Loe raamatut: «Fronten»
Leonhard F. Seidl, geboren 1976 in München, ist Schriftsteller und Sozialarbeiter. Er hat zahlreiche Preise und Stipendien erhalten, u. a. für seine Arbeit »Beschriebene Blätter – kreatives Schreiben mit straffälligen Jugendlichen«, wofür er freiwillig im Knast saß. Für Fronten bekam Seidl mehrere Stipendien, u. a. war er Stipendiat der Romanwerkstatt Literaturforum im Brecht-Haus sowie der Bayerischen Akademie des Schreibens im Literaturhaus München. Mit dem Roman Mutterkorn (Kulturmaschinen, 2011) debütierte er, darauf folgten die Kriminalromane Genagelt (Emons, 2014) und Viecher (Emons, 2015). Seidl ist Mitglied des PEN.
Leonhard F. Seidl
Fronten
Kriminalroman
Inspiriert durch einen realen Fall im oberbayerischen Dorfen
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus GmbH 2017
Originalveröffentlichung
Erstausgabe September 2017
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
Druck und Bindung:
CPI – Clausen & Bosse, Leck
1. Auflage
eISBN 978-3-96054-051-9
Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.
Mark Twain
Freitag, 4. März 2016
Auffing (Oberbayern)
Ayyub Zlatar
Weil ihn der Schnee zu sehr blendet, sind die Rollos immer noch geschlossen. Trotzdem kneift er die Augen zusammen.
Er hört, wie das Auto beschleunigt, wie immer an dieser Stelle, um dann wieder zu bremsen, falls oder weil durch das Tor ein Auto entgegenkommt. Tacka, tacka, tacka, rollen die Reifen über das Kopfsteinpflaster, das versickerte Salz des Schneeräumers. Dem roten Pfeil ist unbedingt Folge zu leisten, nicht falls oder weil, sondern immer. Das gilt auch für den Agenten des Geheimdienstes, will er nicht auffallen. Und er will nicht auffallen, was aber nichts daran ändert, dass Ayyub ihn erkennt.
Im Gegensatz zu dem schwarzen Pfeil bedeutet der rote Pfeil, dass man in der Defensive ist. Wie er seit Monaten, seitdem sie hinter ihm her sind. Wenn man den schwarzen Pfeil inmitten des roten Kreises auf seiner Seite hat, dann ist man der Angreifer, auf dem Vormarsch, ohne Rücksicht auf Verluste. Verluste fährt man ein, wenn man auch nur eine Sekunde unaufmerksam ist, zurückblickt. Wenn man sie aus den Augen verliert oder nicht ausreichend bewaffnet ist. Seitdem er weiß, dass sie hinter ihm her sind, hat er sich Waffe um Waffe besorgt, Schuss um Schuss. Er ist ausgebildet. Hat Sonntag um Sonntag Schießübungen durchgeführt. Sein Beitrag zum Krieg. Damals hatten die dunklen Mächte noch nicht erkannt, dass er ihnen ebenfalls gefährlich werden konnte. Jetzt ist es zu spät. Auch für die Agenten des Landratsamtes, die mit dem Geheimdienst zusammenarbeiten und ihn seit Wochen gängeln. In einem elfseitigen Brief hat er ihnen erklärt, warum er die Waffen braucht. Dringend braucht. Er dachte, die deutsche Behörde wäre noch nicht von feindlichen Agenten durchsetzt. Sie wollen, dass er sich nicht mehr verteidigen kann, sie hätten lieber die Angreifer entwaffnen sollen, dann hätte er sich nicht bewaffnen müssen. Der Krieg ist auch hier ausgebrochen.
Das Auto auf der Straße, weder Verteidiger noch Angreifer. Und doch Angreifer. Es bremst zu früh, beschleunigt dann aber nicht mehr. Parkt. Türen schlagen zu.
Er widersteht dem Impuls, das Rollo ein wenig hochzuziehen, um durch die kleinen, weißen Scharten hindurchsehen zu können.
Stattdessen zählt er flüsternd: »21, 22, 23.« Ein weiteres Auto, das zu früh abbremst. »21, 22, 23.« Stehen bleibt. Auch der Hubschrauber ist wieder da. Genau wie am Tag zuvor.
Jetzt nicht an Maria denken. Dann würde er sich ihnen ausliefern, als angreifbarer Verteidiger. Angekettet.
