Loe raamatut: «Sogitta»
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Sogitta
Lea Dienhart
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Impressum:
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2020 Papierfresserchens MTM-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchausgabe erschienen 2009.
Cover erstellt mit Bildern von © alien cat + © innovari, fotolia – alle Fotolia lizenziert
Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM
ISBN: 978-3-940367-72-3 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-295-1 - E-Book
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Inhalt
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1. Kapitel
Hallo erst einmal! Ich will euch heute die allzu spannende Geschichte von kleinen Helden, mächtig großen Drachen, Freude, Mut und Trauer erzählen ...
Alles begann an dem Tag, an dem die junge Zwergin Lilla das erste Mal in ihrem Leben von der Mutter in den Einkaufsladen geschickt wurde. Der Laden war nicht voll. Überhaupt nicht. Lilla hatte keine Angst. Sie traf den Bäcker, der Glondon hieß, und die Magd mit dem Namen Dorna. Lilla grüßte sie freundlich und ging weiter, um gehackte Schlangenschwänze fürs Abendbrot zu besorgen. Dann aber sah sie denjenigen, der ihr einen gehörigen Schrecken einjagte … den Schmied von Sogitta!
Sie war ihm noch nie zuvor begegnet. Und das war verständlich, denn für gewöhnlich trat dieser keinen unnötigen Schritt aus dem Haus. Der Schmied von Sogitta war in der gesamten Zwergenwelt bekannt, als der einzige Zwerg, der magische Schwerter und Amulette herstellen konnte. Schon seit knapp 50 Jahren, seit sich herausgestellt hatte, welche Kräfte seine Werke hatten, musste sich der Schmied in Acht nehmen. Es hatte vor vierzig Jahren einen Angriff der Drachenwelt auf Sogitta gegeben, bei dem sich jedoch alle hatten retten können. Und aus gerade diesem Grund, aus der Angst, dass die Drachen erneut versuchen würden, die geheime Bauweise der Schwerter in ihren Besitz zu bringen, war es nicht nur eine Besonderheit, sondern viel mehr eine ungeheuerliche Gefahr, die davon ausging, den Schmied in öffentlichen Gebäuden zu erblicken. Lilla wurde schwindelig, sie sank zu Boden.
Als sie wieder erwachte, lag sie in einem dunklen Raum mit rosa geblümten Vorhängen. Was war passiert? Wo war sie? In diesem Augenblick kam ein großer Doktorzwerg hinein. Aha! Sie war also in einem Krankenhaus!
„Na, die kleine Lilla. Wie schön, dass du wieder wach bist!“
„Was war mit mir?“
„Du warst eine Zeit lang bewusstlos, mein Zwegli!“
Stimmt! Lilla konnte sich wieder erinnern. Sie hatte den Schmied aus Sogitta gesehen! Hatte er Lilla eigentlich auch gesehen? Ihr wurde wieder übel. Obwohl – war es denn so schlimm, dem berühmtesten Mann Sogittas zu begegnen?
Der Doktorzwerg unterbrach Lillas Grübelei. „Kannst du dich an irgendetwas erinnern?“
„Ja! Ich habe den Schmied gesehen. Den Schmied aus Sogitta!“ Lilla stockte. Sollte sie das überhaupt erzählen?
Da seufzte der Doktor. Einmal nur. Aber was das für ein Seufzen! Er seufzte so laut und erbärmlich, dass Lilla fast mit geseufzt hätte, ohne überhaupt zu wissen, worum es ging.
„Ja, ja“, seufzte der Mann wieder, „irgendwann müsst ihr es ja erfahren!“
Und dann begann er zu erzählen. Ganze drei Stunden erzählte und erklärte er, ohne eine einzige Pause zu machen. Und was er zu sagen hatte, war schrecklich …
„Das ist alles, was ich über den Schmied weiß“, endete er. „Momentan ist er auf der Flucht, unterwegs zu einem Versteck bei den Bambusbäumen. Sag es ja niemandem weiter. Jeder könnte sich als Feind erweisen. Jeder! Sei bloß vorsichtig, kleine Lilla!“
Am darauffolgenden Abend wurde Lilla von ihren Eltern aus dem Krankenhaus abgeholt. Ausführlich berichtete sie von dem Einkauf und darüber, was der Doktorzwerg ihr erzählt hatte. Zum gemeinsamen Abendbrot gab es Lillas Lieblingsessen: gehackte Schlangenschwänze mit Schneckenschleimüberzug.
