Loe raamatut: «Anna Karenina | Krieg und Frieden», lehekülg 52

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Am Hochzeitstage durfte Ljewin dem Brauche gemäß (auf der genauen Innehaltung aller Bräuche bestanden die Fürstin und Darja Alexandrowna mit großer Strenge) seine Braut nicht sehen und speiste in seinem Hotel zu Mittag, und zwar mit drei Junggesellen zusammen, die sich zum Teil zufällig zu ihm gefunden hatten. Dies waren: erstens Sergei Iwanowitsch; dann Katawasow, ehemals sein Kommilitone auf der Universität, jetzt Professor der Naturwissenschaften, den Ljewin auf der Straße getroffen und mit sich ins Hotel geschleppt hatte; und endlich Tschirikow, Friedensrichter in Moskau, Ljewins Genosse auf der Bärenjagd und jetzt sein Hochzeitsmarschall. Das Mittagessen gestaltete sich höchst vergnügt. Sergei Iwanowitsch war in heiterster Laune und hatte seine Freude an Katawasows eigenartigem Wesen. Sobald Katawasow merkte, daß seine Art Verständnis und Würdigung fand, begann er geflissentlich, sie zur Schau zu stellen. Tschirikow beteiligte sich fröhlich und gutmütig an jedem Gespräche.

»Wenn man so bedenkt«, sagte Katawasow und zog dabei nach einer Gewohnheit, die er sich auf dem Lehrstuhl zu eigen gemacht hatte, die Worte in die Länge, »was für ein hochbefähigter junger Mensch unser Freund Konstantin Dmitrijewitsch gewesen ist! Ich rede von jemand, der nicht hier ist; denn dieser Konstantin Dmitrijewitsch lebt nicht mehr. Auch liebte er damals, als er von der Universität abging, die Wissenschaft und interessierte sich für das Wohl der Menschheit; aber jetzt hat er die eine Hälfte seiner Fähigkeiten darauf gerichtet, sich selbst zu betrügen, und die andere, diesen Betrug zu rechtfertigen.«

»Einen entschiedeneren Gegner der Ehe als Sie habe ich noch nie gefunden«, sagte Sergei Iwanowitsch.

»Nicht doch, ich bin kein Gegner der Ehe. Ich bin nur für Arbeitsteilung. Leute, die nichts anderes hervorbringen können, die sollen Menschen hervorbringen; die übrigen aber sollen an der geistigen Bildung und dem Glück der Menschheit arbeiten. Das ist meine Auffassung. Unzählige versuchen, die beiden Berufsarten miteinander zu vereinigen; ich gehöre nicht zu diesen.«

»Wie glücklich werde ich sein, wenn ich einmal hören werde, daß Sie sich verliebt haben!« sagte Ljewin. »Bitte, laden Sie mich dann zu Ihrer Hochzeit ein.«

»Verliebt bin ich schon.«

»Ja, in den Tintenfisch. Weißt du«, wandte sich Ljewin zu seinem Bruder, »Michail Semjonowitsch schreibt eine Abhandlung über die Ernährung und ...«

»Na, richten Sie keine Verwirrung an! Aber es ist ja ganz gleichgültig, worüber ich schreibe. Die Hauptsache ist, daß ich wirklich den Tintenfisch liebe.«

»Aber der wird Sie nicht hindern, eine Frau zu lieben.«

»Der Tintenfisch würde mir nicht hinderlich sein, wohl aber die Frau.«

»Wieso denn?«

»Das werden Sie schon noch sehen. Sie lieben ja die Landwirtschaft und die Jagd; na, da passen Sie mal auf!«

»Heute war Archip hier und sagte, es gäbe in Prudnoje eine Unmenge Elentiere und zwei Bären«, sagte Tschirikow.

»Na, die müssen Sie also schon ohne mich schießen.«

»Das wird wohl nicht anders gehen«, erwiderte Sergei Iwanowitsch. »Und auch für die Zukunft kannst du nur der Bärenjagd Lebewohl sagen; da wird dich deine Frau nicht mehr hinlassen!«

Ljewin lächelte. Die Vorstellung, daß seine Frau ihn nicht werde auf die Jagd gehen lassen, hatte für ihn etwas so Angenehmes, daß er bereit war, für immer auf das Vergnügen zu verzichten, einen Bären wieder zu Gesichte zu bekommen.