Ihm ist heiß, obwohl alle Waffen geladen sind. Er umschließt die Patrone mit den Fingern, saugt die Kälte auf. Umschließt den Schwertanhänger des Vaters.
Es läutet. Rring! Sie kommen. Um ihn zu holen. Er hat keine eindeutige Order, keinen Pfeil. Verdammt. Er befindet sich innerhalb des roten Kreises. Gefahrenzone. Dead or alive. Schwarzer oder roter Pfeil? Angriff oder Verteidigung? »Angriff ist die beste Verteidigung«: Die Kollegen im Schützenverein in Ludwigshafen. Er greift nach seinem Colt, nimmt seine Magnum in die andere Hand, umklammert beide Waffen, spürt, bumm … bumm … bumm … bumm, wie sich sein Herzschlag verlangsamt. Rring! Wie das Klingeln ihn wieder beschleunigt. Es hört sich nach Verhandeln an. Aus. Wieder ein Auto. Tacka, tacka, tacka. »21, 22, 23.« Angriff, »21«, Verteidigung, »22«, Angriff, »23«. Beim dritten Klingeln, Rrring!, lässt er die Griffe los, legt die Waffen auf den abgegriffenen Holztisch. Leise, wie seine Schritte, die sich müde zur Tür bewegen. Draußen warten sie auf ihn. Angriff, »21«, oder Verteidigung, »22«? Er dreht den Schlüssel herum und öffnet. Die Kirchturmuhr schlägt neunmal.
»Grüß Gott. Ayyub Zlatar?«
Das Licht im Gang blendet ihn. Er erkennt lediglich die Umrisse zweier Männer. Und nickt.
»Polizeiwachtmeister Fend. Das ist mein Kollege Stadlmaier.«
»Grüß Gott«, sagt eine dunkle Stimme.
Seine Augen gewöhnen sich an die Helligkeit. Zwei Polizisten stehen vor ihm. Verteidigung.
»Wir sind auf Anordnung des Landratsamtes da, um Ihre Waffen sicherzustellen.« Er sieht ganz genau, wie sie über ihn lachen.
Bumm. Bumm. Bumm. Bumm. Noch bevor er die Hände abwehrend heben kann, halten sie ihm einen Zettel unter die Nase und drücken sich an ihm vorbei in die Wohnung. Wieder fährt ein Wagen vorbei, tack, tack, tack, beschleunigt, tacka, tacka, tacka. Er dreht sich um und sieht den Agenten hinterher, die in seine Wohnung gehen. »21, 22, 23.« Verteidigung.
Keine fünfzehn Minuten dauert es, bis sie alles leergeräumt haben. Bis Waffe für Waffe, Kugel für Kugel in die Kiste gewandert ist. Noch bevor er es verhindern kann. Keine Verteidigung, kein Angriff. Planänderung. Er muss sich die Waffen und die Munition zurückholen. Ohne Waffen kein Angriff und ohne Munition keine Verteidigung. Weder gegen die Polizei noch gegen den Geheimdienst. Er macht einen Schritt zurück. Kneift die Augen zusammen, mustert sie.
»Es fehlen Waffen«, sagt der Polizist.
»Die sind in der Reparatur.«
Er schaut seinen Kollegen an. Der zuckt mit den Schultern und wendet sich zur Tür.
»Kommens doch bittschön später in die Polizeiinspektion und bringens den Reparaturschein. Außerdem brauchen wir noch eine Unterschrift fürs Protokoll.« Wieder ein Grinsen. Er nickt nur. Er will nicht, muss aber. Für Worte ist kein Platz in dieser Zwischenwelt. Ohne Angriff oder Verteidigung. Er muss sich wieder Platz schaffen. Sich einordnen. Seinen Platz schaffen. Seine Jacke benötigt er nicht, aber sein Kragen ist zu eng. Er holt Uho aus dem Keller. Geht in den Hof und lässt ihn fliegen. Ob er will oder nicht.
