Loe raamatut: «Anna Karenina | Krieg und Frieden», lehekülg 45
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Nachdem Alexei Alexandrowitsch vom Meßgottesdienste zurückgekehrt war, hatte er den ganzen Vormittag zu Hause zugebracht. An diesem Vormittage hatte er zweierlei zu tun. Erstens mußte er eine Abordnung der Fremdvölker, die sich nach Petersburg begeben wollte und sich augenblicklich in Moskau befand, empfangen und unterweisen; zweitens mußte er dem Rechtsanwalte den in Aussicht gestellten Brief schreiben. Obgleich die Abordnung auf Alexei Alexandrowitschs eigene Anregung hin nach Petersburg gerufen worden war, konnte ihre Ankunft dort doch mancherlei mißliche Folgen haben, ja sogar gefährlich werden, und Alexei Alexandrowitsch war sehr froh, daß er sie noch in Moskau angetroffen hatte. Die Mitglieder dieser Abordnung hatten nicht die geringste Vorstellung von der Rolle, die sie zu spielen, und von den Pflichten, die sie zu erfüllen hatten. Sie hatten die naive Anschauung, daß ihre ganze Aufgabe darin bestände, ihre Nöte und die wirkliche Lage der Dinge darzulegen und die Regierung um Hilfe zu bitten, und konnten ganz und gar nicht begreifen, daß einige ihrer Mitteilungen und Forderungen zur Unterstützung der feindlichen Partei dienen und somit die ganze Sache verderben würden. Alexei Alexandrowitsch mühte sich lange mit ihnen ab. Er schrieb ihnen für das, was sie sagen sollten, ein Programm auf, innerhalb dessen sie sich zu halten hatten, und schrieb, nachdem er die Leute entlassen hatte, noch einige Briefe nach Petersburg, um die Abordnung dort auf dem richtigen Wege zu halten. Eine sehr wesentliche Hilfe in dieser Angelegenheit erwartete er von der Gräfin Lydia Iwanowna. Sie galt als Sachverständige in Abordnungsangelegenheiten, und niemand verstand es so gut wie sie, eine solche Sache ordentlich in Gang zu bringen und die Abgeordneten zweckmäßig zu führen. Nach Erledigung dieses Geschäftes schrieb Alexei Alexandrowitsch auch noch den Brief an den Rechtsanwalt. Ohne auch nur im geringsten zu schwanken, gab er ihm Vollmacht, zu verfahren, wie er es für nützlich halten werde. In diesen Brief legte er drei Briefe Wronskis an Anna ein, die sich in der von ihm beschlagnahmten Briefmappe befunden hatten.
Seit Alexei Alexandrowitsch von zu Hause mit der Absicht weggereist war, nicht wieder zu seiner Frau zurückzukehren, und seit er den Besuch bei dem Rechtsanwalt gemacht und so wenigstens einem einzigen Menschen von seiner Absicht Mitteilung gemacht hatte und namentlich seit er diese Sache des wirklichen Lebens zu einer papiernen Aktensache gemacht hatte: seitdem fand er sich immer mehr und mehr in sein Vorhaben hinein und erkannte jetzt klar die Möglichkeit, es auszuführen.
Er war gerade dabei, den Brief an den Rechtsanwalt zuzusiegeln, als er Stepan Arkadjewitschs laut schallende Stimme hörte. Dieser stritt sich mit Alexei Alexandrowitschs Diener herum und bestand darauf, daß er ihn anmelden solle.
›Es ist ja doch ganz gleich‹, dachte Alexei Alexandrowitsch, ›oder vielleicht ist es sogar das beste: ich will ihn sofort von meinem Verhältnisse zu seiner Schwester in Kenntnis setzen und ihm auf diese Weise klarmachen, warum ich nicht bei ihm speisen kann.‹
»Ich lasse bitten!« rief er laut, indem er die Papiere zusammenfaßte und in seine Schreibmappe legte.