Am nächsten Morgen ging Lilla wieder in den Kindergarten, am übernächsten und überübernächsten auch. Sie hatte den Schmied und die Geschichte des Arztes fast schon vergessen. Aber eben nur fast!
Lilla aß gerade zusammen mit ihrem Kindergartenfreund Rofon und Mutter Agiza Bohnensamen. Rofon hatte die Geschichte auch schon erfahren, im Kindergarten hatte die Erzieherin sie erzählt. Auch die Schulen, Universitäten, ja sogar die Zeitungen wussten Bescheid! Jeden Tag konnte man in den Neuesten Nachrichten Sogittas lesen, dass der große Schmied von Sogitta bedroht wurde und auf der Suche nach einem Versteck war. Niemand – bis auf den Doktor und Lilla – wusste aber, dass der Ort bereits feststand! Weit weg, bei den Bambusbäumen.
„Gibt es noch mehr Zitronensaft?“, fragte der kleine Rofon.
„Nein, tut mir leid. Ich kann dir nur noch Wasser anbieten“, antwortete Agiza, „aber ihr könnt schnell rüber zum alten Jusche laufen. Der hat gutes Obst und Gemüse.“
Die Freunde brauchten nicht lange zu überlegen. Sie machten sich auf den Weg, sobald sie fertig gegessen hatten. Lilla zog sich zwei Paar Socken übereinander an und Rofon band sich zwei Schals um. So kalt war es! Doch für zwei so junge Zwerge war es etwas ganz Besonderes, alleine hinaus auf die Straße zu gehen. Darum kamen sie nicht einmal auf die Idee, Agizas Vorschlag abzulehnen.
Der Weg zum alten Jusche war nicht lang: über eine Kreuzung und anschließend links. Lilla war schon oft dort gewesen, zusammen mit Papa oder Mama.
Als sie im Laden ankamen, traf Rofon seinen besten Freund, der zusammen mit seiner Mutter gekommen war. Rofon und Krolle unterhielten sich ein wenig, während Lilla schon die Zitronen nach Dellen absuchte, wie es die Mama immer tat. Danach ging sie zu zum alten Jusche und war sehr stolz, alleine vor diesem großen Zwergenmann zu stehen. Jusche wog die Zitronen ab und ließ sich das Geld geben, das Agiza Lilla mitgegeben hatte. Am Schluss bat er sie noch, ganz liebe Grüße an ihre Eltern auszurichten.
Als Lilla wieder vor den Laden trat, unterhielt Rofon sich immer noch mit Krolle. Also wartete Lilla.
Drei Minuten ... fünf Minuten ...
„Roofoon! Ich will nach Hause! Kannst du nicht ein anderes Mal mit Krolle reden?“
Verdutzt blickte Rofon sie an. Lilla hatte ihn noch nie angeschrien. „Geh doch alleine! Ich komme nach. Ich will jetzt nicht weg. Geh vor!“
Lilla schaute Rofon wütend an. Dann fing sie an zu weinen. „Ich geh jetzt auch, aber das erzähl ich Mama!“, schrie sie schließlich und lief weg. Fußgänger schauten ihr nachdenklich nach. „Guckt gefälligst woanders hin! Sonst erzähl ich’s Papa!“
Zuhause angekommen konnte Mama sie zuerst gar nicht trösten. Auch Vater Mazzo hatte gewisse Schwierigkeiten. Kleine Zwerge weinen sehr selten, aber wenn sie es tun, hören sie so schnell nicht mehr auf. Das liegt nicht etwa daran, dass kleine Zwerge Jammerlappen sind. Nein. Eher im Gegenteil: Die vielen Tränen eines Zwerges müssen einfach mal raus. Daher kann es mitunter sogar passieren, dass ein Zwerg mitten im schönsten Augenblick anfängt zu weinen. Allerdings kommt das wirklich äußerst selten vor.
Rofon kam tatsächlich nach. Aber erst sehr spät! Lilla lag bereits im Bett, aber sie konnte nicht schlafen. Die Gardinen warfen gespenstische Schatten an die Wände und die Fensterrahmen klapperten. Lilla hörte, wie ihre Eltern sich nebenan unterhielten – das beruhigte sie. Den ganzen Tag hatte sie heute an den Schmied von Sogitta denken müssen. Obwohl sie ihn doch gar nicht gesehen hatte. Nebenan knallte eine Tür. Lilla schlotterte. Sie hatte Angst. Plötzlich schien der Boden zu wackeln. Lilla wollte schreien, aber sie konnte es nicht – aus ihrer Kehle kam kein einziger Ton.
