Loe raamatut: «Tod eines Agenten», lehekülg 2

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Die Frau beugte sich mit ihrem Smartphone herunter, näher an Lotta heran.

„Sie wohnt da vorn, in dem kleinen Haus.“ Ihre Hand wies flüchtig in die Richtung, in der er das Haus auch gesehen hatte.

„Lotta?“ Vorsichtig und eher rutschend stieg er zu ihr hinunter in den Graben. Sah, dass sie eine Bewegung machte, als wollte sie aufstehen, vielleicht vor ihm fliehen. Sie zog das Bein an, versuchte sich von ihm weg zu drehen. Aber das Ergebnis war lediglich ein abgehacktes Stöhnen. Etwas hinderte sie daran, die Bewegungen richtig auszuführen. Er blieb, wo er war, beugte sich nur zu ihr herunter.

„Lotta, du musst keine Angst haben. Ich will dir helfen. Tut dir etwas weh? Hast du Schmerzen?“

Aber Lotta wimmerte nur leise vor sich hin, schaukelte langsam vor und zurück. Sie hatte den Kopf tief zwischen ihre Schultern gezogen, starrte ihn mit ihren großen, dunklen Augen von unten herauf an. Er fühlte Mitleid mit diesem schutzlosen Wesen und er fühlte sich hilflos. Sah, wie der Regen unaufhörlich an ihr herunterlief, an ihren langen Haaren herunter und über ihr Gesicht. Ein merkwürdig altes Gesicht.

„Lotta, dein Kind. Was ist mit deinem Kind?“

Augenblicklich saß Lotta ganz still. Dann, als habe er sie an etwas Wichtiges erinnert, riss sie Mund und Augen erschreckt auf. Sah ihm mit brennendem, stechendem Blick fest in die Augen. Unvermittelt zog sie das, was sie in den Armen hielt, mit einem Ruck bis zum Kinn hoch und beugte sich dann schützend weit darüber.

„Baby!“ Sie stieß es heraus, dumpf, unter Anspannung. Schaukelte aufgeregt vor und zurück. Unversehens dann ruckte sie auf dem nassen Boden herum. Jammerte auf, mehrmals, abrupt, und versuchte in mehreren Anläufen aufzustehen. Endlich blieb sie wimmernd und wieder in sich gekehrt sitzen. Er konnte sie nicht erreichen.

„Sie hat kein Kind. Sie hält eine Puppe, eine alte Puppe.“ Erik richtete sich langsam auf, wischte sich über das Gesicht. „Mein Gott. Eine Puppe.“ Erschöpft zog er sich an herunterhängenden Ästen aus dem Graben.

„Sieht aus, als hätte sie sich was gebrochen. Sie kann sich nicht bewegen.“

„Und Sie haben sich auch verletzt. Sie bluten an der Hand.“ Die Frau richtete ihr Licht auf sein Gesicht. „Und haben sich gerade über das Gesicht gewischt.“

Es war eine kleine Schnittstelle im Handballen der rechten Hand. Er hatte sie bisher nicht bemerkt und schenkte ihr auch jetzt keine Beachtung. Der Regen lief darüber und sie würde schon aufhören zu bluten.

„Okay. Ich rufe ja sowieso den Krankenwagen – und ich muss die Polizei rufen. Tut mir leid.“

Aber er hatte sich schon abgewandt, tastete seine Taschen ab. „Fühlt sich an, als wäre ich in voller Montur Schwimmen gewesen. Ich suche mein Smartphone.“

„Das liegt vermutlich im Auto. Oder?“ Sie hatte ihr Smartphone schon am Ohr, wartete darauf, dass die Verbindung zustande kam.

Das Auto! Er fuhr herum. Wenige Meter neben der Straße, zwischen all dem tropfenden Wildwuchs, sah er das spärliche Abblendlicht, das im dichten, nassglänzenden Buschwerk versickerte. Sah den dunklen Umriss des X3 ganz nah neben einem dicken Baum.

Nein! Verdammt nein! Nicht das auch noch. Er fühlte sich unvermittelt dumpf, erledigt, stand mit geschlossenen Augen einen Atemzug lang nur da. Dieser ganze Tag war ein einziges sich steigerndes Desaster gewesen, und das hier war der Höhepunkt. Hoffte er jedenfalls.