Seine Sonnenbrille hat er vergessen. Weswegen er fast ein Auto übersieht, das viel zu schnell von rechts kommt, tacka, tacka, tacka, als er auf die Straße tritt. Bumm, bumm, bumm, bumm. Hupt. Er springt zurück auf den Gehweg, wohin sie ihm nicht folgen. Dieses Mal haben sie es nicht geschafft, ihn zu beseitigen. Genauso wenig wie der rote Mercedes, den sie erst gestern gegen den gelben Renault ausgetauscht haben. »21, 22, 23.«
Sein Wagen springt nicht gleich an. Aber dann: Tack, tack, tack, rollt er durch das Tor. Der rote Pfeil auf seiner Seite. Und trotzdem Angriff. Bald.
Der 4. März 1988 war ein Freitag. Es war der 64. Tag des Schaltjahres 1988. Helmut Kohl war Bundeskanzler, Richard von Weizsäcker Bundespräsident, SV Werder Bremen wurde deutscher Meister und der Boxweltmeister Cassius Clay, besser bekannt als Muhammad Ali, war bereits an Parkinson erkrankt. Zwei Wochen später starben in der hauptsächlich von Kurden bewohnten Stadt Halabdscha fast 5000 Menschen durch einen Giftgasangriff der irakischen Luftwaffe. O.K. stand mit »Okay« auf Platz zwei der Top Ten, und um 14:20 Uhr begann der 5. Teil der Serie »Das Erbe der Väter« auf ARD.
4. März 1988
Nordostirak, Kurdistan
Roja Özen
Vater wachte auf dem Schemel hinter der Holztür. In der Stube des Hauses, das er mit seinen eigenen Händen erbaut hatte, am Rande der Stadt. Die schwarz-weiß karierte Kufiya um das volle schwarze Haar gebunden. Die Finger der linken Hand sprangen über die Perlen der Misbaha, die andere hielt das Gewehr. Noch vor wenigen Stunden, vor Einbruch der Dunkelheit, waren Schüsse gefallen, hatten sich seine Genossen Kämpfe mit den angreifenden irakischen Soldaten geliefert.
Er fuhr sich durch den buschigen Oberlippenbart. Sah hinüber zu Mutter, die auf der Matratze aus Stroh ruhte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, sie atmete gepresst. Um etwas zu tun, erhob sich Vater, ohne das Gewehr aus der Hand zu legen. Er ließ die Gebetskette in die Tasche seines khakifarbenen Overalls gleiten und ging zum Holzofen am anderen Ende des niedrigen Raumes, am selbstgezimmerten Esstisch vorbei. Die Tür des Ofens quietschte, als er sie öffnete. Wasser brodelte auf der Kochplatte, hüllte Vaters Kopf in seltsames Schweigen. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Er schob einen Holzscheit hinein, den die Flammen umschlangen. Mutter bog stöhnend den Rücken durch, drückte die lederne Haut von Großmutters knochiger Hand, die neben dem Bett saß. Da knallte es. Vater legte das Gewehr an und zielte auf die Tür. Die Flammen malten seinen zitternden Schatten auf die Wand aus Lehm und Stein.
4. März 1988
Auffing (Oberbayern)
Markus Keilhofer
Mutter hielt die Hände vor die Augen. Ein Schatten fiel auf ihr Gesicht, Gänsehaut auf den Armen. Sie griff sich an die Brust, schnappte nach Luft, würgte. Noch bevor ihr die Hebamme die Nierenschale reichen konnte, quoll Schaum aus ihrem Mund, erbrach sie sich schwallartig. Zwischen Mutters Beinen der winzige Kopf mit den verklebten Haaren, eingeklemmt zwischen den Schamlippen. Mutters Lippen färbten sich bläulich. Sie keuchte, die Finger krallten sich in die Matratze, der Puls raste. Die Schwester rannte, kehrte mit dem Arzt zurück. Stück für Stück presste die Wehe den Körper des Säuglings hervor, kämpfte sich das Kind in die Welt: Hals, Oberkörper, Unterleib. Schrie blutüberströmt in den Armen der Hebamme. Mutter verdrehte die Augen. »Schwester, Oxytocin!« Die sehnige Nabelschnur durchtrennt von der Schere. Dickflüssige, gelbliche Milch floss aus ihren Brustwarzen. Die Herztöne des Neugeborenen unregelmäßig. Die Herztöne der Mutter verstummten.
Freitag, 4. März 2016
Auffing (Oberbayern)
Roja Özen
Sie verlässt den Laden, geht in Richtung des Stadttors über den Fluss. Der schmutzige Schnee sammelt sich am Straßenrand, überdeckt den Mittelstreifen. Wenn ein Auto vorbeifährt, weicht Roja einen Schritt zur Seite, um nicht nassgespritzt zu werden.
