Versteherin. Die Versteherin, das ist eine schlimme Person. Das ist … jeder fühlt sie hier. Wir haben nicht an ihr Geschmack. Sie ist nicht gut gegen den Kindern.« – »So«, sagte ich und sah auf die Bäume, die leise mit den Blättern zitterten, wie wenn sie fröstelten, »so – keine gute Dame? Na … was macht sie denn? Schreit sie mit ihnen?« – »Ich will Sie etwas sagen«, sagte Frau Andersson, und nun wandte sie sich zur Prinzessin, als ob diese Sache nur unter Frauen abzuhandeln wäre; »sie ist hart zu den Kindern. Die Versteherin … sie slagt die Kinder.« Der Prinzessin gab es einen Ruck. »Sagt denn da niemand was?« – »Jaha …«, sagte Frau Andersson. »So schlagt sie sie nicht. Die Polizei kann darein nichts sprechen. Sie schlagt ihnen nicht, so zu krank zu werden. Aber sie ist unrecht dazu, die Kinder ist sehr bange für ihr.« Sie deutete auf ein schloßartiges Gebäude, das hinter Mariefred auf einem Hügel lag. »Ich möchte lieber da sein als bei der Kinderfrau.« – »Was ist denn das da hinten?« fragte ich. »Das ist eine Irrtumsanstalt«, sagte Frau Andersson. »So – und die Irren haben es besser als diese Kinder da?« – »Ja«, sagte Frau Andersson. »Aber da will ich sehn, ob das Abendmahl fertig ist … einen Augenblick!« Und sie ging, eilfertig, wie wenn sie zuviel gesagt hätte.

Wir sahen uns an. »Komisch, wie?« – »Ja … das gibt’s«, sagte ich. »Wahrscheinlich irgend so ein Deubel von Weib, das da mit der Zuchtrute regiert …« – »Peter – spiel noch ein bißchen Klavier, bis das Essen fertig ist!«

Und wir gingen ins Musikzimmer der Schloßfrau, das hatte sie uns erlaubt, und ich setzte mich an das kleine Klavier und ließ fromme Gesänge ertönen. Ich spielte hauptsächlich auf den schwarzen Tasten; man kann sich besser daran festhalten.

Ich spielte:

 
Manchmal denke ich an dich,
das bekommt mich aber nich …
denn am nächsten Tag bin ich so müde –
 

und:

 
Wenn die Igel in der Abendstunde
still nach ihren Mäusen gehn,
hing auch ich an deinem Munde –
 

und dann sangen wir alte Volkslieder und dann amerikanische Lieder, und dann sangen wir ein Reiterlied, das wir selber gedichtet hatten, und das ganz und gar blödsinnig war, von der ersten bis zur letzten Zeile, und dann war das Abendessen fertig. Wir hatten eine Flasche Whisky aufgetrieben. Das war nicht einfach gewesen, denn wir hatten kein »Motbok«, nicht dieses kleine Buch, das die Schweden zum Bezug von Schnaps berechtigt. Aber die Flasche hatten wir. Und gar so teuer war sie auch nicht gewesen. Braun und Blond – black and white … ihr sollt leben …!

Wir saßen vor dem Haus an einem Holztischchen und sahen zum Schloß hinüber. Ab und zu tranken wir einen Schluck.

Zehn schlug es von dem alten Kirchturm – zehn Uhr. Die Luft stand still; die Bäume rührten kein Blatt – alles ruhte. Helle Nächte. Es war eine starre Ruhe, wie wenn sich etwas staute und die Natur den Atem anhielte. Hell? Es war nicht hell. Es war nur nicht dunkel. Die Äste drohten so schwärzlich, sie warteten. Wie wenn man allem die Haut abgerissen hätte: schamlos, ohne Dunkel, stand es herum, der Schwärze beraubt. Man hätte das schwarze Kleid der Nacht herbeizaubern und alles zudecken mögen, damit nichts mehr sichtbar wäre. Das Schloß hatte sein brennendes Rot eingebüßt und sah fahlbraun aus, dann düster. Der Himmel war grau. Es war Nacht, ohne Nacht zu sein.