Der Boden wackelte wirklich! Lilla krallte sich an ihrem Bett fest. „Maa…maa“, krähte sie. Aber es war so leise, dass sogar ein Regenwurm lauter hätte rufen können. Regenwürmer waren für Zwerge wie riesige Schlangen, aber sie galten als sehr ruhige Tiere.
Mittlerweile schienen auch andere das Beben bemerkt zu haben. Aus der Nachbarwohnung hörte man einen gellenden Schrei. Lillas Blut gefror in den Adern.
Plötzlich sprang sie auf. Sie rannte ans Fenster, zog die Gardinen zur Seite und schaute hinaus. Was sie dort sah, brachte sie endlich zum Schreien. Ganz laut! Gegenüber brach die kleine Holzhütte in sich zusammen! Zwerge da und dort rannten wie wild draußen herum! Ein riesiges Ungeheuer packte gerade einen Zwerg, der mindestens sechsundsechzig Mal kleiner war als das Ungeheuer selbst, am Pulli und schleuderte ihn durch die kalte Abendluft.
Genau in diesem Augenblick öffnete Lilla die Tür ihres Zimmers und rannte zusammen mit ihrer kreischenden Mutter aus dem Haus. Und dann sah sie auch schon, was ihre Mutter fuchsteufelswild und aggressiv gemacht hatte: Der Zwerg im Maul des Ungeheuers war niemand anderer als ihr Vater!
Agiza versuchte ihre Tochter festzuhalten, doch Lilla riss sich los. „Neiiiiiiiiiiiiiin!“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. „Lillaaa! Hiilfe! Zu Hiilfe! Meine Tochter!“
Ihre Mutter tat Lilla leid. Und einen Moment dachte sie daran zurückzukehren, zurück zu ihrer vor Angst erstarrten, schreienden Mutter. Doch die Angst um ihren Vater war größer. Auch wenn sie genau wusste, dass sie gegen ein so großes Ungeheuer nicht mal den Hauch einer Chance hatte, tat es gut, wütend zu sein! Lilla nahm sich einen riesigen Stock. Sie taumelte, so schwer war er. Mit ihrer ganzen Kraft begann sie auf den Rücken des Ungeheuers zu klettern. Da hörte das Zwergenmädchen plötzlich ein lautes Gebrüll, das von hinten kam: „Aaaaaaaaaaaaah!“
Mit einem riesigen Satz krallte sich Agiza am Schwanz des wild gewordenen Ungeheuers fest. Jetzt griffen auch andere an! Sie zogen an seinen Ohren und drohten ihm mit winzigen Messern, die für das Ungeheuer keine Gefahr darstellten. Die Lage schien aussichtslos zu sein.
Zwanzig Meter weiter kämpfte eine andere Gruppe mit einem anderen Angreifer. Vom Kopf des Scheusals konnte Lilla endlich sehen, um wen es sich bei den Angreifern handelte. Es waren … Drachen!
Neben sich sah sie Rofon. Auch er schlug verzweifelt auf den Drachen ein. Er steckte dem Viech seinen Stock in das Ohr. Der Drache brüllte! Ein lautes, dunkles Brüllen. Er schüttelte sich. Doll! Verflixt doll! In alle Richtungen flogen Zwerge von dem Drachen ab, wie Matsch von einem Schwein.
Auch Lilla und Rofon flogen in einem hohen Bogen zu Boden. Es war grausam! Die Einwohner Sogittas schrien um die Wette! Und überall sah man die Schrotthaufen der eingestürzten Häuser. Eine riesige Rauchwolke hüllte ganz Sogitta ein. Drei riesige grellgelbe und grüne Drachen flogen in den Himmel. Drei Drachen und ein ohrenbetäubender Schrei, die nur Furcht in Sogitta zurückließen, erfüllten die Luft. Der Schrei kam von Lillas Vater!
Plötzlich war alles wieder so unglaublich still. Es war unheimlich. In der hintersten Ecke schluchzte Agiza. Aber auch andere Zwerge weinten. Die Drachen hatten noch mehr von ihnen entführt und das Dorf war nur noch ein riesiger Trümmerhaufen.
Auch das Haus von Lilla und ihren Eltern war dem Angriff der Drachen zum Opfer gefallen.
Alle Einwohner Sogittas befanden sich auf den Straßen. Das Gefühl von Hass erfüllte die Bürger. Vor allem diejenigen, von denen ein Verwandter oder Freund entführt worden war, schienen ihren Lebenssinn verloren zu haben.