»Aber schade ist es doch, daß diese beiden Bären ohne Ihre Mitwirkung erlegt werden sollen. Denken Sie wohl noch an das letztemal in Chapilowo? Das war eine wundervolle Jagd«, sagte Tschirikow.

Ljewin wollte ihm nicht den Wahn benehmen, daß es irgendwo ohne Kitty etwas Schönes geben könne, und antwortete deshalb nicht.

»Nicht ohne guten Grund hat sich doch dieser Brauch herausgebildet, vom Junggesellenleben förmlich Abschied zu nehmen«, meinte Sergei Iwanowitsch. »Mag sich einer bei seiner Verheiratung auch noch so glücklich fühlen, es tut ihm doch leid um seine Freiheit.«

»Gestehen Sie es nur ein: es ist Ihnen auch wohl so zumute wie dem Bräutigam bei Gogol, daß Sie am liebsten aus dem Fenster springen möchten?« neckte Tschirikow.

»Natürlich ist ihm so zumute; aber zugeben wird er es nicht!« sagte Katawasow und lachte laut auf.

»Nun, wie denken Sie darüber? Das Fenster ist offen. Fahren wir sofort nach Twer. Da ist eine Bärin, zu deren Lager wir ohne weiteres gehen können. Im Ernst, fahren wir mit dem Fünfuhrzug! Und die Leute hier in Moskau mögen anfangen, was sie wollen!« schlug Tschirikow lächelnd vor.

»Aber ich kann auf meine Ehre versichern«, erwiderte Ljewin lächelnd, »ein solches Gefühl des Bedauerns über den Verlust meiner Freiheit vermag ich in meiner Seele nicht zu finden!«

»Ja, in Ihrer Seele ist jetzt ein solcher Wirrwarr, daß Sie überhaupt nichts darin finden können«, entgegnete Katawasow. »Aber warten Sie nur ein Weilchen; wenn Sie da erst ein bißchen Ordnung hergestellt haben, dann werden Sie es schon finden!«

»Nein, wenn in meiner Seele ein Bedauern über den Verlust der Freiheit überhaupt vorhanden wäre, so würde ich es neben meinem Gefühle« (er mochte dem Spötter gegenüber nicht das Wort Liebe gebrauchen) »und neben meiner Glückseligkeit doch wenigstens ein klein bißchen empfinden. Aber ganz im Gegenteil, ich freue mich über diesen Verlust meiner Freiheit.«

»Schlimm, schlimm! Ein unheilbarer Kranker!« sagte Katawasow. »Na, wir wollen auf seine Genesung trinken oder ihm wünschen, daß auch nur der hundertste Teil seiner Zukunftsträume zur Wirklichkeit werden möge. Schon das wird ein Glück sein, wie es auf der Welt noch nie dagewesen ist.«

Bald nach dem Essen fuhren die Gäste weg, um sich noch zur Hochzeit umzukleiden.

Als Ljewin allein geblieben war und nochmals an die Gespräche dieser Junggesellen zurückdachte, legte er sich noch einmal die Frage vor, ob in seiner Seele dieses Gefühl des Bedauerns über den Verlust seiner Freiheit vorhanden sei, von dem sie gesprochen hatten. Er lächelte bei dieser Frage. ›Freiheit? Wozu habe ich Freiheit nötig? Das Glück besteht nur darin, daß ich liebe, daß ich wünsche, was sie wünscht, denke, was sie denkt; von Freiheit ist dabei nicht die Rede. Das, ja das ist das Glück!‹

›Aber kenne ich denn auch ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihre Gefühle?‹ flüsterte ihm auf einmal eine Stimme in seinem Innern zu. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, und er versank in Nachdenken. Und plötzlich überkam ihn ein sonderbares Gefühl. Angst und Zweifel ergriffen ihn – Zweifel an allem.