»So still, wie es jetzt ist, so sollte es überall und immer sein, Lydia – warum ist es so laut im menschlichen Leben?« – »Meinen lieben Dschung, das findest du heute nicht mehr – ich weiß schon, was du meinst. Nein, das ische woll ein für alle Mal verlöscht …« – »Warum gibt es das nicht«, beharrte ich. »Immer ist etwas. Immer klopfen sie, oder sie machen Musik, immer bellt ein Hund, marschiert dir jemand über deiner Wohnung auf dem Kopf herum, klappen Fenster, schrillt ein Telephon – Gott schenke uns Ohrenlider. Wir sind unzweckmäßig eingerichtet.« – »Schwatz nicht«, sagte die Prinzessin. »Hör lieber auf die Stille!«

Es war so still, daß man die Kohlensäure in den Gläsern singen hörte. Bräunlich standen sie da, ganz leise setzte sich der Alkohol ins Blut. Whisky macht sorgenfrei. Ich kann mir schon denken, daß sich damit einer zu Grunde richtet.

Weit in der Ferne läutete eine Glocke, wie aus dem Schlaf geschreckt, dann war alles wieder still. Weißgrau lag unser Haus; alle Lichter waren dort erloschen. Die Stille wölbte sich über uns wie eine unendliche Kugel.

In diesem Augenblick war jeder ganz allein, sie saß auf ihrem Frauenstern, und ich auf einem Männerplaneten. Nicht feindselig … aber weit, weit voneinander fort.

Mir stiegen aus dem braunen Whisky drei, vier rote Gedanken durchs Blut … unanständige, rohe, gemeine. Das kam, huschte vorbei, dann war es wieder fort. Mit dem Verstand zeichnete ich nach, was das Gefühl vorgemalt hatte. Du altes Schwein, sagte ich zu mir. Da hast du nun diese wundervolle Frau … du bist ein altes Schwein. Kein Haus ohne Keller, sagte das Schwein. Mach dir doch nichts vor! Du sollst das nicht, sagte ich zu dem Schwein. Du hast mir schon so viel Kummer und Elend gemacht, so viel böse Stunden … von der Angst, daß ich mir etwas geholt hätte, ganz zu schweigen. Laß doch diese unterirdischen Abenteuer! So schön ist das gar nicht – das bildest du dir nur ein! Höhö, grunzte das Schwein, das ist also nicht schön. Stell dir mal vor … Still! sagte ich, still! Ich will nicht. Oui, oui, sagte das Schwein und wühlte schadenfroh; stell dir vor, du hättest jetzt … Ich schlug es tot. Für dieses Mal schlug ich es tot – sagen wir: ich schloß den Koben ab. Ich hörte es noch zornig rummeln … dann sangen wieder die Gläser, ganz, ganz leise, wie wenn eine Mücke summte. »Daddy«, sagte die Prinzessin, »kann man hier eigentlich das blaue Kostüm tragen, das ich mitgenommen habe?«

Ich war wieder bei ihr; wir saßen wieder auf demselben Trabanten und rollten gemeinsam durch das Weltall. »Ja …«, sagte ich. »Das kannst du.« – »Paßt es?« – »Natürlich. Es ist doch diskret und leise in der Farbe, das paßt schön.« – »Du sollst nicht soviel rauchen«, sagte ihre tiefe Stimme; »dann wird dir wieder übel, und wer hat’s nachher? Ich. Tu mal die Pfeife weg.«

Ich, Sohn, tat die Pfeife weg, weil die Mutter es so wollte. Leise legte ich meine Hand auf die ihre.

5

Maurer hatten das große Haus in Läggesta gebaut – wer denn sonst. Handwerker; ruhige bedächtige Männer, die sich erst dreimal umsahen, bevor sie eine Bewegung machten, das ist auf der ganzen Welt so. Als alles fertig war, hatten sie die Wände mit Kalk beworfen, manche Zimmer hatten sie gestrichen, viele tapeziert, ganz unterschiedlich und alles nach Angabe. Dann waren sie gleichmütig weggegangen, das Haus war fertig, nun konnte darin geschehen, was wollte. Das war nicht mehr ihre Sache, sie waren nur Handwerker. Die Gerichtsstube, in der einer gefoltert wird, war, als sie geboren wurde, ein ziegelgemauertes Viereck, glatt und geweißt, oben hatte der Maler fröhlich pfeifend auf seiner Leiter gestanden und hatte den bestellten grauen Streifen rings an die Wände gemalt; es war ein Handwerksstück, das er da vollführte … und nun war es auf einmal eine Gerichtsstube. So unbeteiligt bauen Menschen den Schauplatz zukünftiger Szenen; sie errichten die Kulissen und das Gerüst, sie stellen das ganze Theater auf, und dann kommen andre und spielen dort ihre traurigen Komödien.

Das Kind lag im Bett und dachte.

