Die Reise nach Hause

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D r e i

Vorbereitung

Die Reise beginnt

»Halte seinen Kopf nach links über die Schale!«, rief die Krankenschwester dem Pfleger zu. »Er muss erbrechen.« Die Notaufnahme war an jenem Abend überfüllt, wie so oft am Freitag. Diesmal machte der Vollmond alles noch schwieriger. Obgleich man vermutlich in Krankenhäusern weder an Astrologie noch an metaphysische Dinge glaubte, war man doch dazu übergegangen, bei Vollmond mehr Personal in der Notfall-Ambulanz einzusetzen. Es schienen Dinge zu passieren, wie zu keiner anderen Zeit. Die Schwester eilte hinaus, um sich einer weiteren dringenden Angelegenheit zu widmen.

»Ist er wach?«, fragte der Nachbar, der Mike zum Krankenhaus begleitet hatte. Der weiß gekleidete Pfleger beugte sich hinab, um Mikes Augen genauer zu untersuchen.

»Ja. Er kommt gerade zu sich«, erwiderte er. »Wenn Sie gleich mit ihm sprechen, lassen Sie ihn nicht sofort aufstehen. Er hat nicht nur einen schlimmen Schlag auf den Kopf gekriegt, der genäht werden musste, auch sein Unterkiefer wird ein paar Tage sehr weh tun. Gott sei Dank konnten wir ihn wieder einrenken, solange er bewusstlos war.«

Der Pfleger verließ die Kabine, die aus einem Vorhang bestand, der von einer halbkreisförmigen Schiene herabhing. Beim Hinausgehen zog er den Vorhang zu, so dass Mike und sein Nachbar wieder allein waren. Die zahlreichen Geräusche auf der Station waren gedämpft, aber der Nachbar hörte alles, was sich in den angrenzenden Kabinen abspielte. In der linken lag eine Frau – Opfer eines Messerstiches; in der rechten ein älterer Mann mit Atemnot und einem tauben Arm. Sie waren fast ebenso lange da wie Mike – etwa anderthalb Stunden.

Mike öffnete die Augen und fühlte einen brennenden Schmerz im Unterkiefer. Er wusste sofort, dass er wach war. Keine Engelträume mehr, dachte er, als die Schmerzen und die ganze Situation langsam Realität für ihn wurden. Das grelle, künstliche Licht der Neonröhren, das die Notaufnahme erhellte, ließ ihn schaudern und die Augen schließen. Es war kalt im Raum und Mike wünschte sich eine Decke – doch niemand brachte sie ihm.

»Sie waren eine Zeit lang bewusstlos«, sagte der Nachbar, ein wenig verlegen, weil er nicht einmal Mikes Namen kannte. »Man hat Ihnen den Kopf verbunden und den Kiefer eingerenkt. Versuchen Sie jetzt nicht, zu sprechen.«

Mike schaute den Mann, der sich über ihn beugte, dankbar an. Trotz seines Dämmerzustandes bemühte er sich, die Gesichtszüge zu erkennen und sah, dass es der Mieter aus der Wohnung nebenan war. Der Mann setzte sich an Mikes Seite, während dieser in einen tiefen Schlaf fiel.


Als er wach wurde, wusste Mike, dass er sich woanders befand. Es war still und er lag im Bett. Er öffnete die Augen und versuchte, etwas klarer im Kopf zu werden; offenbar lag er immer noch im Krankenhaus, doch nun in einem Privatzimmer. Für ein Krankenzimmer, fand er, war es gut ausgestattet. Sein müder Blick glitt über die Bilder an der Wand und den schön gedrechselten Stuhl neben seinem Bett. Die Zimmerdecke war mit einem teuren, schalldämpfenden Material verkleidet. Es bildete kleine, wohlgeformte Recht­ecke, die sich durch Mikes verschwommene Wahrnehmung etwas in die Länge zogen. Neonröhren gab es zwar auch, aber gedämpft und halb versteckt im Muster des geschmackvollen Dekors. Die Helligkeit kam vor allem von einem Fenster mit Blick auf die Bucht und von den Glühbirnen einiger im Raum verteilter Lampen. Statt einem Wandbrett, auf dem sich in Krankenhauszimmern für gewöhnlich der Fernseher befindet, gab es hier einen schönen, la­ckierten Schrank. Die Türen des exquisiten Möbels waren geschlossen. Die Lampen trugen Schirme, wie in einem vornehmen Hotel und passten sogar zur Tapete! Was war das hier? Ein Privathaus? Als Mikes Augen weiter wanderten, entdeckten sie allerdings die normalen Krankenhausstecker für Luft, Gas und Elektrizität, die sich an verschiedenen Stellen im Raum befanden. Auch entdeckte Mike eine Anzahl diagnostischer Geräte hinter sich – wovon eins mit medizinischem Klebeband an seinem Arm befestigt war. Alle paar Sekunden gab es einen leisen Ton ab.