»Na, da siehst du ja, daß du mir etwas vorschwindelst und er doch zu Hause ist!« hörte er nun Stepan Arkadjewitsch zu dem Diener sagen, der ihn nicht hatte hineinlassen wollen, und im Gehen den Überzieher ausziehend, trat Oblonski ins Zimmer. »Na, ich freue mich sehr, daß ich dich zu Hause getroffen habe. Also ich hoffe ...«, begann Stepan Arkadjewitsch in munterem Tone.
»Es ist mir unmöglich zu kommen«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch, der selbst stand und auch den Besucher nicht zum Sitzen aufforderte.
Alexei Alexandrowitsch gedachte sofort das kühle Verhältnis in Kraft treten zu lassen, in dem er mit dem Bruder seiner Frau, gegen die er die Scheidungsklage einleitete, künftig werde stehen müssen; aber er hatte nicht mit jenem Meere von Gutmütigkeit gerechnet, das in Stepan Arkadjewitschs Seele über alle Ufer trat.
Stepan Arkadjewitsch öffnete weit seine klaren, glänzenden Augen.
»Warum kannst du nicht kommen? Was willst du eigentlich damit sagen?« fragte er in höchstem Erstaunen auf französisch. »Nein, du hast es nun doch einmal schon versprochen. Und wir alle rechnen bestimmt auf dein Kommen.«
»Ich will damit sagen, daß ich in Ihrem Hause nicht verkehren kann, weil ich die verwandtschaftlichen Beziehungen, die zwischen uns bestanden haben, abbrechen muß.«
»Aber wie denn? Wie meinst du denn das? Warum?« fragte Stepan Arkadjewitsch lächelnd.
»Weil ich gegen Ihre Schwester, meine Frau, die Scheidungsklage einleite. Ich habe mich dazu genötigt gesehen ...«
Aber Alexei Alexandrowitsch hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Stepan Arkadjewitsch sich in einer Weise benahm, wie es jener ganz und gar nicht erwartet hatte. Er stöhnte auf und ließ sich in einen Lehnsessel sinken.
»Nein, Alexei Alexandrowitsch, was redest du da nur!« rief er mit einem Ausdrucke schmerzlicher Betrübnis auf dem Gesichte.
»Es ist so.«
»Nimm es mir nicht übel, aber ich kann das nicht glauben, kann es schlechterdings nicht glauben ...«
Alexei Alexandrowitsch setzte sich nun gleichfalls, da er fühlte, daß seine Worte nicht die Wirkung gehabt hatten, die er von ihnen erwartet hatte, und daß er nun eine nähere Erklärung werde geben müssen und daß, welches auch immer der Inhalt der Erklärung sein mochte, sein Verhältnis zu seinem Schwager dasselbe bleiben werde wie bisher.
»Ja, ich sehe mich in die traurige Notwendigkeit versetzt, die Scheidung zu verlangen«, sagte er.
»Ich möchte nur eins sagen, Alexei Alexandrowitsch. Ich kenne dich als einen vortrefflichen, gerechtigkeitsliebenden Menschen, und ich kenne Anna (verzeih mir, aber ich kann meine Meinung über sie nicht ändern) als eine prächtige, vortreffliche Frau, und darum, verzeih mir, vermag ich es nicht zu glauben. Hier liegt ein Mißverständnis vor«, sagte er.
»Ja, wenn es nur ein Mißverständnis wäre ...«
»Erlaube, ich verstehe«, unterbrach ihn Stepan Arkadjewitsch. »Aber natürlich ... Nur eins; keine Übereilung! Hier darf keine Übereilung stattfinden, um alles in der Welt nicht!«
»Ich habe mich nicht übereilt«, versetzte Alexei Alexandrowitsch kalt. »Aber in einer solchen Sache kann man niemand um Rat fragen. Ich bin fest entschlossen.«
»Das ist furchtbar!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch mit einem schweren Seufzer. »Aber eins würde ich an deiner Stelle tun, Alexei Alexandrowitsch. Ich bitte dich inständig, tue das!« sagte er. »Die Sache ist noch nicht eingeleitet, wenn ich dich recht verstanden habe. Ehe du einen solchen Schritt tust, komm einmal zu meiner Frau, sprich mit ihr. Sie liebt Anna wie eine Schwester, und sie hat auch dich sehr gern, und sie ist eine bewundernswerte Frau. Um Gottes willen, sprich mit ihr! Tu mir die Liebe, ich bitte dich inständig!«
Alexei Alexandrowitsch überlegte schweigend, und Stepan Arkadjewitsch blickte ihn teilnahmsvoll an, ohne ihn darin zu stören.