Denken … Vor langen Zeiten, als es noch einen Vater gehabt hatte, da hatte es mit ihm immer »Denken« gespielt. Und der Vater hatte dabei so gelacht, er konnte so wundervoll lachen … »Was tust du?« hatte das Kind gefragt. »Ich denke«, hatte der Vater gesagt. »Ich will auch denken.« – »Gut … denke auch!« Und er war ernsthaft in der Stube auf und ab gegangen, das Kind immer hinterher, es ahmte genau die Haltung des Vaters nach, würdeschwer hielt es die Hände auf dem Rücken, runzelte die Stirn wie er … »Was denkst du?« hatte der Vater gefragt. »Ich denke: Löwe –«, hatte das Kind geantwortet. Und der Vater hatte gelacht …

Nebenan schnaufte Inga und warf sich hin und her. Das Kind war plötzlich wieder da, wo es wirklich war: in Schweden. In Läggesta. Mutti war in der Schweiz, so weit fort … das Kind fühlte es heiß in sich hochsteigen. Es hatte so viel flehentliche Briefe geschrieben, drei, eigentlich nur drei – dann war der Teufelsbraten dahintergekommen, daß eines der Dienstmädchen die Briefe heimlich zur Post getragen hatte. Das Mädchen wurde entlassen, das Kind an den Haaren gezogen, und die Briefe, die nun nach der Schweiz gingen, waren musterhaft. Ja, vielleicht mußte das alles so sein. Vielleicht hatte die Mutter kein Geld, um das Kind bei sich zu behalten, und hier oben war es eben billiger. So hatte es ihm die Mutter erklärt.

 

Es war hier so allein. Es war unter den neununddreißig kleinen Mädchen ganz allein – und es hatte Angst. Sein Leben bestand eigentlich nur aus Angst. Angst vor dem Teufelsbraten und Angst vor den ältern Mädchen, die es anschwärzten, wo sie nur konnten, Angst vor dem nächsten Tag und Angst vor dem Vortag, was von dem nun wieder ans Licht kommen könnte, Angst vor allem, vor allem. Das Kind schlief nicht – es bohrte mit seinen Augen Löcher in das Dunkel.

Daß die Mutter es hierher gegeben hatte! Hier waren sie einmal gewesen, vor Jahren, vor drei, vier Jahren – und damals war der Bruder Will gestorben. Er lag da begraben auf dem Kirchhof in Mariefred, und das Kind durfte manchmal das Grab besuchen, wenn der Teufelsbraten das erlaubte oder befahl. Meist befahl er es. Dann stand es an dem kleinen Kindergrab, rechts, die vierzehnte Reihe, das mit dem grauen Steinchen, an dem die Buchstaben noch so neu schimmerten. Aber dort hatte es nie geweint. Es weinte nur manchmal zu Hause um Will – um den dicken, kleinen Will, der jünger gewesen war als das Kind, jünger, toller im Spiel und ein guter Junge. Hier und da bekam er einen Klaps, aber die Mutter tat ihm nicht weh, und er lachte unter seinen Kindertränen und war dann wieder ein guter, kleiner Spieljunge. Wie aus Wolle. Und dann wurde er krank. Eine Grippe, sagten die Leute, und nach vier Tagen war er tot. Das Kind roch noch den Arztgeruch, das war nicht hier gewesen, das war in Taxinge-Näsby, nie würde es den Namen vergessen. Den säuerlichen Arztgeruch, das »Psst!« – alles ging leise, auf Zehenspitzen, und dann war er gestorben. Wie das war, hatte das Kind vergessen. Will war nicht mehr da.

Der Bruder nicht. Mutti nicht. Vater weggegangen, wohin … Niemand war da. Das Kind war allein. Es dachte das Wort nicht – viel schlimmer: es fühlte die Einsamkeit, wie nur Kinder sie fühlen können.

Die kleinen Mädchen raschelten in den Kissen. Eins flüsterte im Schlaf. Das war jetzt der zweite Sommer hier oben. Es würde nie anders werden. Nie. Mutti soll kommen, dachte das Kind. Aber sie müßte es hier fortnehmen, denn gegen Frau Adriani kam auch Mutti nicht auf. Niemand kam gegen sie auf. Schritte? Wenn sie jetzt käme? Einmal war Gertie krank gewesen; da war Frau Adriani fünfmal in der Nacht heraufgekommen – fünfmal hatte sie nach dem kranken Kind gesehen, sie hatte fast eifersüchtig mit der Krankheit gekämpft. Und zum Schluß hatte sie das Fieber besiegt. Wenn sie jetzt käme? Nichts – eins der acht Betten hatte geknarrt. Das war Lisa Wedigen, die schlief immer so unruhig. Wenn doch einer – wenn doch einer – wenn doch einer … Morgen war Baden im See. Da spritzen einen die Mädchen immer so mit Wasser. Wenn doch einer –

Die Hände des Kindes tasteten vorsichtig unter das Kopfkissen, suchten im Laken, verschoben alles. Fort? Nein. Sie waren noch da.