Er verließ die Straße, stieg über niedergerissenes Buschwerk hinweg in den Wildwuchs. Rutschte unsicher umher und stolperte im Dunkeln über Äste, Wurzeln und herumliegende Steine auf sein Auto zu. Spürte jetzt, wie das Wasser bei jedem Schritt in seinen Schuhen quotschte, wie schwer die Kleidung an seinem Körper klebte und spannte. Vor ihm tauchten die Rücklichter auf. Zwischen Baumstämmen und niedergewalztem Buschwerk leuchteten sie ihm diffus entgegen; er fürchtete das Schlimmste.

Aber dann sah es gut aus. Er wischte den Regen aus dem Gesicht, atmete tief durch. Das hatte ihm zugesetzt, mit jedem Schritt mehr, die Befürchtung, den Wagen schwer beschädigt hier vorzufinden. Im Licht der Rückleuchten aber und in all dem nassen Chaos, welches ihn umgab, war der Wagen bis zum Dach verdreckt, aber unversehrt. Er folgte mit den Augen den Konturen, war zufrieden mit dem, was er erkennen konnte, öffnete die Beifahrertür und spürte augenblicklich so etwas wie einen elektrischen Schlag.

Im Licht der Innenbeleuchtung glitzerten auf den Sitzen und im Fußraum unzählige kleine Glassplitter und Glasbruchstücke, die Airbags an der Fahrertür hingen schlaff herunter. Beim Herausklettern hatte er all das nicht wahrgenommen – auch nicht, dass er sich an den Glassplittern geschnitten hatte. Aber die Empfindung war sofort zurück. Den Aufprall empfand er wie einen Nachhall mit anschließendem Schlag in den Magen. Er hatte den Wagen ruiniert. Der X3 war mit der ganzen Wucht seines Gewichts an einer dicken Fichte eingeschlagen. Die Fahrertür und der darunterliegende Holm hatten ihr nachgegeben und waren ins Innere des Wagens hineingepresst worden. Das war’s.

Zum wiederholten Mal wischte er sich das Wasser aus dem Gesicht und schlug die Tür zu. Mit der nassen Kleidung konnte er sich sowieso nicht ins Auto setzen.

Das Smartphone! Genervt riss er die Tür wieder auf, musste sich über den Sitz hinunterbeugen, um das Smartphone aus dem Fußraum zu fischen.

Sture Bengtson.“ Kopf und Arm waren noch im Fußraum, als Sture Bengtson wie eine Stichflamme in seinem Kopf aufleuchtete.

Bockmist verdammter! Er zog sich aus dem Fußraum zurück und ließ sich erschöpft auf die Sitzkante fallen, die Füße draußen auf dem Waldboden.

Sture Bengtson! Das war der ultimative Gau! Jetzt hatte er die Chance gründlich vermasselt.

Aber er musste diesen Kerl treffen. Musste ihn treffen, bevor der sein brisantes Material an den nächsten verkaufte.

„Sieht schlimm aus, oder?“ Die Fremde rief es herüber, stand auf der Straße an ihrem Land Rover.

„Noch schlimmer und nicht weniger.“ Erik schloss die Tür und stolperte zurück zur Straße. „Jetzt hänge ich hier fest. In jeder Hinsicht. Verdammt.“ Wütend kickte er einen größeren Stein ins Gebüsch.

„Kommen Sie, setzen wir uns in den Rover. Polizei und Krankenwagen sind unterwegs, dann haben wir es bald hinter uns.“

Er blickte in die Dunkelheit, die von den Rücklichtern des Rovers rot gefärbt wurde. „Müssen wir nicht irgendetwas für diese Lotta tun? Sie wird sich da unten den Tod holen.“ Die nasse Kleidung sperrte am Rücken und an den Knien, als er sich in den Rover hineinzog.

„Ich habe ihr eine dicke Decke hier aus dem Wagen übergelegt. Mehr kann ich nicht tun.“ Sie stellte die Klimaanlage auf ‚Heizen‘. „Ich bin nicht gerade empfindlich, aber jetzt bin ich durchgefroren.“ Sie zog sich zusammen, simulierte ein kräftiges Zittern und schob die tropfende Kapuze vom Kopf.

