Die Grenze

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Die Grenze
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Leon Grüne

Die Grenze

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Teil

1

2 Zwanzig Jahre später

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

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2. Teil

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3. Teil

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59

60

4. Teil

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62

63

64

65 Eine Woche später

Impressum neobooks

Prolog

Herzrasen. Gänsehaut. Schwitzen. Paranoia. Klamm. Schauer. Oder allgemein gesagt: Angst. Was genau ist Angst? Was löst sie aus? Wie kann man mit ihr umgehen? Kann man die Angst als Solches überhaupt definieren? Aber vor allem: Ist die Angst überhaupt etwas Reales? Verurteilen Sie mich nicht, aber ist Angst nicht im Grunde genommen das Denken an ein meist unwahrscheinliches, fiktives Ereignis in der Zukunft und somit nichts weiter als eine bloße Was-Wäre-Wenn-Konstruktion in unserem Kopf? Genau wie wir uns mit dem Alter entwickeln und dazulernen, entwickelt sich auch unsere Angst weiter und lernt mit der Zeit dazu. Sie ist nichts Starres oder ein durch Normen festgelegtes Konzept, welches bei jedem Menschen die gleiche Anwendung findet. Sie ist viel mehr ein starkes und denkendes Individuum, welches in uns lebt und einen bemerkenswerten Einfluss auf uns hat. Unsere Angst prägt das Leben, das wir haben, wie nichts anderes.

Erinnern Sie sich einmal an Ihre Kindheit zurück. Wovor hatten Sie Angst? Vor Vampiren, Werwölfen und Monstern mit rasiermesserscharfen Zähnen und riesigen Klauen, nicht wahr? Und wovor haben Sie jetzt Angst? Vor Insolvenz, beruflicher Instabilität, Inflationspreisen und der eigenen Unzulänglichkeit. Ich denke, Sie wissen, worauf ich hinaus will. Schlussendlich definiert sich der Mensch über die Entscheidungen, die er trifft. Und im Endeffekt liegt jeder Entscheidung, die wir treffen, eine bestimmte Angst zugrunde. Diese muss nicht einmal zwangsläufig von enormer Präsenz oder besonderem Schrecken sein, um einen Einfluss auf unsere Handlungen zu haben.

Die Angst, die man wirklich üblicherweise als solche definiert, ist eine gänzlich andere. Es ist das Herzrasen, das man empfindet, wenn man nachts als Kind im Bett liegt und glaubt, ein Monster, das einen jede Sekunde mit Haut und Haaren fressen könnte, würde unter dem Bett liegen. Es ist die Paranoia, die man nach dem Ansehen eines Horrorfilms empfindet und einen dazu bringt, sich fast kontinuierlich nach allen Richtungen umzusehen um festzustellen, dass man tatsächlich alleine ist. Es ist der Schauer, der einem über den Rücken läuft, wenn man ein Geräusch, welches man sich nicht erklären kann, in der Dunkelheit hört.

Die eigentliche Angst ist immer darauf aufgebaut, sich selbst in einer potenziellen Gefahr zu sehen. Das Fiktive in diesem Szenario nehme ich mir aus dem Grund heraus, dass ich der festen Überzeugung bin, dass die einzige Angst, die wir haben, die vor der unbekannten Gefahr ist. Jede andere ist eine Angst im Luxus, die uns weder die ganze Nacht lang wachhält, noch uns die Haare zu Berge stehen lässt. Doch trotz der Entwicklung unserer Angst, die sie von der Angst der Fiktion zu der Angst des Luxus nimmt, bleibt eine Angst unveränderlich und allzeit gegenwärtig. Die Angst, dass die Monster, die wir unser Leben lang gefürchtet haben, im Endeffekt nicht bloß fiktiv, sondern erschreckend real sind.

1. Teil

Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.

- Aristoteles

Leben und Tod sind eins,

Sowie der Fluss und das Meer eins sind.