»Willst du zu ihr kommen?« fragte er endlich.
»Ich bin mir noch nicht schlüssig. Dies ist auch der Grund, weshalb ich nicht zu Ihnen gekommen bin. Ich bin der Ansicht, daß unser Verhältnis sich jetzt ändern muß.«
»Aber warum denn? Das sehe ich nicht ein. Gestatte mir zu glauben, daß du, ganz abgesehen von unseren verwandtschaftlichen Beziehungen, mir gegenüber wenigstens bis zu einem gewissen Grade die freundschaftlichen Empfindungen hegst, die ich immer für dich gehegt habe ... Und eine aufrichtige Hochachtung«, fügte Stepan Arkadjewitsch noch hinzu, indem er ihm die Hand drückte. »Und selbst wenn deine schlimmsten Vermutungen zuträfen, so würde ich mich nie für berufen halten, über die eine oder die andere Partei den Stab zu brechen, und ich sehe keinen Grund, weshalb unser gegenseitiges Verhältnis sich ändern sollte. Aber jetzt tu, was ich sagte, und komm zu meiner Frau!«
»Nun, wir haben über die Sache eine verschiedene Anschauung«, versetzte Alexei Alexandrowitsch kühl. »Übrigens, wir wollen nicht weiter davon reden.«
»Und warum solltest du denn nicht wenigstens heute zu uns zum Essen kommen? Meine Frau erwartet dich. Bitte, komm! Und vor allen Dingen: Sprich mit ihr darüber. Sie ist eine bewundernswerte Frau. Ich bitte dich herzlich, auf den Knien bitte ich dich!«
»Wenn Sie es so sehr wünschen, so will ich kommen«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch seufzend.
Und in dem Wunsche, dem Gespräche eine andere Richtung zu geben, fragte er nach etwas, was sie beide interessierte: nach Stepan Arkadjewitschs neuem Vorgesetzten, einem noch ziemlich jungen Manne, der trotzdem auf einmal einen so hohen Posten erhalten hatte.
Alexei Alexandrowitsch hatte schon vorher den Grafen Anitschkin nicht leiden können und sich immer in Meinungsverschiedenheiten mit ihm befunden; jetzt nun aber konnte er, wie das bei einem Beamten erklärlich ist, sich nicht erwehren, einen Menschen zu hassen, dem eine Beförderung zuteil geworden war, während er seinerseits im Dienste eine Niederlage erlitten hatte.
»Nun also, bist du schon mit ihm zusammengekommen?« fragte Alexei Alexandrowitsch mit boshaftem Lächeln.
»Gewiß; er war gestern bei uns in unserm Amt. Er scheint mir eine vortreffliche Geschäftskenntnis zu besitzen und sehr arbeitseifrig zu sein.«
»Ja, aber worauf richtet sich sein Arbeitseifer?« versetzte Alexei Alexandrowitsch. »Will er Neues schaffen oder nur an dem, was er fertig vorfindet, herumändern? Das ist das Unglück unseres Staates, diese papierne Verwaltungsmethode, deren würdiger Vertreter er ist.«
»Wirklich, ich weiß nicht, was an ihm auszusetzen wäre. Seine Richtung kenne ich noch nicht; aber das eine weiß ich: er ist ein sehr netter Kerl«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. »Ich war jetzt eben bei ihm, und wirklich, er ist ein sehr netter Kerl. Wir haben zusammen gefrühstückt, und ich habe ihm gezeigt, wie man ein schönes Getränk herstellt, aus Wein und Apfelsinen, du wirst es ja kennen. Es ist sehr erfrischend. Ganz erstaunlich, daß er es noch nicht kannte. Aber es schmeckte ihm sehr gut. Nein, wirklich, er ist ein prächtiger Mensch.«
Stepan Arkadjewitsch sah nach der Uhr.