Da offenbar niemand in der Nähe war, begann Mike über die Geschehnisse nachzudenken. War er am Hals operiert worden? Konnte er sprechen? Langsam tastete er mit der Hand über seinen Hals, wo er einen dicken Verband oder sogar Gips erwartet hatte. Stattdessen fühlte er glatte Haut! Mit den Fingern fuhr er darüber und stellte fest, dass alles normal war. Vorsichtig versuchte er, sich zu räuspern; erstaunlicherweise sprach seine Stimme sofort an. Als er jedoch den Mund öffnete, merkte er, was nicht in Ordnung war. Ein heißer, stechender Schmerz durchzuckte ihn im Schlund und unter dem Ohr – so furchtbar, dass ihm übel wurde. Schmerzen, die man hören kann, dachte er und nahm sich vor, den Mund nur noch langsam zu öffnen.

»Ah, ich sehe, wir sind wach geworden. Gegen die Schmerzen können Sie alles bekommen, was Sie möchten, Mr. Thomas«, sagte eine schniefende, aber freundliche Frauenstimme an der Tür. »Sie werden aber schneller gesund, wenn Sie Ihre Schmerzgrenze ohne Pillen he­rausfinden. Es ist nämlich nichts gebrochen. Ihr Kiefer braucht nur Übung, um wieder normal zu funktionieren.« Die Krankenschwester, angetan mit etwas, das sich nur als Designer-Outfit bezeichnen ließ, kam an Mikes Bett. Doch nicht nur ihre Uniform war gebügelt und saß perfekt, offensichtlich hatte sie auch eine Menge Erfahrung. Über ihrer Brusttasche prangten verschiedene Abzeichen und Auszeichnungen. Mike sprach vorsichtig durch die Zähne, wobei er sich bemühte, den Unterkiefer möglichst wenig zu bewegen.

»Wo bin ich?«, nuschelte er.

»Sie sind in einem Privatkrankenhaus in Beverly Hills, Mr. Thomas.« Die Schwester stand jetzt neben ihm. »Sie haben die Nacht hier verbracht, nachdem man Sie von der Notaufnahme hierher verlegt hat. Sie sollen bald entlassen werden.« Mikes Augen weiteten sich und sein Gesicht zog sich angstvoll in Falten. Er hatte gehört, dass ein Tag in einem derartigen Krankenhaus zwei bis dreitausend Dollar kosten konnte. Beim Gedanken, wie er das bezahlen sollte, fing sein Herz an zu klopfen.

»Das geht in Ordnung, Mr. Thomas«, sagte die Schwester beruhigend, als sie Mikes Gesicht sah. »Alles ist schon geregelt. Ihr Vater hat sich darum gekümmert. Ja, und er hat alles bezahlt.«

Mike war einen Moment still und überlegte, wie sein verstorbener Vater sich um alles hatte kümmern können. Vielleicht vermutete sie nur, es sei sein Vater gewesen und in Wirklichkeit war es sein Nachbar? Mike versuchte, so gut es ging zu sprechen, ohne den Mund zu bewegen.

»Haben Sie ihn gesehen?«, nuschelte er.

»Gesehen? Ja klar! Sah toll aus, Ihr Dad! Groß und blond wie Sie, mit der Stimme eines Heiligen. Waren alle am Tuscheln, die Schwestern, als sie ihn sahen; ja wirklich.« Mike brauchte die Schwester nur reden zu hören, um zu wissen, dass sie aus seiner Heimat Minnesota kam. Irgendwie redete man da verdreht, indem man das Subjekt oft an das Satzende stellte. Eine komische Ausdrucksweise, die er, sobald er nach Kalifornien gezogen war, aufgegeben hatte. Sie klang, wie die des Yoda, der in Star Wars mitspielte.