Traut den Träumen,

Denn in ihnen ist das Tor zur Ewigkeit verborgen.

Khalil Gibran

Ain’t that a shame

My tears fell like rain

Ain’t that a shame

You’re the one to blame

- Fats Domino

 

Hit the road, Jack

And don’t you come back

No More, No More, No More, No More

Ray Charles

1

Es war der Morgen eines ganz normalen, kalten Sonntags im Dezember, an dem es passierte. Wie jeden Sonntag machten Benjamin und Kris mit ihren Eltern einen Ausflug zu dem großen See, der etwa zwei Kilometer entfernt von ihrem Haus lag, um eine halbe Stunde dort spazieren zu gehen. Eigentlich war es nicht anders als an den bisherigen Sonntagen, die sie mit einem Spaziergang begannen. Vorneweg lief Kris mit seiner Mutter, um sich über die Schule und alles andere zu unterhalten, das seinen Vater nicht interessieren würde. Dahinter liefen Benjamin und sein Vater, die sich über die Weltwirtschaft, die aktuellen Börsenkurse und wie Frederick Christ Trump es schaffte, zum Multimillionär aufzusteigen, austauschten. Alles Themen, die ihn in den Augen seines eigensinnigen Herrn Vaters interessieren mussten, um tatsächlich etwas aus dem eigenen Leben machen zu können.

Nur ein Leben in Wohlstand ist ein gutes Leben, war sein Leitmotiv. Er selbst war ein großer Unternehmer in der Tierfuttermittelbranche. Ihm gehörten mehrere Firmen, die von den Landwirten beauftragt wurden, Futter zu liefern, welches Schweine und Rinder besonders gut und schnell mästete, Kühe mehr Milch produzieren ließ und das alles mit möglichst günstigen und oft auch mehr als unmoralischen Methoden. Es war kein sauberes Geschäft, das unbedingt zur Nachhaltigkeit und der bioökologischen Landwirtschaft beitrug, aber es war ein Geschäft, das sich rentierte, und nur darauf kam es an. Die „Food for Food Corporation“, wie sich das Unternehmen seines Vaters nannte, wurde bereits mehrfach für ihre Arbeit und das offensichtlich rein ökonomische Image kritisiert, aber das störte seinen Vater nicht weiter, denn dies waren in seinen Augen bloß die eifersüchtigen Stimmen der schlecht verdienenden Menschen, die mit ihrer Gutmenschlichkeit niemanden außer sich selbst beeindrucken konnten. Er sorgte sich nicht um Nachhaltigkeit, den Gedanken an eine saubere Umwelt oder qualitativ hochwertiges Bio-Fleisch von Tieren aus artgerechter Haltung. Das, was für ihn wichtig war, war nicht die Vorstellung einer sauberen Umwelt, annehmbare Lebensstandards für künftige Generationen oder der Erhalt gefährdeter Tierarten. Sein Geld, sein Wohlstand und seine Ideologie waren die wichtigen Punkte, die zu jeder Zeit erhalten werden mussten. Abschweifungen oder gar Änderungen unerwünscht. Und aus diesem Grund gingen die vier auch an diesem kühlen Sonntagmorgen, wie jede andere Woche auch, in der üblichen Formation um den See herum.

Geräuschvoll knirschte der Schnee unter Kris Winterstiefeln. Die gesamten letzten Tage hatte es stark geschneit und die Landschaft in ein weißes Wunderland verwandelt. Doch am heutigen Morgen war es wärmer geworden, und die weiße Landschaft begann, sich langsam zu lichten und in dem Licht der Sonne dahinzuschmelzen. Kris‘ Mutter trug einen roten Wintermantel, der ihr bis zu den Knien reichte, sowie einen Pelzhut, der einen stark an die typisch russische Winterkleidung erinnerte. Sie war wunderschön, dachte Kris, als er seiner Mutter ein Lächeln zuwarf, welches sie bedingungslos erwiderte. Im Gegensatz zu seinem Vater war sie ein wahrer Engel auf Erden, den nichts erschüttern konnte. Sie war wie der Fels in der Brandung, der für alles und jeden einen starken Rückhalt bildete und sowohl den Schmerz als auch die Trauer, die bei ihr ausgelassen wurde, wie ein professioneller Seelsorger abfederte. Für Kris war sie die stärkste Frau der Welt, aber das war jede liebende Mutter für ihre Kinder.