»Ach, Herrgott, es geht schon auf fünf, und ich muß noch zu Dolgowuschin! Also bitte, komm zum Essen! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr du mich und meine Frau kränken würdest.«
Alexei Alexandrowitsch begleitete seinen Schwager hinaus und benahm sich hierbei schon ganz anders als beim Empfange.
»Da ich nun einmal zugesagt habe, so werde ich auch kommen«, antwortete er trübe.
»Sei überzeugt, daß ich es zu schätzen weiß, und ich hoffe, du wirst es nicht bereuen«, antwortete Stepan Arkadjewitsch lächelnd.
Als er im Gehen den Überzieher anzog, stieß er dabei unversehens mit der Hand den Diener gegen den Kopf, lachte laut auf und ging hinaus.
»Um fünf Uhr, bitte, und im Oberrock!« rief er noch einmal, indem er zur Tür zurückkehrte.
9
Es war bereits zwischen fünf und sechs Uhr, und einige Gäste waren schon anwesend, als auch der Hausherr selbst erschien. Er trat zugleich mit Sergei Iwanowitsch Kosnüschew und Peszow ein, die sich an der Haustür getroffen hatten. Dies waren die beiden Hauptvertreter der Moskauer Intelligenz, wie Oblonski sie zu nennen pflegte. Beide erfreuten sich sowohl wegen ihres Charakters wie auch wegen ihres Verstandes allgemeiner Achtung. Auch achteten sie sich gegenseitig; aber es bestanden in fast allen Dingen zwischen ihnen die stärksten Meinungsverschiedenheiten, deren Überbrückung ganz aussichtslos erschien, nicht etwa weil sie beide entgegengesetzten Richtungen angehört hätten, sondern gerade weil sie sich zwar zu einer und derselben Partei hielten (von ihren Feinden wurden sie beide in denselben Topf geworfen), innerhalb dieser Partei jedoch ein jeder von ihnen seine besondere Schattierung hatte. Und da nichts einer Einigung hinderlicher ist als eine Meinungsverschiedenheit in halb abstrakten Dingen, so fanden sie sich nicht nur niemals mit ihren Meinungen zusammen, sondern sie hatten sich auch schon längst gewöhnt, einer über des andern unverbesserliche Verirrungen einfach zu lachen, ohne sich weiter zu ärgern.
Sie traten gerade, in einem Gespräche über das Wetter begriffen, in den Salon, als Stepan Arkadjewitsch sie einholte. Im Salon saßen schon Fürst Alexander Dmitrijewitsch Schtscherbazki, der junge Schtscherbazki, Turowzün, Kitty und Karenin.
Stepan Arkadjewitsch sah auf den ersten Blick, daß die Sache hier im Salon, solange er noch nicht anwesend war, einen schlechten Lauf nahm. Darja Alexandrowna, in ihrem grauseidenen Staatskleide, war offenbar in großer Unruhe sowohl wegen der Kinder, die allein in der Kinderstube essen mußten, wie auch wegen des Ausbleibens ihres Mannes und hatte es nicht verstanden, ohne ihn diese Gesellschaft hübsch durcheinanderzurühren. Alle saßen sie da wie Popentöchter auf Besuch (wie sich der alte Fürst ausdrückte), augenscheinlich in verständnislosem Staunen darüber, weshalb man sie eigentlich hierher geladen habe, und drückten ein paar Worte heraus, um nicht ganz stumm zu sein. Der gutmütige Turowzün hatte offenbar das Gefühl, daß er sich hier in einem Kreise befinde, in den er nicht hineinpasse, und das Lächeln seiner dicken Lippen, mit dem er Stepan Arkadjewitsch begrüßte, besagte so deutlich, wie es Worte nur gekonnt hätten: ›Aber hör mal, Bruder, da hast du mich ja mit gelehrten Leuten zusammengebracht! Mein Geschmack ist vielmehr: gehörig zu trinken und mich am Château des fleurs zu ergötzen!‹ Der alte Fürst saß schweigend da und warf manchmal mit seinen blitzenden kleinen Augen einen Blick zur Seite nach Karenin hin, und Stepan Arkadjewitsch merkte, daß er bereits irgendein Bonmot ersonnen hatte, um diesen hohen Staatsbeamten zu charakterisieren, der den eigens dazu eingeladenen Gästen wie ein feiner Sterlet vorgesetzt wurde. Kitty blickte nach der Tür und nahm alle ihre Kraft zusammen, um bei Konstantin Ljewins Eintritt nicht zu erröten. Der junge Schtscherbazki, der versehentlich Karenin nicht vorgestellt worden war, bemühte sich zu zeigen, daß ihn das in keiner Weise störe. Karenin selbst war, wie es in Petersburg bei einem Essen mit Damen Sitte ist, in Frack und weißer Binde, und Stepan Arkadjewitsch ersah an seinem Gesichte, daß er nur, um sein gegebenes Wort zu halten, gekommen sei und durch seine Anwesenheit in dieser Gesellschaft eine lästige Pflicht erfülle. Er war auch in erster Linie schuld an der eisigen Temperatur, die alle Gäste vor Stepan Arkadjewitschs Eintreffen in Erstarrung versetzt hatte.