»Hat für alles bezahlt, hat er, bar bezahlt sogar. Also machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Thomas und – ach ja – er hat da eine Nachricht für Sie hinterlassen.«

Mikes Herz machte einen Sprung, obwohl er den Verdacht hatte, dass der angebliche Vater sein Nachbar war; die Beschreibung der Krankenschwester passte allerdings auf keinen von beiden. Die Schwester ging hinaus, um die Nachricht zu holen. In weniger als fünf Minuten war sie zurück mit einem Stück Papier, auf dem offensichtlich eine maschinengeschriebene Botschaft stand.

»Hat das diktiert, wissen Sie«, sagte die Schwester, indem sie ein gefaltetes Blatt aus dem Krankenhaus-Kuvert nahm. »Sagte, seine Handschrift sei nicht so gut; deshalb haben wir das für Sie getippt. Bisschen schwer zu verstehen, wenn Sie mich fragen. Hat er Sie als Kind Vorab genannt?« Sie reichte Mike das Blatt und er las es.

Lieber Michael-Vorab,

Nicht alles ist so, wie es scheint. Deine Suche beginnt jetzt. Werde rasch gesund und mache deine Sachen fertig für die Reise. Ich habe den Weg nach Hause vorbereitet. Nimm dieses Geschenk an und breche auf. Den Weg bekommst du gezeigt.

Mike fühlte, wie ihm Schauer über den Rücken liefen. Dankbar schaute er die Schwester an, während er das Blatt an seine Brust drückte. Dann schloss er die Augen, wie um zu sagen, dass er allein sein wollte. Die Schwester begriff seinen Wunsch und verließ das Zimmer.

Unzählige Gedanken gingen Mike durch den Kopf. »Nicht alles ist so, wie es scheint«, stand in der Botschaft. Was für eine Untertreibung! Er wusste, dass sein Hals gestern zusammengetreten und zerquetscht worden war, von einem Verbrecher, der ihn auf dem Boden seines Apartments beinahe umgebracht hätte. Er hatte bei dem furchtbaren Ereignis das Knirschen seiner Knochen deutlich gespürt! Und jetzt war da keinerlei Verletzung, außer einem ausgerenkten und replatzierten Unterkiefer; und ein paar Schnittwunden und blauen Flecken im Gesicht und am Kopf. Das würde zwar eine Weile wehtun, ihn aber nicht außer Gefecht setzen. War dies das Geschenk?

Dass die Engel-Vision tatsächlich stattgefunden hatte, wurde für Mike erst zur Realität, nachdem er die Notiz gelesen hatte. Wenn das nicht der Engel gewesen war, wer dann? Mike kannte niemanden, der so viel Geld besaß oder eng genug mit ihm befreundet war, um ihm etwas zu schenken – geschweige denn die hohe Krankenhausrechnung zu bezahlen. Wer sonst konnte von der Reise wissen, zu der Mike sich bereit erklärt hatte? Sein Körper zitterte vor Fragen; und immer noch kamen ihm Zweifel, ob die Nachricht und ihr Sinn auch echt seien; bis er schließlich den letzten Beweis entdeckte – und lächeln musste.

 

Hatte die Krankenschwester nicht gefragt, ob er »Vorab« genannt worden sei? Auf dem Zettel stand Vorab, so als sei es ein Name; ohne Zweifel Buchstabe für Buchstabe diktiert von dem »Engel«, der seine Rechnung bezahlt hatte. Es war jedoch kein Spitzname. Es waren Anfangsbuchstaben! Vo-r-Ab – Von reiner Absicht!* Mikes Lächeln wurde zum Lachen. Es tat fürchterlich weh, aber er lachte und lachte und sein ganzer Körper schüttelte sich vor Glückseligkeit – bis er verstummte und auch die Freudentränen noch laufen ließ. Er war auf dem Weg nach Hause!


Die nächsten Tage hatten besondere Bedeutung. Mike verließ das Krankenhaus mit ein paar Schmerztabletten; aber er sah, dass er sie nicht brauchte. Sein Unterkiefer schien unglaublich schnell zu heilen und er konnte vorsichtige Übungen damit machen. Es fiel ihm immer leichter zu sprechen. Und obgleich das Essen zuerst mühsam für ihn war, ging es nach ein, zwei Tagen bereits gut. Die Schmerzen beschäftigten ihn bei der ganzen Sache überhaupt nicht. Alles war noch etwas steif, aber im Hinblick auf die Umstände durchaus erträglich. Mike wollte nicht, dass sein Hochgefühl über die nun beginnende, spirituelle Suche durch Schmerztabletten beeinträchtigt wurde. Die Schnittwunden und blauen Flecken verschwanden allmählich, und immer wieder musste er staunen, wie schnell alles ging.