Einige Meter hinter ihnen flachte die Stimmung jedoch ab. Kris verstand nicht viel von dem Gespräch zwischen seinem großen Bruder und seinem Vater, aber das, was er hörte, war nichts Erfreuliches. Wie so oft schien Benjamin sich wieder einen Vortrag über den aktuellen Aktienkurs und sinnvolle Investments der Zukunft anhören zu müssen.

„...das Gold liegt in den Immobilien. Mit ihnen wirst du dir ein Vermögen aufbauen können, von dem die meisten nur träumen können. Frederick Trump hat das erkannt und so angefangen sein Geld zu machen. Seine Mutter musste sein Unternehmen gründen, weil er noch zu jung dafür war, aber er hat Rückgrat und Können bewiesen und ist zu dem geworden, was er jetzt ist. Ich meine, sieh dir nur an wie ...“

So ging das Gespräch – eher der Monolog seines Vaters – pausenlos weiter und mit jedem Wort, das von den beiden zu ihm nach vorne durchdrang, war Kris ein Stück weit glücklicher, dass er nicht sein Bruder war.

„Was ist eigentlich mit diesem Mädchen, mit dem du dich triffst?“, fragte seine Mutter schmunzelnd. Vollkommen perplex und auch mit einer gewissen Röte stierte er sie an.

„Wie kommst du darauf?“, fragte er überfordert und versuchte seine Unschuld hinter einem verlegenen Lachen zu verbergen. Er war jetzt fünfzehn Jahre alt und zum ersten Mal richtig verliebt in ein Mädchen, das gemeinsam mit ihm in eine Klasse ging.

„Du hast dich noch nie so oft mit deinen Freunden verabredet wie in den letzten zwei Monaten, und du besetzt andauernd das Telefon“, sagte sie und lächelte ihn verschmitzt an. Im Gegensatz zu Benjamin wurde Kris nicht von allen Freuden und Freizeitaktivitäten isoliert, um sich den wichtigen und intellektuellen Dingen hinzugeben. Es war nicht notwendig, dass auch er auf ein so erfolgsorientiertes Leben geprägt werden würde, wenn Benjamin es bereits wurde. Man brauchte schließlich keine zwei Thronerben. Da war es in Ordnung, wenn die „Vertretung“ des Haupterben nicht demselben Ideal entsprechen würde. Verdutzt und mit einem nervösen Lächeln senkte er den Blick auf die Kieselsteine, die vor ihm auf dem Weg lagen.

„Aber das muss doch nicht zwangsläufig bedeuten, dass ... nun ja, dass es da jemanden gibt“, versuchte er sich verlegen rauszureden.

„Ich bin deine Mutter. Du kannst mir nichts vormachen.“

Sprachlos und überfordert kratzte er sich am Hinterkopf.

„Wie heißt sie denn?“

„Mia“, antwortete er nach anfänglichem Zögern und sein nervöses Lächeln verlor mit einem Mal jede Spur von Verlegenheit.

In diesem Moment liebte er seine Mutter noch mehr, als ohnehin schon und war glücklich, dass er endlich kein Geheimnis mehr aus seiner heimlichen Schwärmerei machen musste. Jeder, der Ähnliches schon einmal erlebt hatte, kannte das Gefühl von Erleichterung und Zuneigung, das einen überkam, wenn man das erste Mal vor seiner Mutter von dem Mädchen zu schwärmen begann, mit welchem man sich eine schöne Zukunft erträumte. Es war kein Gefühl, das man mit Leichtigkeit beschreiben oder in Worten präzise ausdrücken konnte. Man müsste ein eigenes Wort erfinden, das die Emotionen und die Gedanken, die in diesem Moment über einen selbst hineinbrechen, beschreiben könnte, doch es gab kein Wort, welches so viele Gedanken zusammenfassen könnte.