„Ich überhaupt nicht!“ Er ließ den Kopf nach hinten an die Stütze sinken. „Ich tu nur so und bin froh, dass ich ein wenig trocknen kann.“

„Wo bleiben Sie nachher? Haben Sie hier irgendwo etwas gebucht?“

„Ach man! Ja, das auch noch! Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Vielleicht hat die Polizei ein warmes Kämmerchen für mich – nur für diese Nacht.“ Er musterte sie von der Seite, sah ihr zu, wie sie mit einem Papiertuch über ihr Gesicht wischte. Sie hatte dichtes, naturblondes Haar, am Hinterkopf locker zusammengerafft und hochgesteckt. Er dachte, dass das irgendwie nicht zu ihr passte. Es wirkte zu rustikal. Aber andererseits sah es gut aus, so nach unkompliziertem Naturtyp, mit dem man Pferde stehlen konnte. Zwischen vierzig und fünfzig mochte sie wohl sein, schätzte er.

„Es geht weiter. Da hinten. Ich sehe es im Spiegel.“ Sie wies auf ihren Rückspiegel, zog sich die Kapuze wieder über den Kopf. Schon der Tür zugewandt, hielt sie einen Augenblick inne, sah dann noch einmal zurück, über die Schulter, so als sei ihr noch etwas eingefallen.

„Wir haben vielleicht noch ein Zimmer frei. Wenn Sie das lieber nehmen möchten, als in Polizeigewahrsam zu übernachten. Wir reden gleich darüber.“ Dann war sie draußen.

Erik folgte ihr, unwillig, schlug die Tür zu und verfluchte augenblicklich den Regen, der sofort wieder über ihn herfiel. Nachdem sie einige Minuten im warmen Auto gesessen hatten, empfand er den Regen als absolut hassenswert. Unverändert heftig prasselte er auf ihn herab, auf die Straße, überhaupt auf alles. Er fühlte sich ihm ausgeliefert und das machte ihn zunehmend wütend.

Das Polizeifahrzeug rollte hinter den Rover. Blaulicht zuckte durch den Regen, über nasses Buschwerk und holte einzelne Baumstämme aus der Dunkelheit. Und er konnte im Widerschein der Lichter sehen, dass die Beamten bereits im geräumigen Transporter ihre großen Regencapes überzogen, während ihm das Wasser schon wieder aus den Ärmeln lief. Hinter dem Polizeifahrzeug, in der Kurve noch, kam der Krankenwagen durch den Regen heran, eilig, mit aufgeregt zuckendem Blaulicht.

Kapitel 2

Fünfzehn Minuten später hatten die Beamten den Unfall aufgenommen, hatten Erik auferlegt, für weitere Formalitäten am nächsten Tag die Polizeistation in Arjäng aufzusuchen. Den Wagen musste er am nächsten Tag bergen lassen.

Lotta war offensichtlich schwerer verletzt. Sie war von einem Notarzt versorgt worden und war jetzt auf dem Weg nach Arvika ins Hospital.

„Haben Sie sich das überlegt? Mein Angebot mit dem Zimmer. Sie müssen sonst mit der Polizei zurück nach Arjäng fahren.“ Die Frau hatte die ganze Zeit im Rover gewartet, ihr Wachsmantel wirkte schon wieder trocken.

„Ich werde Ihre Ledersitze ruinieren.“ Erik lehnte den Kopf wieder an die Stütze. „Haben Sie schon mal ein Gummibärchen in einer Wasserpfütze gesehen? So fühl ich mich jetzt auch, wie ein aufgeweichtes Gummibärchen.“ Er zog die nasse Hose an den Knien etwas hoch, um sie von der Haut zu lösen.

„Tut mir leid. Ich habe den Gedanken da draußen verloren. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, mich so durchgeweicht aufzunehmen.“

„Dann sollten Sie vielleicht jetzt Ihr Gepäck holen, damit wir endlich hier wegkommen.“

Er blickte sie an, mit gekrauster Stirn, schluckte an ihrem zurechtweisenden Ton. Er hatte ihr nichts entgegenzusetzen und ließ sich wieder aus dem Rover in den Regen rutschen.

Fünf Minuten später hatte er sein Gepäck auf dem Rücksitz verstaut und zog sich wieder hinein in den trockenen und warmen Rover. Er saß noch nicht ganz, als sie schon energisch anfuhr und beschleunigte.