Seine Kündigung erledigte er telefonisch. Unzählige Male hatte er sie in Gedanken geübt; er wollte seinen Abschied von diesem fürchterlichen Job voll auskosten. Dann rief er seinen Freund John an und erklärte ihm, so gut es ging, dass er einen ausgedehnteren Urlaub machen würde und vielleicht nicht mehr zurückkäme. John wünschte ihm alles Gute, äußerte sich allerdings besorgt über Mikes Geheimniskrämerei in Bezug auf seine Pläne.

»Kumpel«, hatte John ihn gedrängt, »mir kannst du es doch erzählen! Ich werde dich nicht daran hindern. Was ist los?« Mike wusste nur zu gut, dass John nicht verstehen würde, wenn er sagte, ein Engel sei ihm erschienen und habe ihm Anweisungen gegeben – also schwieg er.

»Ich muss eine private Reise unternehmen«, erklärte er John. »Sie ist wichtig für mich.« Und dabei ließ er es bewenden.

Mike kündigte sein Apartment und packte seine Sachen. Sorgfältig sortierte er seine persönlichen Schätze von Kleidung und Hausrat. Viel besaß er nicht, doch seine Lieblingssachen – Fotos und ein paar Bücher – steckte er in zwei Reisetaschen. Ihm war klar, dass er nicht viel Kleidung mitnehmen konnte und so nahm er nur genug für eine einfache Reise und tat sie zu den Fotos und Büchern.

Dann lud er seinen Nachbarn ein, der ihn gerettet hatte und gab ihm einige Kleidungsstücke, seinen Fernseher, sein Fahrrad – mit dem er immer zur Arbeit gefahren war – und ein paar weniger wertvolle Dinge, die sich im Laufe des letzten Jahres angesammelt hatten.

»Wenn Sie die Sachen nicht wollen«, meinte er, »geben Sie sie einer Hilfsorganisation.«

Der Nachbar schien überwältigt von so viel Großzügigkeit und strahlte übers ganze Gesicht, als er Mike die Hand schüttelte. Mike hatte den Eindruck, dass der Mann tatsächlich vieles von den Sachen gebrauchen konnte. »Katze«, der Fisch, war von seinem Nachbarn – nachdem dieser die Polizei gerufen hatte – gerettet worden; und da er sich jetzt sowieso im Aquarium des Mannes befand, schien es das Beste, dass er da blieb.

»Bye-bye, Katze!«, hatte Mike lächelnd gesagt, als er in der Wohnung des Mannes gewesen war. »Nicht die Hoffnung aufgeben.« Katze hatte ihn nicht einmal angeschaut. Er war mit seinen neuen Fischfreunden beschäftigt.

Fünf Tage nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, stellte Mike fest, dass er mit den Vorbereitungen fertig war. Er hatte keine rechte Vorstellung, was er jetzt tun und wo er eigentlich hingehen sollte. Es war Abend und alles war still. Er wusste, der Engel würde mitbekommen, wann er bereit war, und morgen würde etwas Neues beginnen. Mike fühlte, dass es an der Realität seiner Reise keinen Zweifel gab. Er war fest überzeugt, dass ihm gezeigt würde, was er zu tun hatte. Alles, was in der letzten Woche passiert war, rechtfertigte diese Überzeugung. Er beschloss, die Schätze, die er in den Reisetaschen auf seine spirituelle Fahrt mitnehmen würde, noch einmal anzuschauen.

Er öffnete die Taschen und prüfte jeden Gegenstand, den er glaubte mitnehmen zu müssen. Zuerst waren da die Fotos. Das Fotoalbum war im Laufe der Zeit etwas aus dem Leim gegangen, und viele der alten Fotos waren mit den altmodischen Klebe-Ecken aus den fünfziger Jahren eingeklebt. Er öffnete das Buch vorsichtig, um die schlechter klebenden Bilder nicht abzulösen; wieder überkam ihn die wohlbekannte Melancholie, als er auf das Hochzeitsfoto seiner Eltern blickte – das erste Foto im Album. Dieses und andere Fotos von ihnen hatte er nach dem Unfall gefunden und kaum die Kraft gehabt, sie anzuschauen.