Unter dem Kopfkissen lagen, verwelkt und zerdrückt, zwei kleine Glockenblumen.

Drittes Kapitel

 
Ei ist Ei, sagte jener –
und nahm das größte.
 
1

Wir beugten uns beide über den Brief und lasen gemeinschaftlich:

Lieber Freund!

Ich habe in diesem Jahr noch acht Tage Urlaub gut und würde die gern mit Dir und Deiner lieben Frau Freundin verleben. Wie ich höre, seid Ihr in Schweden. Lieber Freund, würdest Du wohl Deinen alten Kriegskameraden, der Dir in so manchem Granattrichter den Steigbügel gehalten hat, bei Euch aufnehmen? Lieber Freund, ich zahle auch das Reisegeld für mich allein; es ist mir sehr schmerzlich, für mich allein etwas bezahlen zu müssen; es ist dies sonst nicht meine Art, wie Du weißt. Schreibe mir bitte, wie ich zu Euch fahre, lieber Freund.

Kann ich da wohnen? Wohnt Ihr? Sind da viele Mädchen? Soll ich lieber nicht kommen? Wollen wir uns gleich den ersten Abend besaufen? Liebst Du mich?

Ich sende Dir beigebogen in der Falte das Bild meines Fräulein Tochter. Sie wird so schön wie ich.

Lieber Freund, ich freue mich sehr, Euch zu sehen, und bin Euer gutes

Karlchen

Darunter stand, mit Rotstift, wie ein Aktenvermerk:

»Sofort! Noch gestern! Eilt unbeschreiblich!«

»So«, sagte ich. »Da hätten wir ihn. Soll er kommen?«

Braun war die Prinzessin und frisch. »Ja«, sagte sie. »jetzt kann er kommen. Ich bin ausgeruht, und wenn er überhaupt nach acht Tagen wieder wegfährt? Abwechslung ist immer gut.« Demgemäß schrieb ich.

Wir waren in der Mitte der Ferien.

Baden im See; nackt am Ufer liegen, an einer versteckten Stelle, sich voll Sonne saugen, daß man mittags herrlich verdöst und trunken von Licht, Luft und Wasser nach Hause rollt; Stille; Essen; Trinken; Schlaf; Ruhe – Urlaub.

Dann war es soweit. »Wollen wir ihn abholen?« – »Halen wi em aff.«

Es war ein strahlender Tag – ein Wetter, wie die Prinzessin sagte, ein Wetter zum Eierlegen. Wir gingen auf den Bahnhof. So ein winziger Bahnhof war das; eigentlich war es nur ein kleines Haus, das aber furchtbar ernst tat und vor lauter Bahnhof vergessen hatte, daß es Haus war. Da lagen auch zwei Schienenpaare, weil die ja zu einem Bahnhof gehören, und hinten kam der Waggon angeschnauft. Einen Zug gab es hier nicht – nur einen Motorwagen. Er hatte sich einen kleinen Schornstein angesteckt, damit man es ihm auch glaubte. Einfahrt. Gezisch. Karlchen.

Wie immer, wenn wir uns lange nicht gesehen hatten, machte er eine gleichmütig-freundlich-dümmliche Miene, so: »Na … da bist du ja …« Er kam auf uns zu, der Schatten der kommenden Begrüßung lag schon auf seinem Gesicht, in der Hand trug er ein kleines Köfferchen. Der Bursche war gut gewachsen, und sein leicht zerhacktes Gesicht sah »jung und alert« aus, wie er das nannte.