›Aber wenn sie mich nun nicht liebt? Wenn sie mich nur heiratet, um einen Mann zu bekommen? Wenn sie selbst nicht weiß, was sie tut?‹ fragte er sich. ›Vielleicht kommt sie erst, wenn sie mich geheiratet hat, zur Besinnung und sieht dann ein, daß sie mich nicht liebt und mich nicht hat lieben können.‹ Und nun kamen ihm sonderbare, ganz arge Gedanken über Kitty in den Kopf. Er war auf Wronski eifersüchtig wie vor einem Jahre, als ob jener Abend, an dem er sie mit Wronski zusammen gesehen hatte, erst gestern gewesen wäre. Er argwöhnte, daß sie ihm nicht alles gesagt habe.

Schnell sprang er auf. ›Nein, da muß etwas geschehen!‹ sagte er in Verzweiflung zu sich selbst. ›Ich will zu ihr gehen‹, sie fragen und zum letzten Male zu ihr sagen: ›Noch sind wir frei; ist es nicht das beste, noch jetzt haltzumachen? Alles ist besser als lebenslängliches Unglück, Schande und Untreue!‹ Mit Verzweiflung im Herzen und mit einer wahren Wut auf alle Menschen und auf sich selbst und auf Kitty verließ er sein Hotel und fuhr zu ihr.

Er fand sie in den hinteren Zimmern. Sie saß auf einem Koffer und gab dem Stubenmädchen irgendwelche Anweisungen; beide waren damit beschäftigt, Haufen verschiedenfarbiger Kleider zu durchsuchen, die auf den Stuhllehnen und auf dem Fußboden ausgebreitet lagen.

»Ah!« rief sie, als sie ihn erblickte; ihr ganzes Gesicht erstrahlte vor Freude. »Was bringst du, was bringen Sie?« (Noch bis zu diesen letzten Tagen nannte sie ihn bald du, bald Sie.) »Ein unerwarteter Besuch! Ich bin dabei, meine Mädchenkleider durchzusehen, wem ich jedes schenken soll ...«

»Soso! Das ist ja sehr hübsch!« sagte er und blickte finster nach dem Stubenmädchen.

»Geh hinaus, Dunjascha, ich werde dich nachher rufen«, sagte Kitty. »Was hast du?« fragte sie, sobald das Mädchen hinausgegangen war; sie redete ihn nun entschlossen mit du an. Sie hatte seine sonderbare, aufgeregte, finstere Miene bemerkt und einen Schreck darüber bekommen.

»Kitty, ich leide Qual. Ich kann das nicht allein ertragen«, sagte er in einem Ton, dem man die Verzweiflung anhörte; er war vor ihr stehengeblieben und blickte ihr flehend in die Augen. Er sah schon an dem liebevollen, offenen Ausdruck ihres Gesichtes, daß das, was er ihr von einem Auseinandergehen zu sagen beabsichtigte, keine Folge haben werde; aber es war ihm doch ein Bedürfnis, daß sie selbst ihm seinen Irrtum nehme. »Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß es noch Zeit ist. Es ist noch möglich, alles rückgängig zu machen und wieder in Ordnung zu bringen.«

»Was sagst du da? Ich verstehe dich nicht. Was hast du nur?«

»Mich quält das, was ich schon tausendmal gesagt habe und wovon ich nicht loskommen kann: daß ich deiner nicht würdig bin. Es kann nicht dein wahrer Wille gewesen sein, mich zu heiraten. Überlege es noch einmal. Du hast dich geirrt. Überlege es dir recht genau. Du kannst mich nicht lieben ... Wenn es so ist, dann sage es lieber.« Er sah sie bei diesen Worten nicht an. »Ich werde unglücklich sein. Mögen alle Menschen reden, was sie wollen; das ist immer noch besser als ein lebenslängliches Unglück ... Besser jetzt, solange es noch Zeit ist ...«

»Ich verstehe dich nicht«, antwortete sie erschrocken. »Heißt das, daß du zurücktreten willst? Daß es nichts werden soll?«

»Ja, wenn du mich nicht liebst.«

»Du hast den Verstand verloren!« rief sie und wurde rot vor Ärger. Aber sein Gesicht sah so kläglich aus, daß sie ihren Ärger unterdrückte; sie warf die Kleider von einem Stuhle herunter und setzte sich näher zu ihm heran. »Also, was hast du gedacht? Sage mir alles.«

»Ich glaube, daß du mich nicht lieben kannst. Womit könnte ich es denn verdienen, daß du mich liebtest?«

»Mein Gott, was soll ich nur tun?« sagte sie, in Tränen ausbrechend.