„Wie ist sie so?“, löcherte seine Mutter ihn gnadenlos.

„Sie ist ...“, begann Kris glücklich, aber wurde just von seinem Vater unterbrochen, der hinter ihnen zu brüllen anfing.

„Was machst du denn da?!“, tönte die laute wütende Stimme seines Vaters empört.

„Sie sind da! Siehst du sie nicht? Da auf dem See!“, entgegnete Benjamin aufgeregt und versuchte, sich von seinem Vater loszureißen, der ihn am Arm gepackt hatte. In Sekundenschnelle hatten Kris und seine Mutter sich zu ihnen herumgedreht und sahen das groteske Schauspiel, das sich gut dreißig Meter hinter ihnen vollzog. Wie ein Wahnsinniger zog Benjamin an dem Arm seines Vaters, um ihn näher an den See zu bringen, und wurde gleichzeitig von diesem festgehalten, dass er nicht wegrennen konnte.

„Hör sofort auf mit dem Unsinn!“, brüllte er seinen Sohn an und riss ihn gewaltsam einen halben Meter zurück.

„Sie rufen mich Vater, hörst du es nicht?“, redete Benjamin unbeeindruckt weiter vor sich hin. Neben Kris und seiner Mutter kam ein Jogger zum Stehen und beobachtete die Szene aufmerksam.

„Ich warne dich Benni, wenn du nicht sofort aufhörst, dann stecke ich dich bis an dein Lebensende in die Psychiatrie!“

„Sieh doch, Vater, wie sie mir zuwinken. Sieh doch, wie sie sich freuen, dass wir zu ihnen kommen.“

„Du kommst nur noch in eine Gummizelle, so, wie du mich hier zum Affen machst! Du bist ja vollkommen wahnsinnig!“, erwiderte sein Vater aggressiv.

Geschickt drehte Benjamin sich so aus dem eisernen Griff seines Vaters heraus, dass dieser lang hinschlug und sich die Wange an einem scharfkantigen Stein, der auf dem Weg lag, aufschnitt.

„Hörst du nicht ihr liebliches Lachen? Siehst du nicht, wie sie mich zu sich winken?“, fragte Benjamin und begann auf den zugefrorenen See zu gehen.

„Bleib sofort stehen!“, brüllte sein Vater schwer atmend und versuchte, sich auf dem rutschigen Boden aufzurichten. Seine gesamte Kleidung war beschmutzt mit Erde, und einige Wasserflecken von dem geschmolzenen Schnee prangten auf seinem Mantel wie Flecken von verspritzter Tinte. Ein altes Ehepaar ging beschämt an ihm vorbei und versuchte den Blick bestmöglich auf etwas anderes zu richten. Aus irgendeinem Grund schien der Kies, auf dem sie gingen, besonders interessant geworden zu sein.

„Benni nein!“, brüllte nun auch seine Mutter panisch. Der Schock des Unerwarteten hatte Kris so stark getroffen, dass er immer noch unfähig zu sprechen oder sich zu bewegen auf der Stelle verharrte. Hinter Benjamin begannen sich Risse auf der dünnen Eisschicht des Sees zu bilden. Etwa fünfzig Meter fehlten ihm noch, dann wäre er in der Mitte des Sees angelangt.

„Führt mich, ihr wundersamen Lichtgestalten. Nehmt mich mit euch ins Paradies“, rief er voller Freude und mit einem Strahlen, das sich über sein ganzes Gesicht ausbreitete.