Da waren die beiden – verliebt in die Kamera lächelnd – am Beginn ihres gemeinsamen Lebens. Ihre Kleidung fand Mike eher komisch und soweit er sich erinnern konnte, war es das einzige Mal, dass er seinen Vater mit einer Krawatte sah. Irgendwann hatte Mike Moms altes Hochzeitskleid auf dem Speicher gefunden. Er hatte eine Nachbarin gebeten, es einzupacken, weil es für ihn selbst zu schmerzlich war. Als das Hochzeitsfoto seiner Eltern damals aufgenommen wurde, existierte von Mike noch nicht mehr als der Glanz in ihren Augen: Voll freudiger Erwartung blickten sie der Zukunft entgegen. Mike starrte lange auf das Foto, bis er schließlich sanft zu ihm sagte: »Mom und Dad, ich bin euer einziges Kind. Ich hoffe, das, was ich jetzt vorhabe, wird euch nicht enttäuschen. Ich liebe euch und wünsche mir, euch bald wiederzusehen.«

Dann schlug er die Seiten auf, die ihn als Jungen zeigten. Er lächelte oft. Da war die alte Farm, und ab und zu Bilder von Freunden, die seinen Lebensweg geteilt hatten. Er liebte das Foto, wo er selbst auf dem Traktor saß und sechs Jahre alt war. Wieviel ihm dieses Album bedeutete! Mike hatte den Eindruck, Gott eine Freude zu machen, wenn er die Fotos mit auf seine besondere Reise nahm und in dieser Weise seine Eltern und sein früheres Leben hochhielt. Was später mit dem Album passieren würde, konnte niemand wissen. Doch im Augenblick hatte Mike das Gefühl, dass er diese Dinge nicht zurücklassen durfte.

Außerdem waren da noch seine Bücher. Er liebte sie über alles! Seine Bibel: vom vielen Lesen dünn geworden; wie oft hatte sie ihn getröstet! Auch wenn er nicht alles verstand, so fühlte er doch ihre spirituelle Energie. Sie war sorgfältig eingepackt und Mike hätte sie niemals irgendwo zurücklassen können. Dann seine Jugendbücher, die ihm so viel bedeuteten: Die Hardy Boys, Charlottes Netz – ein paar Taschenbücher, die er ab und zu wieder las; und die ihn jedesmal an die Zeit erinnerten, als er diese spannenden Geschichten zum ersten Mal gelesen hatte und an alles, was er in dem Alter gemacht hatte. Schließlich das tolle Abenteuerbuch von Moby Dick – da war er schon etwas älter – und die Sherlock-Holmes-Serie. Und dann einige seiner Lieblingsgedichte von unbekannten Schriftstellern.

All die Bücher und Fotos passten problemlos in zwei Taschen und waren leicht zu tragen, so dass er auch noch einen mittelgroßen Beutel für Proviant mitnehmen konnte. Mike war mit allem fertig und legte sich zum Schlafen ein letztes Mal auf den Boden seines nun leeren Apartments. Er hatte ein Kissen und das genügte. Er war für den kommenden Tag gerüstet und auf seine spirituelle Suche so gespannt, dass er kaum einschlafen konnte – so sehr beschäftigte ihn alles, was passiert war und die Verheißung des Kommenden. Morgen würde seine Reise nach Hause beginnen.


* Engl. Opi: of Pure Intent. Dieser Name bezieht sich auf Obi-Wan Kenobi aus »Star-Wars« Im Verlauf der Erzählung zeigen sich Gemeinsamkeiten zwischen Michael und Obi-Wan. (A.d.Ü)

V i e r

Das erste Haus

Der nächste Morgen sah ein wenig trüb aus, doch Mike war in ausgezeichneter Stimmung. Von dem bisschen Geld, das er gespart hatte, kaufte er sich ein großes Frühstück und aß es auf der Terrasse eines Bistros in der Nachbarschaft. Es war ein seltsames Gefühl, um diese Zeit draußen zu sein. Normalerweise arbeitete er jetzt schon, gewohnt, den ganzen Tag zu schuften, ein Butterbrot am Schreibtisch zu essen und den Sonnenuntergang zu verpassen, da er um die Zeit noch im Büro saß.

Die Taschen in der Hand und den Sack geschultert, stand Mike vor dem Restaurant und überlegte, in welche Richtung er gehen sollte. Er wusste, dass er nicht nach Westen konnte, da der Ozean ihm schon bald den Weg versperren würde. Also auf nach Osten, bis ihm eine andere Marschroute gezeigt wurde. Mike hatte ein gutes Gefühl dabei, eine Reise zu unternehmen, die auf Glauben und Vertrauen gegründet war; dennoch hätte er gerne ein klareres Ziel gehabt.