Im Stadttor nähert sich erneut ein Auto von hinten. Die Reifen zerquetschen lautstark den Schnee. Roja drückt sich an die Wand, so gut es ihr die vollgepackte Plastiktüte in der einen Hand und der Leinenbeutel in der anderen ermöglichen. Ein dritter Wagen folgt. Sie geht noch einen Schritt zur Seite, der Motor heult auf, sie bleibt stehen. Sie sieht den Wagen aus dem Augenwinkel näherkommen, lässt ihre Taschen fallen. Glas zerbricht, Dreck spritzt auf die weiße Arzthose. Am liebsten würde sie sich Augen und Ohren zuhalten. Der Motor heult auf. Und der Wagen braust davon.
Sie bückt sich, versucht, die Scherben herauszuziehen, die die Plastiktüte zerschnitten haben, und denkt: Gerade heute.
»Kann ich dir helfen?«, fragt da eine junge Stimme über ihr.
Sie schiebt ihr Kopftuch zurecht.
»Nein, danke«, antwortet sie, ohne aufzusehen.
»Kann ich dir helfen?«, fragt die Stimme erneut. Roja richtet sich auf. Vor ihr steht ein kleines Mädchen. An ihrem Nasenloch bläht sich eine Rotzblase auf. Ihre blaue Mütze, auf der ein orangefarbener Smiley seine Zähne fletscht, ist nach oben gerutscht. Darunter kämpfen sich blonde Locken hervor. Roja überlegt, ob sie das Mädchen aus Esthers Kindergarten kennt. Sie sieht sich um. Mutter oder Vater sind nirgends zu sehen.
»Lassen Sie das Mädchen in Ruhe!« Das Mädchen zuckt wie Roja zusammen. Ein alter Mann hat sich vor ihr aufgebaut.
Roja richtet sich auf und hastet verstört davon. Sie klettert in den Wagen, schlägt die Tür zu, sieht aus dem Fenster. Da ist er wieder. Sie dreht den Schlüssel herum und fährt los. Blech kracht, ihr Kopf wird nach vorne geschleudert.
»Grüß Gott, ich möchte einen Unfall melden, weil ich mir unsicher bin«, sagt Roja durch die Glasscheibe mit den blassweißen Löchern in der Mitte zu dem Polizisten.
»Gehens doch bittschön in das Zimmer Nr. 5, dritte Tür links zum Kollegen. Ich geb Bescheid«, sagt der Polizist.
Roja geht weiter, klopft, öffnet die Tür.
»Grüß Gott«, sagt der Polizist, steht auf und gibt ihr die Hand. »Hauptkommissar Josef Stehr.«
»Roja Özen.«
»Bittschön, nehmens Platz.«
Der Polizist lässt sich auf den Stuhl vor dem Computer fallen. Roja setzt sich auf den Stuhl gegenüber.
»Ihren Namen.«
»Roja …«
Der Schuss unterbricht Rojas Worte. Stoppt die Finger des Polizisten.
4. März 2016
Markus Keilhofer
Am Parkplatz:
Sonst stolzierst umeinand wie die erste Frau vom Sultan. Streckst deine kleine Nasen bis zum Himmel, als würden dir die einfachen Leut zu sehr stinken, als müssten wir dir schon den Weg freimachen, wenn du nur mit deine langen Wimpern klimperst. Tragst dein Regenschirm wie ein Zepter zur Schau, selbst wenns noch überhaupt nicht nach Regen ausschaut. Was zupfst denn gar so an deinem Putzlumpen auf deinem Schädel rum? Bist immer noch so fickrig, weil die Spezialeinheit vor ein paar Jahr deine Hütten gstürmt hat? So was erlebt ein Kleinhäusler ja sonst nur am Sonntagabend im Tatort.