Und zu denen gehörten auch die kleine Lilla und ihre Mutter.
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2. Kapitel
Es dauerte nicht lange, da hatte das ganze Dorf beschlossen zu fliehen, denn die Drachen würden garantiert ein weiteres Mal angreifen. Jetzt war der Moment also gekommen! Die Drachenwelt versuchte, das Versteck des Schmieds aus den Einwohnern herauszuquetschen, denn auf ihn hatten sie es ja abgesehen, und Sogitta würde von nun an ein Dorf voller Angst und Furcht sein.
„Mama, wann kommt Papa wieder?“, schluchzte Lilla. Doch sie wusste, dass Agiza die Antwort auf ihre Frage ebenso wenig wusste wie das Mädchen selbst.
„Ach meine Lilla, ich weiß es nicht. Du musst tapfer sein, hörst du? Du musst schrecklich tapfer sein.“
Erst jetzt sah Lilla die tiefe Wunde in Agizas Bein, die ihr der Drache wohl mit dem Schwanz verpasst hatte. Agizas schmerzverzerrtes Gesicht versuchte ein klägliches Lächeln. Sie nahm die Hand ihrer Tochter, während sie das Salz ihrer Tränen schmeckte.
Lilla begriff. Sie begriff, dass ihre Mutter nicht mit den anderen zusammen fliehen würde. Sie begriff, dass es ihr dafür an Kraft fehlen würde.
„Lilla. Du musst tapfer sein. Du musst fliehen. Ich werde hier bleiben, Lilla. Sei tapfer!“
Da fiel Lilla ihrer Mutter in die Arme. Sie war sich sicher, dass Agiza es schaffen würde. Denn sie war diejenige, die tapfer sein musste! Und das würde sie auch sein. Irgendwann einmal, irgendwann würden sie alle drei wieder in Sogitta zusammensitzen. Alle drei! Lilla, Mama und Papa.
„Auf Wiedersehen, Mama! Sei tapfer, ich werde es auch sein!“
Agiza lächelte. „Was für eine tolle Tochter ich doch habe“, dachte sie und drückte Lilla einen fetten Schmatzer auf die Wange.
Schon bald begannen die Vorbereitungen für die Flucht. Die letzten noch übrig gebliebenen Lebensmittel wurden zusammengerafft und das letzte Wasser aus dem Brunnen geholt. Lilla bestand darauf, ihren Teddy in dem Schrotthaufen zu suchen, auch wenn jedes überflüssige Gewicht Fürchterliches verursachen könnte.
Der Weg ins Nachbardorf Fulmen war weit, es war heiß und die Vorräte waren knapp. Zwei Mäuse gab es in Sogitta an Haustieren, mehr nicht. Die Kinder wurden mithilfe der Erwachsenen auf die Rücken der Tiere gehoben. Sie durften zuerst reiten. Sechzehn Kinder drängelten sich allein auf einer Maus, auf der anderen waren es immerhin fünfzehn. Die Kinder, die noch übrig geblieben waren, mussten sich auf die Rücken der starken Männer setzen.
Lilla dachte an ihren Vater. Hoffentlich lebte er noch! In ihr stiegen wieder die Tränen hoch. Da! Der Startruf der kräftigen Männer ertönte und Lilla krallte sich mit beiden Händen im Fell der Maus fest, während sie verzweifelt versuchte, zu ihrer Mutter zurückzuschauen. Doch sie schaffte es nicht! Hinter ihr saßen noch elf andere Zwergenkinder, die ihr die Sicht versperrten.
Daher rief sie so laut sie konnte: „AUF WIIEDERSEEEHEN!“
Sie hörte die Antwort ihrer Mutter und merkte an ihren Rufen, wie schnell sie sich aus ihrer Heimat entfernten. Es tat Lilla in der Seele weh, ihre Mutter so alleine zurücklassen zu müssen, doch sie erinnerte sich daran, was Agiza ihr zum Abschied gesagt hatte: „Du musst tapfer sein, hörst du? Du musst schrecklich tapfer sein.“ Lilla biss die Zähne zusammen. Eine große Zwergenträne kullerte ihr die Wange herunter. „Auf Wiedersehen Mama“, flüsterte sie ein letztes Mal, „ich weiß, dass du es schaffen wirst!“ In Gedanken hörte sie ihre Mutter antworten: „Du hast recht! Ich weiß, dass ich es schaffen werde!“ Da schloss das Mädchen seine Augen und sank in einen tiefen Traum ...