Wenn ich nur wüsste, in welche Richtung ich gehen soll – oder wenigstens eine Karte hätte oder einen Hinweis auf meinen augenblicklichen Standort, sagte Mike zu sich selbst, während er ostwärts wanderte und die scheinbar endlosen Vororte von Los Angeles durchquerte, um den Fuß der Hügel anzusteuern, wo ein weiteres Wohnviertel begann. Es wird Wochen dauern, bis ich zu Fuß hier raus bin, dachte er.

Mike hatte keine Ahnung, wo er hinging, hielt sich aber immer in Richtung Osten. Um die Mittagszeit setzte er sich auf einen Bordstein und verzehrte die Reste, die von seinem Frühstück übriggeblieben waren. Wieder fragte er sich, ob er wohl auf dem richtigen Weg sei.

»Wenn ihr da seid, dann brauche ich euch jetzt!«, rief Mike zum Himmel hinauf. »Wo ist der Eingang zu meinem Weg?«

»Eine aktuelle Landkarte ist vonnöten!« Mike hörte eine bekannte Stimme in seinem Ohr sprechen. Er stand auf und blickte um sich, sah aber niemanden. Er erkannte die Stimme des Engels.

»Habe ich das gehört oder gefühlt?«, murmelte er aufgeregt und erleichtert. Zumindest gab es nun eine Verständigung!

»Warum hast du so lange gebraucht?«, fragte Mike, der Sinn für Humor hatte.

»Du hast gerade erst um Hilfe gebeten«, antwortete die Stimme.

»Aber ich bin seit Stunden unterwegs!«

»Das war deine eigene Entscheidung«, bemerkte die Stimme. Warum hast DU so lange gebraucht, deine Bitte an uns zu richten?« Die Stimme hatte offensichtlich Spaß daran, Mikes Vorwurf umzukehren.

»Meinst du damit, dass ich nur Hilfe bekomme, wenn ich darum bitte?«

»Ja. Stell dir vor!«, erwiderte die Stimme. »Du bist ein freier Geist, mächtig und hoch geehrt; imstande, den eigenen Weg zu finden, wenn du dich dazu entschließt. Dein Leben lang hast du nichts anderes getan. Wir sind immer da, aber nur dann aktiv, wenn du darum bittest. Ist das so seltsam?« Mike war einen Augenblick irritiert, denn der Engel hatte vollkommen recht.

»O.k., wo soll ich also hingehen? Jetzt wird es schon Nachmittag; den ganzen Morgen über habe ich geraten, in welche Richtung ich gehen soll.«

»Richtig geraten«, antwortete die Stimme wie mit einem Zwinkern. »Das Tor zu deinem Weg liegt direkt vor dir.«

»Das heißt, ich bin die ganze Zeit darauf zugelaufen?«

»Es braucht dich nicht zu wundern, dass du darauf zugegangen bist. Du bist ein Teil des Ganzen, Michael Thomas von reiner Absicht. Mit etwas Übung wird deine Intuition dich führen. Ich bin heute nur hier, um dir einen kleinen Hinweis zu geben.« Die Stimme zögerte. »Schau nach vorne, du bist schon am Eingangstor!«

Michael stand vor einer großen Hecke, die zwischen den Häuserreihen in eine Schlucht führte.

»Ich kann nichts sehen.«

»Schau noch einmal hin, Michael Thomas.«

Michael starrte auf die Büsche und erkannte langsam die Umrisse eines Tores. Es war versteckt geblieben, weil es sich in die Form der Pflanzen einfügte. Jetzt schien es ihm unmöglich, das Tor NICHT zu sehen, selbst wenn er es gewollt hätte. Es war unverkennbar! Er drehte sich einen Moment zur Seite und schaute dann noch einmal – mit neuem Blick. Da war es, sogar noch deutlicher als eben.

»Was ist los?«, fragte Mike, dem auffiel, dass seine Wahrnehmung sich veränderte.

 

»Wenn das Unsichtbare sichtbar wird«, sagte die sanfte Stimme, »dann kannst du nicht in die Unwissenheit zurückfallen. Du wirst von nun an jedes Eingangstor sofort erkennen – weil du die Absicht bekundet hast, dieses hier zu sehen.«

Obgleich Mike nicht ganz verstand, was das zu bedeuten hatte, war er begierig, den eigentlichen Weg seiner Reise zu betreten. Die Hecke sah inzwischen nicht nur aus wie ein Tor, sondern verwandelte sich tatsächlich in eines! Direkt vor Mikes Augen begann sie zu wachsen und eine neue Form anzunehmen.