Guten Tag – und dies ist … und das ist … gebt euch mal die Hand … und: Wo hast du denn das große Gepäck? – Als die Präliminarien vorbei waren: »Na, Karlchen, wie war denn die Reise?«

Er war nach Stockholm in einem Flugzeug geflattert, und heute mittag war er angekommen … »War es schön?« – »Na«, sagte Karlchen und fletschte nach alter Gewohnheit das Gebiß – »da war eine alte Dame, die hatte Luftbeschwerden. Gib mir mal’n Zigarettchen. Danke. Und da haben sie doch diese kleinen Tüten … Zwei Tüten hatte sie schon verbraucht, und dann bekam sie nicht rasch genug die dritte, und der Mann neben ihr muß sich nun einen neuen Sommerüberzieher kaufen oder den alten reinigen lassen. Ich saß leider nicht neben ihr. Die sonstige Aussicht war sehr schön. Und wie gefällt es denn der Gnädigsten hier?«

Wenn Karlchen »Gnädigste« sagte, woran er selber nicht glaubte, dann machte er sich ganz steif und beugte den Oberkörper fein nach vorn; dazu hatte er eine bezaubernde Bewegung, den Unterarm mit einem Ruck zu strecken und ihn dann mit spitzem Ellenbogen wieder einzuziehen, wie wenn er nach seinen Manschetten sehen wollte …

Wie es der Gnädigsten gefiele? »Wenn der hier nicht dabei wäre«, sagte die Gnädigste, »dann würde ich mich sehr gut erholen. Aber Sie kennen ihn ja – er schwabbelt soviel und läßt einen nicht in Ruhe …« – »Ja, das hat er immer getan.«

»Wie schön«, sagte er plötzlich, »daß ich meinen Schirm in der Bahn habe stehnlassen.« Und wir gingen zurück und holten ihn. In Schweden kommt nichts fort. Die beiden waren sich sofort und sogleich einig – merkwürdig, wie bei Menschen oft die ersten Minuten über ihre gesamten spätern Beziehungen entscheiden. Hier war augenblicklich zu spüren, daß sich beide auf Anhieb verstanden:

Das Ganze wurde nicht recht ernst genommen. Und ich schon gar nicht.

Karlchen war noch genauso wie vor einem Jahr, wie vor zwei Jahren, wie vor drei Jahren: so wie er immer gewesen war. Er hob grade den Kopf und schnupperte leicht mißtrauisch in der Luft umher. »Hier ist … irgendwas … Irgendwas ist hier … wie?« Das sagte er so hin, sprach dabei die Konsonanten scharf aus und trübte auch wohl manchmal das a, wie sie es im Hannöverschen zu tun pflegen. Genauso waren wir damals im Krieg am Ufer der Donau entlangspaziert und hatten gefunden, daß da irgend etwas sein müsse … Es war aber nichts.

Ich hoppelte neben den beiden her, die in ein angeregtes Gespräch über Schweden und über die Landschaft, über die Fliegerei und über Stockholm vertieft waren, die Prinzessin hatten wir in die Mitte genommen, manchmal sprachen wir über sie hinweg, und ich badete in einer tiefen Badewanne von Freundschaft.

Sich auf jemand verlassen können! Einmal mit jemand zusammensein, der einen nicht mißtrauisch von der Seite ansieht, wenn irgendein Wort fällt, das vielleicht die als Berufsinteressen verkleidete Eitelkeit verletzen könnte, einer, der nicht jede Minute bereit ist, das Visier herunterzulassen und anzutreten auf Tod und Leben … ach, darauf treten die Leute gar nicht an – sie zanken sich schon um eine Mark fünfzig … um einen alten Hut … um Klatsch … Zwei Männer kenne ich auf der Welt; wenn ich bei denen nachts anklopfte und sagte: Herrschaften, so und so … ich muß nach Amerika – was nun? Sie würden mir helfen. Zwei – einer davon war Karlchen. Freundschaft, das ist wie Heimat. Darüber wurde nie gesprochen, und leichte Anwandlungen von Gefühl wurden, wenn nicht ernste Nachtgespräche stattfanden, in einem kalten Guß bunter Schimpfwörter erstickt. Es war sehr schön.

Wir hatten ihn im Hotel untergebracht, weil es in diesen Tagen bei uns keinen Platz mehr gab. Er sah sein Zimmer an, behauptete, es röche darin wie im Schlafzimmer Ludwigs des Anrüchigen, es wäre überhaupt »etwas dünn« … das sagte er von allem, und ich hatte es schon von ihm angenommen; dann mußte er sich waschen, und dann saßen wir unter den Bäumen und tranken Kaffee.