Als Lilla wieder erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Erst jetzt bemerkte sie, dass außer ihr alle schliefen. Sie fragte sich, ob es nicht gefährlich sei, einfach so ungeschützt auf dem Langen Weg zu rasten. Sie blickte hinter sich. Da saß Rofon. Auch er schlummerte tief und fest. Wie lange sie wohl schon so da lagen?
Weiter hinten sah sie, dass auch einer der kräftigen Männer wach war. Lilla kletterte vorsichtig am Fell der Maus herunter und ging leise zu ihm.
„Entschuldige ...“
„Aaah! Musstest du mich so erschrecken, Kleine? Geh brav schlafen wie die anderen!“
„Ich kann nicht schlafen!“
„Pssst! Leise! ... Ich darf nicht schlafen. Ich bin zwergenmüde! Aber ich muss Drachenwache halten.“
„Lass mich wachen, du kannst schlafen!“
„Pssssst! Ich weiß nicht. Du bist ein Kind. Ich bin ein kräftiger Mann.“
„Ruh dich aus, dann kannst du auch Kinder tragen, wenn wir weitergehen! Wann gehen wir eigentlich weiter?“
„Die anderen haben gesagt, ich soll sie wecken, wenn die Sonne schon fast untergegangen ist. Pass auf! Halte du Wache! Wenn die Abenddämmerung beginnt, musst du mich wecken! Aber pass wirklich gut auf, sonst könnte es das Ende für uns alle sein!“
„Okay. Gute Nacht!“ Lilla war beeindruckt, dass ein so kräftiger Mann ihr vertraute. Sie setzte sich auf den Boden und betrachtete den Himmel. Irgendwie war es schön, die Verantwortung für ein ganzes Dorf zu tragen, aber irgendwie war es auch unheimlich. Lilla hatte immer gedacht, es gäbe keine Drachen. Früher hatte Papa ihr des Öfteren Geschichten über diese großen Ungeheuer erzählt. Lilla schluckte, als sie an Mazzo dachte. Sie hatte bislang geglaubt, er habe nur Spaß gemacht – jetzt aber wusste sie, dass sie sich wohl geirrt hatte.
Der Himmel war klar. Keine Wolke war zu sehen. Lilla schaute sich um. Hinter sich sah sie das Ende des Waldes, der zu Sogitta gehörte. Sie schauderte. Ein kalter Luftzug strich über ihre Beine. Einen kalten Luftzug an einem heißen Tag zu spüren, wenn man auf der Flucht ist und alle um einen herum schlafen, ist gruseliger als es sich anhört. Vor allen Dingen wenn ...
„Aaah!“ Lilla zuckte zusammen. Etwas hatte sie am Arm berührt! „Mensch Rofon! Du hast mich total erschreckt! Warum schläfst du nicht?“
„Du schläfst ja auch nicht!“
„Ich halte Drachenwache.“
„Darf ich nicht mit dir zusammen wachen?“
Lilla seufzte. Sie fühlte sich außerordentlich erwachsen. Ohne Eltern, weit entfernt von Sogitta ein fliehendes Dorf vor Drachen zu beschützen – das machte man schließlich nicht alle Tage. „Setz dich“, sagte sie so erwachsen, wie es der Papa immer tat, wenn ein Kollege kam.
„Es tut mir furchtbar leid für dich … die Sache mit Mazzo. Ich kann mir denken, wie du dich fühlst.“
„Nein!“
„Wie nein?“
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich fühle!“ Lilla wendete sich von Rofons Blick ab und schaute in den Himmel. „Keiner kann das!“
Da seufzte Rofon. „Du hast recht. Keiner kann das.“
Lilla merkte, dass Rofon weinte. Ihr war klar, dass es auch für ihn sehr schwer gewesen sein musste, sich von seiner Heimat zu trennen. Lilla bereute es, so grob mit ihm umgegangen zu sein. „Tut mir leid“, sagte sie und legte ihm den Arm um die Schultern, „ehrlich.“ Rofon blickte auf und hatte ein ganz verweintes Gesicht.
Ein trauriger Anblick war das! Überall schlafende, eng zusammen gepferchte Zwerge auf Mäusen oder auf dem heißen, sandigen Boden – und mittendrin zwei kleine weinende Zwergenkinder, die sich gegenseitig Mut machten. Was war das für ein trauriger Anblick!