»Das ist ja ein Wunder!«, flüsterte Mike und schaute zu, wie die hohe Hecke zur Eingangspforte wurde; ja, er wich sogar ein wenig zurück, um dem Phänomen Platz zu machen.

»Eigentlich nicht«, antwortete die Stimme. »Deine spirituelle Absicht hat DICH ein wenig verändert; dadurch werden die Dinge, die auf deiner neuen Stufe schwingen, plötzlich für dich sichtbar. Kein Wunder, sondern einfach die Art und Weise, wie es funktioniert.«

»Du meinst, mein Bewusstsein kann die Realität verändern?« , fragte Mike.

»Wenn du es so ausdrücken willst«, erwiderte die Stimme. »Realität ist die Essenz Gottes und ist immer gleich. Dein menschliches Bewusstsein offenbart dir nur die neuen Aspekte der Realität, die du kennen lernen möchtest. Während du dich veränderst, siehst du immer mehr davon, und du kannst diese neuen Offenbarungen erleben und nutzen, wie du willst; nur zurück kannst du nicht.«

Mike begann zu verstehen; doch hatte er noch eine Frage, bevor er sich durch das sichtbar gewordene Tor auf den Weg machte. Immer schon war es ihm ein Bedürfnis gewesen, alles auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu prüfen – auch die Engel-Stimme, die er im Inneren hörte. Er überlegte sich seine Frage und stellte sie:

»Du hast gesagt, ich sei ein Geschöpf mit freiem Willen. Warum kann ich dann nicht zurück, wenn ich es will? Was ist, wenn ich die neue Realität ignorieren möchte, um zu einer einfacheren zurückzukehren? Ist das nicht freier Wille?«

»Das Axiom, dass du niemals in einen weniger bewussten Zustand zurückkehren kannst, ergibt sich aus den Gesetzmäßigkeiten der Spiritualität*«, entgegnete die Stimme. »Wenn du es trotzdem aktiv versuchst, leugnest du die Erleuchtung, die du empfangen hast und verlierst dein Gleichgewicht. Du kannst in der Tat versuchen, dich zurückzubewegen. Es ist dein freier Wille. Doch Menschen, die versuchen, das, was sie als Wahrheit erkennen, zu ignorieren, sind in einem sehr traurigen Zustand, denn sie können mit einer doppelten Schwingungsfrequenz nicht lange existieren.«

Mike verstand zwar nicht die Bedeutung der neuen spirituellen Information, die die Stimme ihm gab. Doch er hatte eine Antwort auf seine Frage bekommen. Er wusste, er konnte hier und jetzt umkehren und zur Stadt zurückgehen. Er hatte die Wahl. Doch jedesmal, wenn er hier stünde, würde er das Tor sehen; und es zu sehen und zu ignorieren, würde ihn aus dem Gleichgewicht bringen und zweifellos krank machen. Irgendwie machte alles Sinn und sein Wunsch war nicht, zurückzugehen, sondern vorwärts. Also nahm er seine Taschen und seinen Beutel und machte sich durch das Tor auf den Weg, auf dem seine Reise begann. Es war ein einfacher Trampelpfad, so wie in jeder anderen Schlucht. Mike fand es aufregend und – das Tor rasch hinter sich lassend – schritt zügig voran.

Kaum hatte er die Pforte durchschritten, als eine dunkle, schemenhafte grünliche Gestalt ebenfalls hindurchschlüpfte. Das Gestrüpp verwelkte, wo ES entlang ging; und hätte Michael beim Gehen nicht nach vorn geschaut, der Gestank hätte ihm verraten, dass ES anwesend war. ES bezog seine Position weit genug hinter Mike, um außer Sichtweite, aber immer im gleichen Abstand zu ihm und seiner Überschwänglichkeit zu bleiben. Behende und listig, überschattete es gleich einem Phantom Mikes fröhliche Begeisterung mit ebenso viel Hass und dunklen Absichten.