»Ach, was habe ich angerichtet!« rief er, fiel vor ihr auf die Knie und bedeckte ihre Hände mit Küssen.

Als die Fürstin fünf Minuten darauf ins Zimmer trat, fand sie das junge Paar schon vollständig versöhnt. Kitty hatte ihn nicht nur zu der Überzeugung gebracht, daß sie ihn liebe, sondern sogar in Beantwortung der Frage, weswegen sie ihn liebe, ihm die Gründe ihrer Liebe dargelegt. Sie hatte ihm gesagt, sie liebe ihn, weil sie ihn ganz verstehe und weil sie wisse, was er lieben müsse, und weil alles, was er liebe, gut sei. Und diese Begründung war ihm vollständig klar erschienen. Als die Fürstin zu ihnen hereinkam, saßen sie nebeneinander auf dem Koffer, durchsuchten die Kleider und stritten sich, weil Kitty das braune Kleid, das sie getragen hatte, als Ljewin ihr seinen Antrag machte, an Dunjascha verschenken wollte, Ljewin aber darauf bestand, dieses Kleid dürfe überhaupt an niemand weggegeben werden, und sie solle Dunjascha das blaue schenken.

»Aber daß du das nicht begreifen kannst! Sie ist ja brünett, und das wird ihr nicht stehen ... Ich habe mir das alles überlegt.«

Als die Fürstin hörte, warum er eigentlich gekommen war, wurde sie halb im Scherz, halb im Ernst böse und schickte ihn nach Hause, damit er sich umkleide und Kitty nicht beim Frisieren störe, da Herr Charles jeden Augenblick kommen müsse.

»Sie hat sowieso schon alle diese Tage über nichts gegessen und ein schlechtes Aussehen bekommen, und nun machst du ihr noch Unruhe mit deinen Torheiten«, sagte sie zu ihm. »Mach, daß du wegkommst, mach, daß du wegkommst, lieber Freund!«

Schuldbewußt und beschämt, aber beruhigt kehrte Ljewin in sein Hotel zurück. Sein Bruder, Darja Alexandrowna und Stepan Arkadjewitsch, alle bereits in voller Festkleidung, warteten schon auf ihn, um ihn mit dem Heiligenbilde zu segnen. Es war jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Darja Alexandrowna mußte noch einmal nach ihrer Wohnung fahren, um ihren Sohn abzuholen, der, schön pomadisiert und mit gebrannten Löckchen, dazu bestimmt war, das Heiligenbild vor der Braut herzutragen. Dann mußte der eine Wagen geschickt werden, den Hochzeitsmarschall zu holen, und der andere, mit dem Sergei Iwanowitsch fahren sollte, nachher zurückgesandt werden ... Überhaupt waren da viele höchst verwickelte Erwägungen nötig. Eins aber stand fest: daß man sich nicht lange aufhalten durfte, denn es war schon halb sieben.

Das Segnen mit dem Heiligenbilde war nicht sehr wirkungsvoll. Stepan Arkadjewitsch stellte sich in komisch feierlicher Haltung neben seiner Frau auf, nahm das Heiligenbild, hieß Ljewin sich bis zur Erde verneigen, segnete ihn mit einem gutmütigen, etwas spöttischen Lächeln und küßte ihn dreimal. Das gleiche tat dann auch Darja Alexandrowna und fuhr darauf schleunigst ab, nachdem sie vorher den für die Wagen festgesetzten Fahrplan schnell noch einmal wieder umgestoßen hatte.

»Nun, dann wollen wir es so machen: bringe du ihn in unserm Wagen hin, und Sergei Iwanowitsch ist wohl so gut, zum Hochzeitsmarschall zu fahren und uns nachher den Wagen zu schicken.«

»Schön, sehr gern.«

»Ich fahre sofort mit ihm hin. Ist dein Gepäck schon weggeschafft?« fragte Stepan Arkadjewitsch.

»Jawohl, jawohl«, antwortete Ljewin und befahl Kusma, ihm beim Ankleiden behilflich zu sein.