Bei seinem Eintritt in den Salon bat Stepan Arkadjewitsch um Entschuldigung, erklärte, er sei von dem Fürsten N.N. (ein solcher Fürst diente ihm immer als Sündenbock, sooft er sich verspätete oder ganz ausblieb) aufgehalten worden, und brachte dann in einem Augenblick seine Gäste miteinander in Berührung. Er führte Alexei Alexandrowitsch und Sergei Kosnüschew zusammen und warf ihnen als Gesprächsthema die Russifizierung Polens hin, in die sie sich denn auch sogleich, ebenso wie Peszow, verbissen. Er klopfte Turowzün auf die Schulter, flüsterte ihm etwas Lächerliches zu und setzte ihn zu seiner Frau und dem Fürsten. Dann sprach er ein paar Worte mit Kitty darüber, daß sie heute besonders hübsch aussähe, und stellte den jungen Schtscherbazki Herrn Karenin vor. In einem Augenblick hatte er diese ganze Gesellschaft wie einen Teig derart durchgeknetet, daß der Salon einen sehr hübschen Anblick bot und die Stimmen munter und lebhaft durcheinanderklangen. Nur Konstantin Ljewin war noch nicht da. Aber das war ein wahres Glück; denn Stepan Arkadjewitsch hatte beim Betreten des Speisesaals zu seinem Schrecken bemerkt, daß der Portwein und der Sherry von Deprès und nicht von Löwe entnommen waren; er hatte darauf angeordnet, der Kutscher solle so schnell wie möglich zu Löwe geschickt werden, und wollte sich nun wieder in den Salon begeben.
Auf dem Seitengang traf er mit Konstantin Ljewin zusammen.
»Ich bin doch nicht zu spät gekommen?«
»Als ob du überhaupt jemals pünktlich sein könntest!« erwiderte Stepan Arkadjewitsch und faßte ihn unter den Arm.
»Hast du viele Gäste? Wer ist denn alles da?« fragte Ljewin mit unwillkürlichem Erröten und klopfte mit dem Handschuh den Schnee von seiner Mütze ab.
»Nur Familie und gute Bekannte. Kitty ist auch da. Komm nur, ich will dich mit Karenin bekannt machen.«
Stepan Arkadjewitsch war trotz seiner fortschrittlichen Gesinnung überzeugt, daß es einem jeden schmeichelhaft sein müsse, Karenins Bekanntschaft zu machen, und hatte deshalb seine besten Freunde mit diesem zusammen eingeladen. Aber augenblicklich war Ljewin außerstande, das Vergnügen dieser Bekanntschaft völlig zu würdigen. Er hatte Kitty nach jenem unauslöschlich in seinem Gedächtnisse haftenden Abende, an dem er mit Wronski zusammengetroffen war, nicht wiedergesehen, wenn er den kurzen Augenblick nicht rechnete, wo er sie auf der Landstraße erblickt hatte. In der Tiefe seines Herzens wußte er, daß er sie heute hier wiedersehen werde; aber um imstande zu sein, auch an anderes zu denken, hatte er versucht, sich einzureden, daß er es nicht wisse. Jetzt nun aber, wo er hörte, daß sie da sei, bemächtigte sich seiner eine solche Freude und zugleich eine solche Furcht, daß es ihm den Atem benahm und er das, was er sagen wollte, nicht herausbringen konnte.