„Junge, komm zurück!“, brüllte sein Vater zornig, aber auch mit Sorge in der Stimme. Scheinbar verbarg sich hinter dem harten Kern in seiner Brust doch noch ein Hauch von väterlicher Liebe für sein eigen Fleisch und Blut. Mit einem Mal blieb Benjamin kurz vor der Mitte des Sees stehen und schaute fasziniert in den Himmel.

„Kris! Mutter! Seht ihr sie? Seht ihr nicht auch Aphrodite? Seht ihr, wie sie uns den Weg ins Paradies zeigen will? Seht ihr sie?“, rief er laut und zeigte hüpfend vor Freude in das blaue unendliche Nichts des klaren Himmels.

„Benni, komm wieder her!“, schrie sie ängstlich. Die Risse in dem Eis wurden mit jedem Sprung, den Benjamin machte, größer und bedrohlicher. Von diesem Moment an spielte sich Kris Erinnerung an diesen Morgen nur noch wie in Zeitlupe ab. Abrupt hörte Benjamin auf zu springen und warf seiner Mutter ein warmes Lächeln zu. Eine Träne rollte über ihre Wange und fiel lautlos auf den matschigen Kiesweg unter ihren Füßen. In einiger Entfernung machte Kris Vater einen Schritt aufs Eis, um zu Benjamin zu gelangen und ihn vom Eis wieder herunterzuholen. Dann passierte das, was sich von der ersten Sekunde an, in der er auf den See gerannt war, angebahnt hatte, und das Eis begann mit einem deutlich hörbaren Knacken unter seinen Füßen zu brechen. Noch ehe Kris oder seine Eltern realisieren konnten, was passiert war, versank Benjamin in sein dunkles, kühles Wassergrab. Das Einzige, woran Kris sich später noch erinnern konnte, war, dass er Minuten später, als die Rettungskräfte kamen, glaubte, ein paar Lichterkugeln über der Stelle tanzen zu sehen, an der sein Bruder versunken war.

2 Zwanzig Jahre später

In der Nacht vom 20. auf den 21. September gingen die Sirenen. Ungestört raste der Rettungswagen über die leeren Straßen auf dem Weg zu dem Einfamilienhaus, aus dem der Hilferuf des völlig aufgewühlten Vaters eingegangen war. Doch an diesem Abend, so wie an vielen folgenden Abenden, lärmten die Sirenen des Rettungswagens vergeblich, denn der Junge war bereits tot.

3

Dulingen war eine glanzlose Stadt. Sie war weder für ihre vielfältigen Einkaufs- oder Shoppingmöglichkeiten bekannt, noch konnte sie mit einer besonders interessanten Geschichte dienlich sein. Dulingen war ein Nichts. Dulingen war Staub und Ziegel. Im Mittelalter einmal war sie kurz davor, zu einer Grafschaft aufzusteigen und ein nicht grade unbedeutender Handelspartner von Karl IV. zu werden, aber das war auch schon alles, was es Interessantes zu sagen gab. Die Pest, auch bekannt als schwarzer Tod, verwehrte den Dulingern jedoch die Möglichkeit des Aufstiegs. Denn durch die Krankheit halbierte sich die Bevölkerung in der Mitte des 14. Jahrhunderts, und sie verlor sowohl Land, als auch Einfluss und Ressourcen. Inzwischen ist Dulingen zu einer Kleinstadt mit knapp fünftausend Einwohnern, einer weiterführenden Gesamtschule, einem Supermarkt, einem eigentlich viel zu kleinen Sportplatz mit einer Aschelaufbahn, einer veralteten Turnhalle, reichlich Kleinkrämerläden und einem US-amerikanischen Automobilzulieferer, der dort einen seiner vielen Auslandsstandorte bezog, geworden. Nicht mehr als ein unauffälliger Fleck auf der Landkarte zwischen Barsinghausen und Springe, den man nur beim genauen Hinsehen entdecken würde. Alles in allem war es eine ziemlich charme- und reizlose Kleinstadt, die man möglichst schnell hinter sich lassen wollte.