Er spürte die Nässe, als er gegen die Lehne gedrückt wurde, musste dringend aus den Sachen heraus. Die nasse Kleidung klebte an seinem Körper und er schlotterte vor Kälte, trotz der Wärme im Wagen. Von der Seite betrachtete er sie, während sie ihren Range-Rover absolut souverän und mit einem Affentempo durch den Wald jagte.

„Wieso kennen Sie sich hier so gut aus? Sie jagen hier durch, als wären sie hier zu Hause.“

„Nein! Ich bin hier nicht zu Hause. Aber unten in Lenungshammar braucht jemand dringend Antibiotika, die ich aus Arjäng holen musste. Deshalb wollte ich eben nicht noch mehr Zeit verlieren.“ Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu.

„Keine Sorge. Ich bringe Sie sicher runter.“

„Vielleicht bin ich ja ein ganz Schlimmer. Sie nehmen mich hier einfach so mit.“

„Vergessen Sie’s. Keine Chance.“ Sie sah lächelnd zu ihm herüber. „Unser Waffenarsenal ist beachtlich! Und wir sind gut. Wir treffen auch Niederwild.“

„Waffen!“ In seinem Hinterkopf blitzte Sture Bengtson auf. „Wofür braucht eine Frau wie Sie Waffen?“ Ihr zugewandt hatte sich sein Oberkörper leicht von der Lehne gelöst.

„Eine Frau wie ich und Waffen!“ Sie nahm den Blick von der Straße, sah ihn an, lange, um ihren Mund spielte ein spöttischer Zug. Ihr Blick kehrte zur Straße zurück. Und er fühlte sich unbehaglich. Musterte ihr Profil und versuchte sie zu entschlüsseln.

„Sorgen Sie sich nicht.“ Sie schenkte ihm einen schmunzelnden Seitenblick. „Wir sind jedes Jahr im September zur Elchjagd hier im Reservat. Seit fünfzehn Jahren. Also entspannen Sie ruhig.“

Sie jagte den Rover eine ziemlich heftige Steigung hinauf und den matschigen Abhang auf der anderen Seite wieder hinunter. „Aber was hat Sie an solch einem Abend in diese gottverlassene Gegend verschlagen? Kein vernünftiger Mensch fährt hier durch die Wildnis, wenn er das nicht muss. Und im Dunkeln schon gar nicht.“ Sie warf ihm wieder einen Seitenblick zu.

„Mein Navi, Leichtsinn, Naivität oder alles zusammen. Vielleicht war ich es leid, auf diesen wunderbaren, aber fürchterlich langweiligen Landstraßen durch dieses Land zu fahren. „Glaskogen Naturreservat“. Hört sich doch irgendwie spannend an.“

„Und da wollten Sie mal einfach so quer durch den Wald fahren.“

Er glaubte, wieder das spöttische Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. „Ihnen scheint die Idee eher abwegig zu sein.“

„Abwegig! Wie passend.“ Sie zog die Augenbrauen ein wenig hoch. „Schon am Tage, wenn Sie bei solch einem Wetter diese Straße befahren, werden Sie wahnsinnig auf dieser Schlammpiste. Sie nehmen sehenden Auges ein nicht enden wollendes Schlammbad. Und am Ende wissen Sie nicht, wie Sie den Dreck wieder runter und aus dem Auto heraus bekommen sollen. Aber immerhin haben Sie ja Ihr Abenteuer erlebt.“

Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, bügelte sie durch eine riesige Pfütze und durchfuhr die nächste Kurve, sah wieder zu ihm herüber. „Wir haben ein großes Sommerhaus hier gemietet. Um diese Zeit sind hier keine Feriengäste, da ist das Haus frei. Wir sind sofort da.“

Sie nahm die Geschwindigkeit etwas zurück und bog von der Straße ab. Flüchtig erkannte er im Scheinwerferlicht mehrere Schilder, erfasste das Wort „Glaskogen“, bevor alles wieder im Dunkeln verschwand.