›Wie wird sie sein? Wie wird sie sein? So, wie sie früher war, oder so, wie sie im Wagen war? Wie nun, wenn Darja Alexandrowna die Wahrheit gesagt hat? Und warum sollte es nicht die Wahrheit gewesen sein?‹ dachte er.
»Ach ja, bitte, stelle mich Herrn Karenin vor«, brachte er endlich mühsam heraus, trat mit dem Mute der Verzweiflung in den Salon und erblickte sie.
Sie war weder so wie früher noch so, wie sie im Wagen gewesen war; sie war eine ganz andere.
Sie war erschrocken, schüchtern, beschämt und dadurch noch reizender. Sie sah ihn sofort, als er ins Zimmer trat. Sie hatte auf sein Kommen gewartet. Sie freute sich über sein Kommen und wurde über ihre Freude so verlegen, daß es einen Augenblick, gerade als er zur Hausfrau herantrat und ihr wieder einen Blick zuwarf, ihr und ihm und Dolly, die alles beobachtete, schien, sie würde sich nicht beherrschen können und in Tränen ausbrechen. Sie errötete, erblaßte, errötete wieder und wurde dann ganz starr, nur ihre Lippen zuckten. So wartete sie auf seine Annäherung. Er trat zu ihr, verbeugte sich und streckte ihr schweigend die Hand hin. Wäre nicht das leise Zittern ihrer Lippen gewesen und der feuchte Schimmer, der ihre Augen überzog und ihren Glanz noch erhöhte, so hätte ihr Lächeln beinahe ruhig und gleichmütig ausgesehen, als sie sagte:
»Wie lange wir uns nicht gesehen haben!« Und mit einem verzweifelten Entschlusse drückte sie mit ihrer kalten Hand die seinige.
»Sie haben mich nicht gesehen, aber ich habe Sie gesehen«, erwiderte Ljewin mit strahlendem, glückseligem Lächeln. »Ich habe Sie gesehen, als Sie von der Eisenbahn nach Jerguschowo fuhren.«
»Wann denn?« fragte sie erstaunt.
»Auf Ihrer Hinreise nach Jerguschowo«, antwortete Ljewin, und es war ihm, als ob der Strom des Glücks, der seine Seele überflutete, ihn ersticken müßte. ›Wie habe ich es nur wagen können‹, dachte er, ›mit diesem rührenden Wesen den Gedanken an irgendwelches Verschulden zu verknüpfen! Ja, was Darja Alexandrowna gesagt hat, scheint wirklich die Wahrheit zu sein.‹
Stepan Arkadjewitsch ergriff ihn bei der Hand und führte ihn zu Karenin.
»Gestattet, daß ich euch miteinander bekannt mache!« Er nannte beider Namen.
»Es ist mir sehr angenehm, Ihnen wieder zu begegnen«, sagte Alexei Alexandrowitsch kühl und reichte Ljewin die Hand.
»Ihr kennt euch schon?« fragte Stepan Arkadjewitsch verwundert.
»Wir haben drei Stunden lang zusammen im Eisenbahnwagen gesessen«, versetzte Ljewin lächelnd, »trennten uns aber wie bei einem Maskenball, sehr neugierig, wer wohl der andere sein möge; wenigstens war das bei mir der Fall.«
»Ei so etwas! Aber wenn ich bitten darf«, sagte Stepan Arkadjewitsch und wies mit der Hand in der Richtung nach dem Speisesaale.
Die Herren begaben sich in den Speisesaal und traten an den Tisch mit den kalten Vorspeisen heran; dort standen sechs Sorten Liköre und ebenso viele Sorten Käse, teils mit kleinen silbernen Schaufeln, teils ohne solche, ferner Kaviar, Hering, allerlei Konserven und mehrere Teller mit Scheiben von Weißbrot.