»Na, Fritzchen …?« sagte er zu mir. Niemand wird je ergründen können, warum er mich Fritzchen nannte. »Kann man denn bei euch baden? Wie ist der See?« – »Es sind gewöhnlich sechzehn Grad Celsius oder zwanzig Remius«, sagte ich. »Das macht die Valuta.« Das sah er ein. »Und was tun wir heute abend?« – »Ja …«, sagte die Prinzessin, »heute wollen wir einen ganz stillen Abend abziehen …« – »Kann man hier Rotwein bekommen?« – Ich berichtete die betrübliche Tatsache mit dem Rotwein und erzählte davon, daß in der »Sprit-Zentrale« ein junger Mann Chablis unter den Rotweinen gesucht habe. Karlchen schloß wehmütig die Augen. »Aber du darfst den Wein bezahlen, Karlchen – das ist der sogenannte Einstand, den die Fremden hier geben.« Das hörte er leider nicht. Ein Mädchen ging vorüber – nicht einmal ein besonders hübsches. »Na …?« sagte Karlchen, »was …?« Und sprach weiter, als ob gar nichts gewesen wäre. Es war auch nichts. Aber er mußte das sagen – sonst wäre er wohl geplatzt. Und nun fingen wir langsam an, uns wie vernünftige Menschen zu gebärden.

Wir waren ein ganzes Stück Zeit miteinander gefahren und sprachen unter uns einen Cable-Code, der vieles abkürzte. Die Prinzessin fand sich überraschend schnell darein – es war ja auch nichts Geheimnisvolles, es war eben nur die Übereinstimmung in den Grundfragen des Daseins. Wir wußten beide, daß es »alles nicht so doll« sei … und wir hatten uns aus Skepsis, Einsicht, Unvermögen und gut angelegter Kraft eine Haltung zusammengekocht, die uns in vielem schweigen ließ, wo andre wild umhersurrten. Die größten Vorzüge dieses Mannes lagen, neben seiner Zuverlässigkeit, im Negativen: was er alles nicht sagte, was er nicht tat, nicht anstellte … Da gab es keine fein gebildeten Verdauungsgespräche, in denen die Herren dem »Geist ihrer Zeit« einen scheußlichen Tribut darbringen, ohne übrigens ihr Leben auch nur um einen Deut zu ändern. Da wurde nicht literarische Bildung verzapft, und es gab keine Wiener Aphorismen über Tod, Liebe, Leben und Musik wie bei den Journalisten aus Österreich und den ihnen Anverwandten … es wird einem himmelangst, wenn man das hört, und beim ersten Male glaubt man das druckfertige Gerede auch, und es ist alles, alles nicht wahr. Was Karlchen anging, so war das ein Stiller. Er rauchte die Welt an, wunderte sich über gar nichts mehr, war ein braver Arbeiter im Aktengarten des Herrn und zog zu Hause zwei Kinder auf, ohne dabei ein Trockenmieter seiner selbst zu werden. Hier und da fiel er in Liebe und Sünde, und wenn man ihn fragte, was er nun wieder angestellt hätte, dann fletschte er die Zähne und sagte: »Sie hat mich über die Schwelle der Jugend geführt!« und dann ging es wieder eine Weile. Jetzt saß er da und rauchte und dachte nach.

 

»Wir müssen an Jakopp schreiben«, sagte er. Jakopp war der andre – wir waren drei. Mit der Prinzessin vier. »Was wollen wir ihm denn schreiben?« fragte ich. »Hast du ihn gesehn? Du bist doch über Hamburg gefahren?« Ja, Karlchen war über Hamburg gefahren, und er hatte ihn gesehn. Jakopp war der Verschrullteste von uns, am Hamburger Wasserwerk sich betätigend, ein Ordentlicher, der deshalb auch die Georginen über alles liebte – »Georgine, die ordentliche Blume«, sagte er – ein Kerl von bunter Verspieltheit und mit vierhundertundvierundvierzig fixen Ideen im Kopf. Wir paßten gut zueinander.

»Wo ist denn auf einmal die Prinzessin?« fragte Karlchen. Die Prinzessin war ins Städtchen gegangen, »Knöpfchen kaufen«. Wir kauften nie zusammen Knöpfchen, womit jede Art Einkauf gemeint war – wenn wir es aber doch taten, dann zankten wir uns dabei. Nun war sie fort. Wir schwiegen eine Weile.

»Na, und sonst, Karlchen?« – »Sonst hat sich Jakopp Pastillen gekauft, weil er doch so viel raucht. Und wenn er raucht, dann hustet er doch so. Du kennst das ja – es ist ein ziemlich scheußlicher Anblick. Und jetzt hat er sich gegen das Rauchen ein Mittel besorgt: Fumasolan heißen die Dinger. Hm –« – »Na und? Helfen sie?« – »Nein, natürlich nicht. Aber er sagt: seit er das nimmt, verspürt er eine merkwürdige Steigerung seiner Manneskräfte. Das stört ihn sehr. Ob sie ihm die falschen Pastillen eingepackt haben?« – So ging alles in Jakopps Leben zu, und wir hatten viel Freude daran.