„Ich muss vorher erst noch zu Johan.“ Sie ließ den Wagen rollen, wurde allmählich langsamer. „Das ist der Mann, der sich verletzt hat und jetzt die Antibiotika braucht. Sie müssen sich leider solange im Wagen gedulden.“

Die Scheinwerfer glitten von der Straße in eine schmale Zufahrt. Vor ihnen und etwas erhöht erschien im Licht ein großes Holzhaus. Im gleichen Augenblick hörte er das wütende Bellen großer Hunde. Das Auto hielt vor dem Haus. Im Dunkeln erkannte er den Zwingerdraht direkt neben seiner Tür. Dahinter, in Fensterhöhe, die belfernden Mäuler von zwei Akita-Inus. Zwei imponierende Hunde, denen er ganz offensichtlich nicht gefiel. Die Fahrertür fiel zu. Er sah ihr nach, wie sie ihre Kapuze wieder hochschlug und rasch zum Haus hinüberlief. Ein Amazonentyp mit langen, blonden Haaren. Und sie trug Stiefel, eng anliegende Jagdstiefel. War ihm bisher nicht aufgefallen.

Der Motor brummelte leise vor sich hin, sie würde nicht lange bleiben. Aber das wütende Bellen direkt neben seiner Tür machte ihn nervös.

Vor ihm, im Armaturenbrett, die Klappe, das Handschuhfach. Achtlos hineingeworfen enthielt es oft ziemlich persönliche Dinge. Aber diese Amazone konnte jeden Augenblick zurückkommen, und vielleicht ließ sie ihn dann hier neben dem Zwinger aussteigen. Er beugte sich vor, tastete in der Vertiefung am Armaturenbrett, das Fach sprang elastisch auf. Es enthielt aber nur das Übliche, Papiertücher, einen kleinen Block mit Stift, ein Fährenticket vom 04. September, eine Kunststoffdose mit dänischen Lakritzpastillen, Visitenkarten. Er zog eine der Karten aus dem kleinen Ledermäppchen. Im gleichen Augenblick brach das Licht aus dem Haus auf den durchweichten Boden, und sie stürzte in den Regen hinaus auf das Auto zu.

Er hatte keine Chance, noch irgendetwas zu ordnen. Es reichte gerade noch, um die Klappe zuzudrücken, bevor sie die Fahrertür öffnete und schon wieder neben ihm saß.

„So, das war´s. Jetzt wollen wir doch mal sehen, was meine Freundin Anneke sagt, wenn ich einen ordentlich durchgeweichten Mann mit nach Hause bringe.“ Sie setzte rückwärts und rollte dann die Auffahrt zur Straße hinunter.

„Anneke ist ein Kumpel-Typ. Das wird ihr ganz sicher gefallen.“ Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, verschmitzt.

Das Haus, das im Licht der Scheinwerfer auftauchte, war ein typisches Schwedenhaus, rot mit weißen Rahmenhölzern. Und der Kumpel-Typ öffnete die Tür, kaum dass sie vor dem Haus angekommen waren.

„Aah, na sowas! Du solltest öfter mal in die Stadt fahren.“

Anneke war geschätzt ebenfalls Mitte vierzig, mittelgroß, hatte dunkle, fransig geschnittene, schulterlange Haare und musterte Erik aufmerksam aus klaren, blauen Augen.

„Bekommt man so etwas in der Apotheke?“ Sie war in der Tür stehen geblieben, gab ihm die Hand und zog ihn leicht mit ins Haus.

„Im Wald, neben der Straße. Er hat sein Auto oben vor Lasses Haus an einen Baum gefahren.“

„Oh, wie unpraktisch, noch dazu bei dem Wetter.“ Nur eine Armlänge stand sie von ihm entfernt, in ihren Augen blitzte der Schalk. „Der arme Kerl ist ja vollkommen durchgeweicht.“ Sie sah zu, wie er seine Schuhe von den Füßen zerrte. „Sie können wählen zwischen Wäschetrockner oder Sauna.“ In dem kleinen Windfang wurde es eng und sie schob ihn weiter ins Haus, „Schläft der Arme in dem kleineren Zimmer, oder hast du schon etwas Anderes geplant?“

„Mal sehen, was sich ergibt.“

Das kleinere Zimmer als klein zu bezeichnen, durfte als ziemliche Übertreibung durchgehen, es war winzig. Ein schmales Kiefernbett, ein einfacher Schrank am Fußende des Bettes und ein Stuhl ließen gerade noch genug Platz zum Aus- und Ankleiden; eine normale Gefängniszelle war inzwischen größer.