Die Herren standen um die duftenden Liköre und Vorspeisen herum, und das Gespräch über die Russifizierung Polens, das Sergei Iwanowitsch Kosnüschew, Karenin und Peszow führten, verstummte in Erwartung des nun nahe bevorstehenden Mittagessens.
Sergei Iwanowitsch, der es wie kein anderer verstand, zum Zwecke der Beendigung des ernstesten Streites über die weltentrücktesten Gegenstände unerwartet etwas attisches Salz auszustreuen und dadurch die Stimmung der Streitenden zu verändern, befolgte diese Praxis auch jetzt.
Alexei Alexandrowitsch hatte zu beweisen gesucht, daß die Russifizierung Polens nur mit den höheren Verwaltungsgrundsätzen durchgesetzt werden könne, die von der russischen Regierung dort eingeführt werden müßten. Peszow hingegen hatte behauptet, ein Land könne nur dann ein anderes sich angleichen, wenn es selbst dichter bevölkert sei.
Kosnüschew hatte das eine wie das andere als richtig anerkannt, jedoch mit gewissen Einschränkungen. Als sie nun aus dem Salon in den Speisesaal gingen, sagte er, um das Gespräch abzuschließen, lächelnd:
»Darum gibt es für die Russifizierung fremder Völker nur ein Mittel: möglichst viele Kinder zu erzeugen. Sehen Sie, ich und mein Bruder, wir entwickeln auf diesem Gebiete schmählicherweise die allergeringste Tätigkeit. Aber Sie, die verheirateten Herren, und namentlich Sie, Stepan Arkadjewitsch, wirken im höchsten Grade vaterländisch. Wie viele haben Sie denn eigentlich?« wandte er sich freundlich lächelnd an den Hausherrn und hielt ihm ein winzig kleines Likörgläschen zum Füllen hin.
Alle lachten, besonders lustig Stepan Arkadjewitsch.
»Ja, das ist das beste Mittel!« versetzte er, indem er seinen Käse hinterkaute und eine besonders feine Sorte Likör in das hingehaltene Gläschen einschenkte. So wurde das Gespräch wirklich durch dieses Späßchen beendet.
»Dieser Käse ist nicht übel. Ist Ihnen nicht davon gefällig?« sagte der Hausherr. »Hast du wirklich wie der Gymnastik getrieben?« wandte er sich an Ljewin und befühlte mit der linken Hand dessen Armmuskel. Ljewin lächelte, straffte den Arm, und unter Stepan Arkadjewitschs Fingern erhob sich wie ein rundlicher Käse eine stahlharte Erhöhung unter dem feinen Tuche des Oberrockes.
»So ein Bizeps! Du bist ja ein wahrer Simson!«
»Ich glaube, daß man zur Bärenjagd große Kraft besitzen muß«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch, der von dieser Jagd nur eine sehr nebelhafte Vorstellung hatte. Er strich sich Käse auf ein Scheibchen Weißbrot und zerriß dabei die Krume, die so dünn wie ein Spinngewebe geschnitten war.
Ljewin lächelte.
»Keineswegs. Im Gegenteil, ein kleines Kind kann einen Bärentöten«, antwortete er und trat mit einer leichten Verbeugung vor den Damen zur Seite, die, von der Hausfrau geleitet, sich jetzt dem Tische mit den kalten Vorspeisen näherten.
»Sie haben einen Bären erlegt, wie mir gesagt worden ist?« redete ihn Kitty an; sie bemühte sich vergebens, einen widerspenstigen, immer wieder wegrutschenden Pilz mit der Gabel aufzuspießen, und schüttelte dabei ihre Spitzenmanschette, durch die ihre weiße Hand hindurchschimmerte. »Gibt es denn bei Ihnen Bären?« fügte sie hinzu und wandte in halber Drehung ihr reizendes Köpfchen lächelnd nach ihm hin.