 

Die Menschen in Dulingen waren, grob zusammengefasst, zum Großteil junge Erwachsene und frisch gebackene Eltern, die auf der Suche nach einer nicht allzu teuren, aber trotzdem halbwegs annehmbaren Wohngelegenheit dort gelandet waren. Man könnte es ebenso gut als Stadt der gescheiterten Träume bezeichnen, denn die meisten, die nach Dulingen zogen, wollten das große Glück oder noch besser das große Geld machen und recht schleunigst wieder verschwinden, nachdem sie erfolgreich geworden wären. Doch die Zahl derjenigen, die es tatsächlich aus Dulingen geschafft und das große Geld gemacht hatten, war so gering, dass man sie sogar an einer Hand abzählen konnte, die einem Mann – oder auch einer Frau, wenn sie so wollen – gehörte, die bereits den Zeige- und Mittelfinger hätte einbüßen müssen.

Im März 1992 gelang Christopher Herzig sein endgültiger Durchbruch in seiner jungen Schauspielkarriere, und er wurde für die Hauptrolle eines Filmes engagiert, bei dem der berühmte Wim Wenders Regie führen sollte. Dabei war Wenders so begeistert von ihm, dass er ihn einen Vertrag für vier weitere Filme unterschrieben ließ, die er auf die internationale Bühne bringen wollte. Die Gage des ersten Filmes reichte aus, dass die Bank ihm einen Kredit gewährte, der ihm den Kauf eines eigenen Hauses in einem Vorort von Berlin erlaubte. Noch während der Dreharbeiten des ersten Filmes starben seine Eltern, und er verfiel in eine schwere Depression, die ihn schließlich in den Suizid trieb, indem er sich vor den Zug warf. Genau genommen war er also nie wirklich aus Dulingen weggekommen, denn er hatte zwar das Haus, in das er ziehen wollte, schon gekauft, aber umgezogen war er noch nicht. Doch auch die anderen beiden hatten Dulingen nie tatsächlich verlassen.

Melvin Stiehl erbte 2004 von seinem verstorbenen Vater ein Haus an der Nordsee, sowie mehrere tausend Euro, mit denen er sich an der Küste ein neues Leben aufbauen wollte. Doch er hatte nicht nur die schönen Dinge im Leben von seinem Alten vererbt bekommen, sondern auch einen Herzfehler, der ihm, kurz nachdem er sein neues Heim betreten hatte, den Gnadenstoß gab.

Der Letzte der drei, Georg Kempf, war ein junger Mann, welcher im Juni 2006 seine Verlobte geheiratet hatte und sich entschloss, zu ihr nach Göttingen zu ziehen. Als er auf der Autobahn einen LKW überholte, raste ihm ein neunzehnjähriger Bursche schräg von hinten in das Heck, sodass sein Wagen sich mehrmals überschlug, wobei er sich nicht nur seine Arme und Beine, sondern auch sein Genick brach. Zwar wurde der Raser wegen seiner Teilnahme an illegalen Straßenrennen für sieben Jahre in den Bau geschickt, aber auch das brachte das verunglückte Ehepaar nicht wieder unter die Lebenden.

Man konnte also sagen, dass Dulingen nicht, wie viele es wollten, ein Ort auf der Durchreise, sondern ein Ort für das gesamte Leben vor und nach dem Tod sei. Es war, als wenn der Ort die Menschen verschluckte und nicht wieder freigab. Nicht einmal nach ihrem Tod waren die drei aus Dulingen herausgekommen. Man hatte sie allesamt auf dem christlichen Friedhof von Dulingen, unweit der Kirche, beerdigen lassen.

„Sieh einer an. Schon wieder eine verlorene Seele“, witzelten die Ortsälteren jedes Mal, wenn sie ein neues junges Paar in der Stadt sahen, ohne zu wissen, wie Recht sie im Endeffekt damit hatten.

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