Die Stunden vergingen kriechend langsam! Aber kein Drache ließ sich blicken. Das war Lilla auch ganz recht so. Neben ihr war Rofon erneut eingeschlafen, er hatte sich zusammengerollt wie eine Katze, nur war er viel kleiner.
Lilla dachte an ihre Mutter. Lilla dachte an ihren Vater. Lilla weinte, immer mehr! Sie nahm sich fest vor, die Drachen alle zu bekämpfen, sobald sie kamen! Sie wollte nicht mehr fliehen. Fliehen! Aus der eigenen Heimat! Nein. Doch nicht sie! Sie würde kämpfen, bis es nicht mehr ging, kämpfen, bis es keine Drachen mehr gab! Alles wollte sie tun! Alles – nur nicht fliehen!
Lilla wischte sich die Tränen mit einem Rockzipfel aus dem Gesicht. Sie musste sich beruhigen. Es war anstrengend sich aufzuregen, und sie durfte keine Kraft vergeuden. Denn Kraft brauchte ein Zwergenkind auf jeden Fall, wenn es sich ohne Eltern auf den Weg zu einem neuen Zuhause machte. Eine Menge Kraft! Kraft und Mut.
Langsam wurde es dunkler auf dem Langen Weg. Die Sonne musste zu Bett gehen. Während Lilla das dachte, lächelte sie ein bisschen. Es war albern sich vorzustellen, wie der Mond der Sonne befiehlt, sich schlafen zu legen. Aber es tat gut.
Lilla weckte Rofon. „Rofon! Aufwachen! Wir müssen weiter!“ Sie lief zu dem eigentlichen Drachenwächter und weckte auch ihn auf. Lilla fiel jetzt erst ein, dass es von den Bürgern doch eine schlechte Idee gewesen war, nachts zu laufen. Dann war es doch ganz dunkel! Aber immerhin war es der Entschluss vieler Zwerge, die sich bestimmt etwas dabei gedacht hatten.
Es dauerte nicht lange, bis der Kräftige alle aufgeweckt hatte. Er half Lilla, Rofon und den anderen Zwergenkindern auf die Maus, dann ging es auch schon weiter.
Lilla war sehr müde, genau wie während der ersten Etappe, aber dieses Mal schlief sie nicht. Sie fühlte sich wesentlich besser als am Tag zuvor. Schön kühl war es, anders als tagsüber. Das spürte man schon deutlich, obwohl die Sonne ja noch gar nicht ganz untergegangen war. Lilla drehte sich um. Das lächelnde Gesicht von Rofon gab ihr neue Hoffnung. Genauso hatte er gelächelt, als sie sich das erste Mal gesehen hatten. Da waren beide noch kleine Zwergenbabys gewesen. Wie groß sie jetzt schon waren! Lilla war beeindruckt. Damals hätte sie niemals gegen einen Drachen gekämpft. Damals hatte sie mit ihrem Teddy gekämpft und Rofon hatte zugeguckt. „Toll max tu tas!“, hatte er immer gesagt und gelacht. Und sie hatte immer geantwortet: „I kämpema gege di großte Drakse von der Welt!“ Sie waren immer schon sehr gute Freunde gewesen. Und jetzt kämpften sie nicht mehr nur gegen Teddys, jetzt kämpften sie tatsächlich gegen die Angreifer von Sogitta! Gegen echte, große, starke Drachen!
Lilla aber vermisste die unbeschwerte Zeit sehr, in der sie sich um nichts hatte kümmern müssen. Sie dachte daran, dass sie und Rofon dieses Jahr noch eingeschult werden sollten. Und jetzt? Würden sie im Nachbardorf die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen? Lilla kam sich wirklich schon etwas zu groß für den Kindergarten. Obwohl man üblicherweise, und so auch in Sogitta, in Zwergendörfern das letzte Jahr Kindergarten zum Lesen und Schreiben lernen nutzte. Wieder musste sie an Rofon denken und es fiel ihr schwer, den Blick von ihm abzuwenden. Aber dennoch tat sie es.
Man sah immer noch die letzten Strahlen der Sonne. Lilla wollte nicht schlafen. Sie dachte daran, wie sie zu Hause immer gebettelt hatte, länger aufbleiben zu dürfen. Sie spürte die Schweißperlen der Maus in ihren zitternden Händen. Sie spürte die Steine, die sich durch die Pfoten des Tieres bohrten. Wie schwer es für diese kleinen Wesen sein musste, von einem Tag auf den anderen ein Reittier zu werden! Eigentlich mochte Lilla Mäuse nicht besonders. Doch an diesem Abend hatte sie Mitleid mit den Tieren.