Der eigentliche Wohnraum nahm dagegen über die Hälfte des Hauses ein. Blickfang und Mittelpunkt des Raumes war ein gusseiserner Ofen, vor einem breiten, freistehenden Kamin. Ein Ofen, der eher einer alten, filigran gestalteten Kommode glich, hinter deren Glasscheiben ein Kaminfeuer brannte. In gemütlichen Sesseln vor diesem Ofen verbrachten sie den Rest des Abends, das lebendige Feuer im Blick und einen guten Rotwein im Glas. Es war ziemlich genau das, was Erik an diesem Abend brauchte: viel Wärme, einen guten Rotwein und den angenehmen Duft von Kiefernholz.

Er erfuhr, dass seine Fahrerin Ulrike Teisch hieß. Sie war Ärztin und praktizierte als Neurologin in Kiel.

Der Kumpeltyp war Anneke Berg. Zusammen mit ihrem Mann betrieb sie in Göteborg einen erfolgreichen Onlinehandel mit Antiquitäten und mit Sexspielzeug. Eine sehr lukrative Kombination, wie sie sagte.

„Ich denke, er ist Lehrer. Geschichtslehrer vielleicht, oder?“ Ulrike wandte sich an Anneke, musterte ihn dann abwartend.

Die hat Augen wie ein Husky, dachte er.

„Bist du Lehrer?“ Anneke füllte sich Wein nach, sah ihn über das Glas hinweg an.

„Vielleicht. Vielleicht bin ich ja auch ein Bankangestellter oder eher noch Steuerprüfer.“

„Glaube ich nicht.“ Anneke hielt den Kopf leicht schräg, musterte ihn mit ruhigem nachdenklichem Blick. „Dafür scheinst du mir zu lebendig.“

„Ich gehöre zu der Sorte von Menschen, die euch jeden Tag mit den neuesten Gemeinheiten aus aller Welt konfrontiert.“

„Oh ha! Ein Journalist.“ Ulrike warf ihm einen raschen Eisblick zu. „Das hättest du man gleich da oben auf dem Berg sagen sollen. Für wen schreibst du?“

„Wer meine Informationen haben will, kauft sie halt, vorwiegend Printmedien.“

Er beugte sich vor, drehte sein Weinglas zwischen den Fingern.

„Ich habe immer noch diese Frau vor Augen. Wie sie da in ihrem langen weißen Kleid plötzlich vor meinem Auto auftaucht. Dieses alte Gesicht. Was ist mit dieser Lotta?“

Die beiden Frauen warfen sich einen schnellen Blick zu.

„Du fragst das jetzt nicht als Journalist?“

„Als Betroffener. Jetzt klebt nur mein Auto da oben am Baum, aber ich hätte leicht einen Menschen töten können. Einen sonderbaren, aber offensichtlich hilflosen Menschen.“

„Wohl wahr.“ Anneke sah von ihm zu Ulrike hinüber. „Du kennst doch die Verhältnisse hier. Kümmert sich eigentlich jemand um Lotta, oder hängt die Arme nur an diesem Lasse?“

„Lasse ist ihr Bruder?“

„Wie willst du an dem hängen? Der hat nur die Flasche im Arm und geht auf jeden los, der ihm in die Quere kommt.“

„Aber Lasse ist also ihr Bruder?“ Erik dachte an die Puppe, witterte die Ungeheuerlichkeit und wollte es einfach wissen.

„Lasse ist alles Mögliche, und im Übrigen: Du solltest nicht darauf hoffen, von dem auch nur eine schwedische Krone für deinen Schaden zu bekommen. Der hat nichts. Und wenn er mal was hat, dann geht es durch den Hals. Aber verwandt ist Lasse nicht mit Lotta.“

Ulrike warf ihm einen Blick zu, kurz und abwägend.

Die ist kalt wie ein Kilo Sülze, dachte er.

„Lotta ist erst so um 95 hierhergekommen, zusammen mit der Frau, die sich der alte Jansson, Lasses Vater, ins Haus geholt hat. Waltraud aus Leipzig. Walli nannte der Alte sie immer. Ein fürchterliches Weib, nicht viel besser als Lasse. Und jetzt möchte ich den Rotwein genießen und mag nicht länger über diese abstoßenden Leute reden.“

„Ist ja auch alles gesagt.“ Anneke zog ihren rechten Fuß auf die Sitzfläche und wies mit dem Weinglas in der Hand zu ihm herüber. „Was geschieht jetzt weiter mit dir, mit deinem Auto?“