»Gib mal eine Karte. Was wollen wir ihm denn …?« Endlich hatte ich es heraus. Wir wollten ihm eine Telegrammkarte schicken, weil das tägliche Telegramm, das ihn gestört und herrlich aufgebracht hätte, zu teuer gewesen wäre. Wir telegraphierten also fortab auf Karten entsetzlich eilige Sachen – heute diese:

 
hergeflogenes karlchen soeben fast zur gänze
eingetroffen drahtet sofort, ob sofort drahten
wollt stop großmutti leider aus schaukel gefallen
großvati
 

Diese schwere Arbeit hatten wir hinter uns … nun ruhten wir aus und sagten erst mal gar nichts. Da kam die Prinzessin.

Sie hatte vielerlei Knöpfchen eingekauft; es ist rätselhaft, was für eine Fülle von Waren Frauen noch in den kleinsten Ortschaften entdecken. Und Geld hatte sie auch nicht mehr, und ich zog mit gefurchter Stirn die Brieftasche und tat mich sehr dick. Dann legten wir uns ins Gras.

»Geht euch das eigentlich auch so«, sagte Karlchen, der hier schon völlig zu Hause war, »daß ihr euch so schwer erholt? Erholung ist eine Arbeit, finde ich. Man macht und tut, auch wenn man gar nichts tut – und man merkt es erst hinterher, wie …?« – »Hm«, machten wir; wir waren zu faul, zu antworten. Es knisterte. »Steck die Zeitungen weg!« sagte ich. »Habt ihr gelesen …?« sagte er. Und da war es.

Da war die Zeit.

Wir hatten geglaubt, der Zeit entrinnen zu können. Man kann das nicht, sie kommt nach. Ich sah die Prinzessin an und zeigte auf die Zeitung, und sie nickte: Wir hatten heute nacht davon gesprochen, davon und von der Zeit und von dieser Zeit … Man denkt oft, die Liebe sei stärker als die Zeit. Aber immer ist die Zeit stärker als die Liebe. »Gelesen … gelesen …«, sagte ich. »Karlchen, was liest du jetzt eigentlich für eine Zeitung?« – Er nannte den Namen. »Man soll nicht nur eine lesen«, lehrte ich weise. »Das ist gar nichts. Man muß mindestens vier Zeitungen lesen und eine große englische oder französische dazu; von draußen sieht das alles ganz anders aus.« – »Ich muß mich immer wundern«, sagte die Prinzessin, »was unsereiner da so vorgesetzt bekommt. Seht mal – Zeitungen für uns gibt es eigentlich gar nicht. Sie tun immer alle so, als ob wir wer weiß wieviel Geld hätten – nein, als ob es gar kein Geld auf der Welt gäbe … dabei wissen sie genau: wir haben nur wenig – aber sie tun so. Was sie uns da alles erzählen … und was sie alles abbilden!« – »Geronnene Wunschträume. Du sollst schlafen, du sollst schlafen, du sollst schlafen, liebes Kind!« – »Nein, das meine ich nicht«, sagte die Prinzessin. »Ich meine, sie sind alle so furchtbar fein. Noch wenn sie den Dalles schildern, ist es ein feiner Dalles. Sie schweben eine Handbreit über dem Boden. Ob mal ein Blatt sagt, wie es nun wirklich ist: daß man am Zwanzigsten zu knapsen anfängt, und daß es mitunter recht jämmerlich und klein ist, und daß man sich gar nicht so oft ein Auto leisten kann, von Autos kaufen überhaupt nicht zu reden, und mit ihrer lächerlichen Wohnungskultur … haben wir vielleicht anständige Wohnungen?«

»Die Leute fressen einen auf«, sagte ich. »Das Schlimmste ist: sie stellen die Fragen und sie ziehen die Kreise und sie spannen die Schnüre – und du hast zu antworten, du hast nachzuziehen, du hast zu springen … du kannst dir nichts aussuchen. Wir sind nicht hienieden, um auszusuchen, sondern um vorliebzunehmen – ich weiß schon. Aber daß man lauter Kreuzworträtsel aufbekommt: Rom gibt dir eins auf und Rußland eins und Amerika und die Mode und die Gesellschaft und die Literatur – es ist ein bißchen viel für einen einzelnen Herrn. Finde ich.«

»Wenn man sich das recht überlegt«, sagte Karlchen, »sind wir eigentlich seit Neunzehnhundertundvierzehn nicht mehr zur Ruhe gekommen. Spießerwunsch? Ich weiß nicht. Man gedeiht besser, wenn man seinen Frieden hat. Und es kommt alles nach – es wirkt so nach … Weißt du noch: der allgemeine Irrsinn in den Augen, als uns das Geld zerrann und man ganz Deutschland für tausend Dollar kaufen konnte? Damals wollten wir alle Cowboys werden. Eine schöne Zeit!«

»Lieber Mann, wir haben das Pech, nicht an das zu glauben, was die Kaffern Proppleme nennen – damit trösten sie sich. Es ist ein Gesellschaftsspiel.«

»Arbeiten. Arbeit hilft«, sagte die Prinzessin.