Nach kurzer Zeit änderte sich für Michael Thomas nicht nur die Landschaft, sondern auch das Gefühl, das sie in ihm hervorrief. Nirgendwo konnte er das weitgestreckte Los Angeles mit seinen unzähligen Vorstadt-Häusern entdecken. Tatsächlich gab es keinerlei Anzeichen von Zivilisation – keine Telefonmasten, keine Flugzeuge, keine Autobahnen. Gespannt hatte er sich auf den neuen Weg gemacht, wie ein Kind, das an Weihnachten seine Geschenke auspackt – stetig ausholend und ohne viel nachzudenken, wobei er nun entdeckte, dass er mit jedem Schritt tiefer in eine andere Welt eindrang. Seine Reise führte ihn in eine Realität, die vollkommen verschieden war von derjenigen, in der er sich bis eben noch aufgehalten hatte. Mike fragte sich, ob er sich nun irgendwo zwischen Erde und Himmel befand, wo er spirituellen Unterricht erhalten würde – denn er ging davon aus, dass dieser bald beginnen musste, um ihn auf die Ehre seiner Heimkehr vorzubereiten. Der schmale Pfad war allmählich breiter geworden und besaß nun beinahe die Ausdehnung einer Straße. Er maß vielleicht ein bis anderthalb Meter, und war, obgleich er keinerlei Fußspuren zeigte, leicht auszumachen.

Mike drehte sich plötzlich um. Was war das? Sein Blick fiel auf etwas Dunkelgrünes, Behendes, das nach links hinter einen Felsen schoss. Wahrscheinlich irgendein Wild, dachte er. Die Straße hinter ihm war nun das Spiegelbild dessen, was vor ihm lag – ein langes Band, das sich kurvenreich dahinschlängelte. Inmitten einer herrlich üppigen Landschaft mit grünen Bäumen, Wiesen und felsigen Anhöhen, verschwand sie über viele Hügel hinweg in der Ferne. Blumen betupften die Gegend genau an den richtigen Stellen – wie hunderte von Pinselstrichen auf der vollkommenen Leinwand der Natur.

Mike hielt inne, um zu rasten. Er hatte keine Uhr, doch nach dem Sonnenstand schätzte er, dass es etwa zwei Uhr nachmittags war – Zeit zum Essen. Er setzte sich an den Wegrand und aß die Reste seines riesigen Frühstücks, die er sich für später aufbewahrt hatte. Er schaute umher und fühlte die Stille.

Keine Vögel, dachte er. Er sah sich den Boden unter seinen Füßen genauer an. Auch keinerlei Insekten. Wirklich ein seltsamer Ort. Es machte ihn nachdenklich. Dann fühlte er einen plötzlichen Luftzug im Haar. Wenigstens Luft gibt es hier! Er schaute hinauf zum wolkenlosen Himmel, in das reine Blau eines erfrischenden, herrlichen Tages.

Mike stellte fest, dass es in seinem Beutel nichts mehr zu essen gab; aber er wusste auch, dass er nicht allein war und dass Gott irgendwie für sein leibliches Wohl sorgen würde. Die Geschichten von Moses in der Wüste fielen ihm ein, der 40 Jahre lang mit den Stämmen Israels umherzog. Er erinnerte sich, wie diese Nomaden vom Himmel gespeist worden waren, und während er über die Geschichte nachdachte, fragte er sich, ob sie wohl wahr sei. All die Familien, die Moses folgten, hatten wahrscheinlich eigensinnige Teenager, so wie wir heute auch, dachte er. Er sah sie vor sich, wie sie ihren Eltern gegenüber maulten: »Also jetzt sind wir schon achtmal an diesem Felsen vorbeigekommen seit ich klein war! Warum vertraut ihr diesem Moses? Er führt uns im Kreis herum! Die Wüste kann doch so groß nicht sein! Oder?«

Mike lachte bei dem Gedanken und fragte sich, ob er wohl bald den gleichen Felsen noch einmal sehen würde und dann wüsste, dass auch er im Kreis herumging! Ebenso wenig wie die Israeliten in der Wüste, hatte er eine Vorstellung, wohin er ging – und nicht einmal etwas zu essen! Die Übereinstimmung ließ ihn noch mehr lachen.

Vielleicht als Belohnung für sein Lachen oder ganz einfach weil es an der Zeit war, entdeckte Mike hinter der nächsten Kurve der sich weitenden Straße das erste Haus – und es war blau! Du meine Güte, dachte er. Wenn Frank Lloyd das sehen könnte, er würde brüllen! Mike musste innerlich lachen. Ich hoffe, ich bin nicht respektlos, dachte er, aber ich habe noch nie ein blaues Haus gesehen. Der Weg führte tatsächlich zur Haustür, was also bedeutete, dass hier seine erste Station war. Es konnte nur so sein, da keinerlei andere Gebäude zu sehen waren.