Vor sich sah sie das Licht der Fackeln, welche die kräftigen Männer in ihren Händen trugen. Rechts und links konnte man schemenhaft die Umrisse der Blassen Steppe erkennen. Der Steppe, die Sogitta vom Nachbardorf Fulmen trennte.
Irgendwann meinte Lilla, Rufe gehört zu haben. Ihr fielen fast die Augen zu, nur mit großer Mühe konnte sie es verhindern. Plötzlich fiel ihr auf, dass sich etwas verändert hatte ... doch sie wusste nicht, was. Hinter ihr saß Rofon und zählte die Steine, über die die Maus lief. Und jetzt auf einmal wusste Lilla, was hier falsch war!
„HAAAALT!“, schrie sie aus voller Kehle, „AAANHAAALTEEN!“
Es war die Maus! Natürlich!
Die Rufe! Lilla hatte sich nichts eingebildet. Es war eindeutig! Die Maus, die hätte hinter ihnen sein sollen, war nicht hinter ihnen! Es war kein Getrampel war mehr zu hören!
„STOOPP! SO HALTET DOCH AAN!“
Als keine Reaktion kam, sprang Lilla ab. Ja! Sie sprang von einer laufenden Maus ab! Was wohl Agiza gesagt hätte, wenn sie das gesehen hätte! So schnell ihre kleinen Zwergenbeine sie trugen, lief sie nach vorne zu den kräftigen Männern. „So wartet doch!“, schrie sie. „Wir haben die Maus verloren! Die zweite Maus ist nicht mehr hinter uns!“
Endlich blieben die Männer stehen. „Was sagst du da? Die Maus folgt uns nicht mehr?“
Lilla blickte in ein Gesicht, das sie ernst musterte. Es war der Drachenwächter, der sie angesprochen hatte. „Jawohl!“
„Männer!“, schrie der Zwergerich. „Wir kehren um! Los!“
„Bist du noch gesund, Florlep?“, rief ein kräftiger Mann weiter vorne. Und ein anderer: „Warum sollten wir umkehren, Florlep?“
„Eine Maus folgt uns nicht mehr, Sir! Alle Zwerge umdrehen!“
Ja, und was nun passierte, kann man sich ja denken. Alle Bürger machten auf der Stelle kehrt, um die vermisste Maus zu finden. Sie mussten nicht lange laufen – schon bald sahen sie sie. Die Maus lag mitten auf dem Weg, ihre vier Pfoten von sich gestreckt. In diesem Moment sagte niemand mehr etwas. Selbst die Kräftigen wagten es nicht, die Stille zu durchbrechen. Um die bewegungslose Maus herum saßen, lagen und standen Zwergenkinder.
„Sie ist tot!“, rief eines verzweifelt. „Sie ist einfach zusammengebrochen! Ich hab schon vorher gemerkt, dass sie nicht mehr laufen kann, aber ich dachte, das ist normal. Und jetzt ist sie tot! Ich bin schuld!“
Florlep setzte sich neben das kleine Zwergenkind. „Dieses Unglück konntest du nicht vorhersehen“, versuchte er es zu beruhigen. „Du kannst nichts dafür. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht tot, sondern nur sehr erschöpft.“ Doch er irrte sich – leider.
Mit ernster Miene trugen die Männer die Maus an den Wegesrand.
„Lasst uns schnell weitergehen! Wir haben keine Zeit zu verlieren“, sagte einer.
Jetzt hatten sie also für den Rest des weiten Weges nur noch eine einzige Maus. Der kräftigste aller Zwerge bestand jedoch darauf, diese Maus erst einmal nicht zu reiten. Alle waren einverstanden, sie wollten nicht noch die letzte Maus verlieren. Der alte Jusche vom ehemaligen Obst- und Gemüsehandel weinte ein paar bittere Tränen. Die tote Maus war seine Hausmaus gewesen.
Von dem Moment an wurde der Marsch um vieles schwerer. Die kleinen Zwergenkinder klagten teils über verstauchte Füße oder Müdigkeit. Sie kamen viel langsamer vorwärts. Eine Stunde war es nun her, dass Lilla ihre Drachenwache beendet hatte. Die Nacht war mittlerweile stockfinster geworden, denn der Mond, der eigentlich die Pflicht gehabt hätte zu leuchten, hatte sich hinter einer großen Wolkenwand verborgen. Die Einwohner Sogittas setzten ihren Weg in dieser Nacht mit nicht mehr Licht als allein dem einer schwachen Fackel fort. Lilla malte sich aus, wie es wohl enden würde, wenn die Fackel erlosch. Nein! Sie wollte es sich lieber nicht vorstellen. Lieber nicht! Sie wollte lieber an das Nachbardorf denken. Dort würden sie nach einem Unterschlupf fragen und hoffentlich würde es für sie die Möglichkeit geben, sich bei Rofon und seinen Eltern mit einzuquartieren. Das Mädchen wollte auf keinen Fall in ein Heim. Sie hatte Angst, dass man sie gegen ihren Willen in eines stecken würde.