»Liebe Prinzessin«, sagte Karlchen, »ihr Frauen nehmt das ja ernst, was ihr tut – das ist euer unbestrittener Vorzug vor uns andern. Wenn man das aber nicht kann … Immerhin: eine so schöne junge Frau …«

»Sie werden ausgewiesen, wenn Sie so reden«, sagte die Prinzessin. »Vestahn Sei Plattdütsch?« – Karlchen strahlte: er sprach Platt wie ein hannöverscher Bauer, und jetzt schnackten sie eine ganze Weile in fremden Zungen. Was sagte sie da? Ich horchte auf. »Das hast du mir doch noch gar nicht erzählt?«

»Nein …? Habe ich das nicht?« Die Prinzessin tat furchtbar unschuldig. Sie log sonst gut – aber jetzt log sie ganz miserabel. »Also?«

Der Generalkonsul hatte es mit ihr treiben wollen. Wann? Vor zwei Monaten. »Bitte erzähl.«

»Er hat gewollt. Na, ihr wollt doch alle. Verzeihen Sie, Karlchen, außer Ihnen natürlich. Er hat eines Abends … also das war so. Eines Abends hat er mich gefragt, ob ich länger bleiben könnte, er hätte noch ein langes Exposé zu diktieren. Das kommt manchmal vor – ich habe mir nichts dabei gedacht; natürlich bin ich geblieben.« – »Natürlich …«, sagte ich. »Ihr habt ja sonst den Achtstundentag.« – »Quackel nicht, Daddy – wir haben ihn natürlich nicht, ich habe ihn nicht. Das ist eben in meiner Position …« – »Darüber werden wir uns nie einigen, Alte. Ihr habt ihn nicht, weil ihr ihn euch nicht erkämpft. Und ihr kämpft nicht – ach, ich habe jetzt Ferien.« – »Gibt es dafür Ferien?« fragte Karlchen. »Also«, fuhr die Prinzessin fort, »Exposé. Wie das fertig ist, bleibt er mitten im Zimmer stehn – wissen Sie, Karlchen, mein Chef ist nämlich furchtbar dick – bleibt mitten im Zimmer stehn, sieht mich mit so ganz komischen Augen an und sagt: Haben Sie eigentlich einen Freund? Ja, sage ich. Ach, sagt er, sehn Sie mal an – und ich hatte gedacht, Sie hätten gar keinen. Warum nicht? sage ich. Sie sehn nicht so aus, also ich meine … Na, und dann kam er langsam damit heraus. Er wäre doch so allein, das sähe ich doch … zur Zeit hätte er überhaupt keinen Menschen, und er hätte mal eine langjährige Freundin gehabt, die hätte ihn aber betrogen –«. Karlchen schüttelte bekümmert den Kopf, wie so etwas wohl möglich wäre. »Na, und was hast du gesagt?«– »Du alter Affe – ich habe nein gesagt.« – »Ach?« – »Ach! Hätte ich vielleicht ja sagen sollen?« – »Na, wer weiß! Eine gute Position … Hör mal, ich habe da einen Film gesehn.« – »Da bezieht er nämlich seine Bildung her, Karlchen. Würden Sie mit Ihrem Chef was anfangen?« – Karlchen sagte, er würde mit seinem Chef nie etwas anfangen. »Das ist ja alles Unsinn«, sagte die Prinzessin. »Männer verstehen das nicht. Was hat man denn davon? Ich müßte seine Sorgen teilen wie seine Frau, arbeiten wie seine Sekretärin, und wenn die Börse fest ist, dann bleibt er eines Abends bei einer andern mitten im Zimmer stehn und fragt die, ob sie vielleicht einen Freund … Ach, geht mir doch los!« – »Und an mich hast du gar nicht gedacht?« sagte ich. »Nein«, sagte die Prinzessin. »An dich denke ich erst, wenn der Mann in Frage kommt.« Und dann standen wir auf und gingen an das Seeufer.