3

Eine große Volksmenge, namentlich aus Frauen bestehend, umgab das Tor der für die Trauungsfeier hell erleuchteten Kirche. Die nicht weit genug nach der Mitte hatten vordringen können, drängten sich um die Fenster und blickten, einander stoßend und sich zankend, durch deren Gitter.

Mehr als zwanzig Wagen bildeten bereits auf der Straße nach Anweisung der Schutzleute eine lange Reihe. Ein Polizeioffizier stand, ohne Rücksicht auf die starke Kälte, in glänzender Uniform ohne Mantel am Eingang. Unaufhörlich kamen noch mehr Wagen vorgefahren, und blumengeschmückte Damen, die Schleppen mit der Hand tragend, und Herren, die Uniformmützen oder die schwarzen Hüte abnehmend, traten in die Kirche ein. In der Kirche waren bereits beide Kronleuchter und sämtliche Kerzen vor den Heiligenbildern angezündet. Die goldenen Heiligenscheine auf dem roten Untergrunde des Ikonostas, das Silber der Kronleuchter und Armleuchter und die Fliesen des Fußbodens und die Teppiche und die Kirchenfahnen auf den Chorestraden und die Altarstufen und die alten, schwarz gewordenen Bücher und die Leibröcke und die Chorhemden – alles war von Licht übergossen. Auf der rechten Seite der Kirche, in dem bunten Gewühl von Fräcken und weißen Halsbinden, von Uniformen und samtenen und seidenen Damenkleidern, Haaren, Blumen, entblößten Schultern und Armen und hoch hinaufreichenden Handschuhen, wurden mit gedämpfter Stimme lebhafte Gespräche geführt, die in der hohen Kuppel einen seltsamen Widerhall erweckten. Jedesmal, wenn der kreischende Ton der sich öffnenden Kirchtür sich vernehmen ließ, verstummte das Gespräch in dem dichten Schwarm, und alle schauten sich um in der Erwartung, das eintretende Brautpaar zu erblicken. Aber die Tür hatte sich schon mehr als zehnmal geöffnet, und jedesmal war es entweder ein verspäteter Gast, Herr oder Dame, gewesen, der sich dann auf der rechten Seite zu der Gruppe der Eingeladenen gesellte, oder eine Zuschauerin, die den Polizeioffizier zu täuschen oder auch zu erweichen gewußt hatte und sich nun dem links stehenden Haufen der fremden Teilnehmer anschloß. Die Hochzeitsgesellschaft sowohl wie die Fremden hatten bereits alle Stufen der Erwartung durchgemacht.

Anfänglich hatte man gemeint, der Bräutigam und die Braut müßten ja jeden Augenblick kommen, und hatte dieser Verspätung weiter keine Bedeutung beigemessen. Darauf hatte man angefangen, immer häufiger nach der Tür hinzusehen und darüber zu reden, ob auch nicht etwas vorgefallen sei. Dann aber wurde diese Verspätung allmählich peinlich, und die Verwandten und Gäste suchten sich den Anschein zu geben, als dächten sie gar nicht an den Bräutigam und seien ganz mit ihren Gesprächen beschäftigt.

Der Protodiakon, wie um daran zu erinnern, daß seine Zeit kostbar sei, hustete ungeduldig, so daß die Fensterscheiben zitterten. Man hörte, wie auf der Chorestrade die gelangweilten Sänger bald ihre Stimme probierten, bald sich schneuzten. Der Geistliche schickte unaufhörlich bald den Küster, bald den Diakon hinaus, um nachzusehen, ob der Bräutigam noch nicht gekommen sei, und trat selbst in seinem lila Meßgewand mit dem gestickten Gürtel immer häufiger in Erwartung des Bräutigams an die Seitenpforte. Endlich sagte eine der Damen nach einem Blick auf die Uhr: »Das ist aber wirklich seltsam!« und alle Gäste gerieten in Unruhe und begannen ihrer Verwunderung und ihrer Unzufriedenheit lauten Ausdruck zu geben. Einer der Brautführer fuhr hin, um nachzuforschen, was denn vorgefallen sei. Unterdessen stand Kitty, schon längst völlig fertig, in weißem Kleide, langem Schleier und einem Kranze aus Orangenblüten, mit ihrer Schwester, Frau Lwowa, die als Brautmutter walten sollte, in dem Saale des Schtscherbazkischen Hauses, blickte durchs Fenster und wartete schon seit mehr als einer halben Stunde vergeblich darauf, daß ihr Brautführer ihr die Nach richt von der Ankunft des Bräutigams in der Kirche bringe.