In dem, was sie sagte, schien nichts Außergewöhnliches zu liegen; aber welch ein Sinn, den sie ihm durch Worte nicht hätte ausdrücken können, lag in jedem Laute, in jeder Bewegung ihrer Lippen, Augen und Hände, während sie das sagte! Es lag darin eine Bitte um Verzeihung und ein zuversichtliches Vertrauen und etwas wie ein zartes, schüchternes Streicheln, und ein Versprechen, und eine Hoffnung und Liebe zu ihm, eine Liebe, an der er nicht zweifeln konnte und die ihm vor Glückseligkeit den Atem benahm.
»Nein, wir sind nach dem Gouvernement Twer auf die Jagd gefahren. Auf der Rückkehr von dort traf ich im Eisenbahnwagen mit Ihrem Schwager zusammen oder vielmehr mit dem Schwager Ihres Schwagers«, antwortete er lächelnd. »Es war eine komische Begegnung.«
Und er erzählte lustig und humoristisch, wie er, nachdem er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, in seinem kurzen Schafpelz in Alexei Alexandrowitschs Abteil eingedrungen war.
»Der Schaffner wollte mich wegen meiner Kleidung hinausweisen; aber da fing ich an, mich in gebildeter Sprache auszudrücken und ... Auch Sie«, wandte er sich an Karenin, dessen vollständigen Namen er vergessen hatte, »auch Sie wollten mich zuerst wegen meines Schafpelzes hinausjagen; aber dann traten Sie für mich ein, wofür ich Ihnen sehr dankbar war.«
»Die Rechte der Reisenden auf die Wahl ihrer Plätze sind überhaupt nur sehr mangelhaft festgelegt«, versetzte Alexei Alexandrowitsch und wischte sich mit dem Taschentuche die Fingerspitzen ab.
»Ich sah, daß Sie über mich im unklaren waren«, sagte Ljewin mit gutmütigem Lächeln, »und darum beeilte ich mich, ein gebildetes Gespräch anzufangen, um meinen Schafpelz wieder wettzumachen.«
Sergei Iwanowitsch, der ein Gespräch mit der Hausfrau führte und mit einem Ohre nach seinem Bruder hinüberhorchte, schielte jetzt nach ihm hin. ›Was mit ihm heute nur ist? Ganz wie ein siegreicher Feldherr!‹ dachte er. Er wußte nicht, daß jenem zumute war, als seien ihm Flügel gewachsen. Ljewin wußte, daß sie seine Worte anhörte und gern anhörte. Nichts weiter als dieses eine interessierte und beschäftigte ihn. In diesem Zimmer, ja in der ganzen Welt lebten jetzt für ihn nur zwei Personen: er, der in seinen eigenen Augen eine gewaltige Bedeutung und Wichtigkeit erlangt hatte, und sie. Er fühlte sich auf einer Höhe, von der ihm schwindlig wurde, und irgendwo da unten, in weiter Ferne waren all diese guten, prächtigen Menschen, Karenin und Oblonski und die ganze übrige Welt.
Ganz unauffällig, ohne sie anzusehen, als ob er keinen andern Platz mehr wüßte, setzte Stepan Arkadjewitsch Ljewin und Kitty nebeneinander.
»Na, und du könntest dich ja etwa dorthin setzen«, sagte er zu Ljewin.
Das Essen war ebenso vorzüglich wie das Tafelgerät, wie denn für feines Tafelgerät Stepan Arkadjewitsch eine besondere Liebhaberei hatte. Die Suppe Marie Louise war ausgezeichnet gut geraten; die kleinen Pastetchen, die einem im Munde zergingen, waren tadellos. Zwei Lohndiener und Matwei, mit weißen Binden, walteten ihres Amtes beim Auftragen der Speisen und Einschenken der Weine unauffällig, leise und eifrig. In materieller Hinsicht war das Mahl entschieden wohlgelungen und nicht minder, was geistige Genüsse anlangte. Das Gespräch, das bald gemeinsam war, bald sich in Einzelunterhaltungen auflöste, verstummte keinen Augenblick und wurde gegen Ende der Mahlzeit so lebhaft, daß die Herren nicht einmal durch die Aufhebung der Tafel sich in ihrem Meinungsaustausch unterbrechen ließen und sogar Alexei Alexandrowitsch auftaute.