Nach einer Zeit, die Lilla schrecklich lang vorkam, durften einige Kinder wieder auf der Maus reiten. Der andere Teil kam beim nächsten Wechsel an die Reihe. Lilla musste auf den Mäuserücken verzichten, während Rofon den Platz vor allen anderen am Mäusekopf einnahm. Lilla ging neben den kräftigen Männern und den anderen Kindern her. Ihr Magen knurrte! Aber sie wollte nicht fragen, wann es etwas zu essen geben würde, sie wollte erwachsen, groß und stark sein! Nicht quengelig!
Es fiel Lilla schwer, so erwachsen zu sein, doch noch schwerer fiel es ihr daran zu denken, dass sie ganz alleine war. Die Mutter zurückgelassen in Sogitta und der Vater entführt von Drachen. Wie sehr sie sich jetzt nach ihrem Zuhause sehnte! Sie würde vielleicht sogar freiwillig spülen!
Die Nacht kroch elendig langsam vorbei. Lillas Füße brannten, und auch die anderen, Kinder wie Erwachsene, quälten sich mit jedem Schritt, den sie zurücklegen mussten. Zum Glück war die Zeit des Mauswechsels bald gekommen. Aber Rofon würde sich dann den gleichen Qualen aussetzten müssen, welche Lilla endlich hinter sich gebracht hätte.
Neben ihr lief Tolla, die Tochter des Bürgermeisters. Sie war ein Jahr älter als Lilla. Tolla war auch schon sehr erwachsen. Nicht nur, weil sie schon seit einem Jahr in die Schule ging, nein, auch weil sie mit den kräftigen Männern mitgegangen war. Den ganzen Weg! Sie war noch nicht geritten! Aber Lilla konnte sie dennoch nicht leiden. Sie wollte bloß vor den Kleineren angeben!
„Na, Kleine“, sagte sie plötzlich zu Lilla.
Diese erwiderte nichts darauf. Mazzo hatte ihr immer gesagt: „Wenn jemand etwas Falsches sagt, ohne zu wissen, dass es falsch ist, musst du diskutieren. Wenn jemand dagegen absichtlich falsche Behauptungen macht, so ignoriere ihn!“ Lilla hatte keine Lust sich mit Tolla zu unterhalten. Hinter sich hörte sie, wie Tolla fragte, ob sie denn froh sei, endlich wieder reiten zu dürfen. Lilla ärgerte sich! Trotzdem nahm sie sich vor, nicht mehr auf Tolla zu achten.
Das war leicht, denn in dem Moment kündigte der Kräftigste einen Wechsel an. Lilla fiel ein Stein vom Herzen. Endlich durfte sie sich ausruhen! Schnell lief sie zu der Maus, um noch einen guten Platz auf ihrem Rücken zu ergattern. Doch sie war die Letzte, die aufsteigen durfte! Der Mäusehintern war wirklich der unbequemste Platz auf einer Maus. Kaum saß Lilla, ging die Maus schon weiter. Lilla fragte sich, ob sie eher verhungern oder von der Maus herunterfallen würde.
Zuerst einmal aber schlief sie ein. Und fiel in einen ganz tiefen Schlaf. Sie träumte, dass hinter ihrem Rücken plötzlich Wegmonster auftauchten und sie wütend zerkratzten, verprügelten und schließlich fraßen!
Lilla schaukelte wild auf dem Hintern der Maus hin und her. Sie schwitzte im Schlaf. Im Magen des Monsters schrie Lilla wie wild herum, sie kratzte, biss und schlug verzweifelt um sich.
Plötzlich spürte sie einen Ruck! Es war, als würde sie fliegen. Doch schon landete sie wieder. Auf dem Boden! Lilla schlug die Augen auf. Ja! Sie lag wirklich auf dem Boden! Vor sich sah sie die Maus laufen und hinter sich spürte sie gähnende, unheimliche Leere! Ihre Kleider waren verschwitzt.