Inzwischen ging Ljewin in Beinkleidern, aber ohne Weste und Frack, in seinem Hotelzimmer auf und ab, steckte alle Augenblicke den Kopf aus der Tür und blickte den Flur entlang. Aber von dem, den er erwartete, war auf dem Vorsaal nichts zu sehen, und verzweifelt mit den Armen in der Luft umherfahrend, wandte sich Ljewin zu Stepan Arkadjewitsch, der mit Seelenruhe rauchte.

»Ob sich wohl jemals ein Mensch in einer so entsetzlichen, albernen Lage befunden hat!« sagte er.

»Ja, es ist eine dumme Geschichte!« stimmte ihm Stepan Arkadjewitsch bei und lächelte ihn besänftigend an. »Aber beruhige dich; er wird es ja den Augenblick bringen.«

»Jawohl, er wird!« versetzte Ljewin, seine Wut kaum zurückhaltend. »Und diese albernen ausgeschnittenen Westen! Es ist unmöglich!« sagte er, indem er das zerknitterte Vorderteil seines Hemdes betrachtete. »Und wenn nun das Gepäck schon nach der Bahn gebracht ist, was dann?« rief er in heller Verzweiflung.

»Dann ziehst du das von mir an.«

»Das hätte ich schon längst tun sollen.«

»Habe dich doch nicht so komisch! ... Warte nur, es zieht sich alles zurecht.«

Die Sache war nämlich folgende: Als Ljewin sich zur Trauung anziehen wollte, hatte ihm sein alter Diener Kusma Frack, Weste, und was sonst nötig war, hereingebracht.

»Aber wo hast du das Hemd?« hatte Ljewin gerufen.

»Das Hemd haben Sie ja an«, hatte Kusma mit ruhigem Lächeln erwidert.

Ein reines Hemd zurückzulassen, daran hatte Kusma gar nicht gedacht, und als ihm befohlen worden war, alles einzupacken und zu Schtscherbazkis zu schaffen, von wo das junge Paar am Abend dieses Tages abreisen sollte, da hatte er es auch so gemacht und alles mit Ausnahme des Frackanzuges eingepackt.

Aber das Hemd, das Ljewin am Morgen angezogen hatte, war schon zerknittert, und Ljewin konnte es zu der modisch ausgeschnittenen Weste unmöglich tragen. Zu Schtscherbazkis zu schicken, war ihm zu weit erschienen. Er hatte nach einem Geschäft geschickt, um ein Hemd kaufen zu lassen. Der Kellner war unverrichteter Sache zurückgekommen: es sei alles geschlossen, wegen des Sonntags. Dann war in Stepan Arkadjewitschs Wohnung geschickt worden; ein Hemd war gebracht worden; aber es war viel zu weit und zu kurz. Schließlich hatte er doch zu Schtscherbazkis geschickt, um die Sachen wieder auspacken zu lassen. In der Kirche wartete man auf den Bräutigam; aber der lief, wie ein in einen Käfig eingesperrtes wildes Tier, im Zimmer hin und her, blickte alle Augenblicke auf den Flur hinaus und fragte sich in Erinnerung an die Torheiten, die er heute zu Kitty gesagt hatte, voll Entsetzen und Verzweiflung, was sie jetzt wohl von ihm denken möge.

Endlich stürzte Kusma, der dies alles verschuldet hatte, keuchend und atemlos mit dem Hemd ins Zimmer.

»Ich habe es gerade noch abgefaßt. Der Spediteur war schon dabei, die Sachen aufzuladen«, berichtete Kusma.

Drei Minuten darauf lief Ljewin, ohne nach der Uhr zu sehen, um seine Herzenswunde nicht noch mehr aufzureißen, den Vorsaal entlang.

»Damit kannst du nichts mehr gutmachen«, sagte lächelnd Stepan Arkadjewitsch, der ihm rasch, aber ohne übermäßige Hast folgte. »Es zieht sich alles zurecht, sage ich dir; es zieht sich alles zurecht.«

Žanrid ja sildid
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