„Ich muss morgen früh nach Arjäng, nochmal zur Polizei. Und dann muss ich mir jemanden suchen, der meinen Wagen da aus dem Wald zieht. Ich werde mir eine Taxe bestellen.“

„Das kannst du vergessen. Die Taxe müsste aus Arjäng kommen, auch durch den Wald. Die kommt nie hier an, ganz sicher nicht.“ Ulrike sah hinüber zu Anneke, die ihrem Gespräch nicht folgte und versonnen ins Feuer starrte. „Kann er nicht mit deinem Ranger fahren? Der steht ja ohnehin nur hier herum.“

„Wenn er verspricht, ihn nicht an einem Baum zu parken.“

Der Schlaf kam, bevor Erik richtig lag. Er sackte einfach weg ins Schwarze. Fiel durch das schmale Bett hindurch ins Bodenlose – und war nach zwei Stunden wieder hellwach. Lotta hatte ihn gefunden.

Er wälzte sich herum, musste unbedingt den Film anhalten, der in einer Endlosschleife durch seinen Kopf raste. Der Film begann immer mit den Bäumen. Immer sah er die Bäume zuerst. Sah sie vorbeirasen in erschreckender Geschwindigkeit. Und dann stand plötzlich Lotta im Licht der Scheinwerfer. Ein Wesen im schneeweißen Kleid, mit grauen Haaren bis auf die Erde und mit großen traurigen Augen. Stand da im Regen zwischen den Bäumen. Wurde immer größer und klarer und noch größer, während er auf sie, auf diese großen Augen und auf die Bäume zuraste.

Er musste diesen Film aus dem Kopf bekommen.

Eine Zeitlang saß er im Dunkeln auf der Bettkante, suchte nach anderen Gedankengängen.

Die Frauen, wie hatten die sich nur gefunden? Verschiedener ging ja gar nicht. Es war kaum vorstellbar, dass diese beiden hier tagelang harmonisch zusammenleben konnten.

Anneke war eine Frau, die in sich und ihren Erfahrungen ruhte. Ihre Nähe, ihre warme Stimme, die ihm vom Gehörgang gleich bis in den Bauch fiel, der zarte, kaum wahrnehmbare Duft, der von ihr ausging, all das empfand er als angenehm, in aufregender Weise stimulierend.

Ulrikes Nähe, ihre Dominanz, versetzte ihn eher in Anspannung. Sie war eine reife, sehr interessante Frau. Intellektuell und zugleich verführerisch, mit einem begehrenswerten, geschmeidigen Körper und sinnlichen Gesichtszügen. Aber sie hatte die Anmutung eines Betonmischers.

Irgendetwas stimmte nicht mit den beiden, aber das sollte ihn nicht interessieren.

Es war eine Stunde nach Mitternacht, als Erik sich nur mit Shorts bekleidet und seiner Decke unter dem Arm zurück in die Wohnstube schlich. In dem kleinen Zimmer konnte er nicht schlafen, und das Sofa in der Stube sah weich und gemütlich aus.

Im Küchenbereich goss er sich im Dunkeln ein Glas Wasser ein, stand einige Minuten gedankenverloren an den Schrank gelehnt, als er ein Geräusch wahrnahm. Jemand hatte den Raum betreten und kam im Dunkeln auf ihn zu. Er tastete nach dem Lichtschalter. Anneke stand vor ihm.

In einem knöchellangen, dunkelroten Nachthemd mit Schottenkaro stand sie nur drei Schritte entfernt, blinzelte gegen das Licht.

„Schlafwandelst du hier herum?“

„Lotta verfolgt mich. Außerdem kann ich in dieser Kammer da hinten nicht schlafen. Und du?“

„Ich bin einfach wach geworden.“ Sie hielt die Weinflasche gegen das Licht, goss sich einen Schluck Wein in ein Wasserglas. „Vielleicht habe ich dich gehört.“

Er legte den Kopf schräg, verengte die Augen, „Du wolltest mir nur dein Nachthemd zeigen, stimmt´s?“

Sie sah ihn verschmitzt an, stellte ihr Glas zurück, „Ein äußerst praktisches Kleidungsstück. Es ist warm und macht sich im Bedarfsfall auch als Schal sehr gut.“

„Würde ich ja zu gern mal sehen.“

„Schlaf gut. Und träume diesmal was Schönes, hm.“ Sagte es und ließ ihn in der Küche stehen.

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