Vor der Polizeiwach:
Das Gute am Winter ist, dass das Springkraut nicht blüht und die Wepsen nicht fliegen. Aber das heißt überhaupt nix. Man muss sie auf alle Fälle im Aug behalten. Hoppala, was macht denn der Bosnikanak aus dem Schützenverein da? Der schaut ja ganz schön grantig. Und was will der bei den Kollegen auf der Wach? War der Unfall von der Arschhochbeterin nur ein Ablenkungsmanöver? Arschhochbeterin und Bosnikanak: Jetzt hab ich den Beweis. Wenn mir noch beim Bier zusammensitzen, fängt der schon mit dem Schießen an. Und sonst sitzt er auch nur allein da. Angeblich, weil er Knoblauch gessen hat, und wir das nicht mögen, hat er zur Wirtin gsagt. Wahrscheinlich ist er bloß nicht interessiert an andere Menschen, an unserer Kultur. Ich hab zu den anderen Schützen gsagt, dass ichs nicht gut find, wenn der auf die Mannscheiben schießt. Aber die wollten ja nicht auf mich hören.
Der 12. Juli 1995 war ein Mittwoch. Es war der 193. Tag des Jahres. Helmut Kohl war Bundeskanzler, Roman Herzog Bundespräsident, Borussia Dortmund deutscher Meister. In Bayern waren Kurdenvereine aufgelöst worden und in Oklahoma City hatten Rechtsradikale drei Monate zuvor bei einem der schwersten Bombenanschläge in der Geschichte der USA 168 Menschen getötet. Rednex stand mit »Wish You Were Here« auf Platz eins der Top Ten und um 21:45 Uhr begann auf ARD der Brennpunkt »Massaker von Srebrenica«.
12. Juli 1995
Nationalpark Bayerischer Wald
Markus Keilhofer
Auf dem Baumwipfelpfad:
»Der Wald wird licht werden wie der Rock vom Bettelmann«, flüstert Großvater.
Großmutter nickt: »Hat der Waldprophet, der Mühlhiasl, richtig vorhergsagt.«
»Ob der scho was über die Chemtrails gwusst hat?«, flüstert Großvater.
Großmutter nickt: »Der war seiner Zeit voraus.«
Der Baumwipfelpfad: eine schwebende Holzschlang zwischen die Bäum. Großvaters ausrasiertes Genick. Großmutters kantige Hand. Markus’ Kapuze. Ein Bär. Ein Wolf. Ein Luchs. Und ihre Spuren, aus Holz.
Markus mit bumperndem Herz. Brettl für Brettl über die schwankende Brücken. Bloß ned durch das Drahtgitter nach unten schaun. Auf den wackelnden Balken. Schritt für Schritt. Gschafft!
Der Drahtzaun zerschneidet den Wald in schiefe Vierecke. Zerschneidet Markus’ ausgehende Luft. Hilft ihm, seine knappe Luft vor dem Großvater zu verstecken.
Der komische Turm vor ihm. Er unter dem komischen Turm. Der komische Turm über ihm. Wie ein auseinandergezogenes Schneckenhaus. In der Mitten von dem komischen Turm drei Bäum.
»Die Bäume in der Pyramiden«, flüstert Großvater.
Großmutter nickt: »Illuminaten.«
»Geplant vom Rothschild«, flüstert Großvater.
Großmutter nickt: »Und umgsetzt vom Weishaupt.«
»Gebt mir die Kontrolle über die Währung eines Landes, dann interessiert es mich nicht, wer die Gesetze macht.«
Großmutter nickt: »Hat der Rothschild gsagt.«
»Der war ned ganz koscher«, flüstert Großvater.
Großmutter lacht: »Obwohl er Jud war.«
Die Kurven hören nimmer auf. Der Druck in der Brust wächst, umso enger, umso höher die Kurven. Durchhalten, Rocky. Nur noch die Treppen. Weil er die Zähn zusammenbeißt, kommt die Luft zerteilt raus, auch diesmal darf der Großvater auf kein Fall was hören. Gschafft. Markus schiebt die flatternde Kapuze ins Genick. Vor ihm der Holzzaun. Auf Zehenspitzen. Darüber dunkler Wald. Berg. Himmel. Weiße Streifen. Gerade. Schief. Kreuz und quer. Dick und dünn. Wie Zuckerwatte. Blau und weiß. Schleier.
»Chemtrails«, flüstert Großvater.
Großmutter erschrickt: »Deswegen läuft mir die Nasn und brennen mir die Augn.«
»Schnell, das besonnte Ziegenmilchpulver mit Kampfer«, sagt Großvater.
Großmutter kruscht in ihrer Handtaschen. »Das muss noch im Auto liegn.«
»Und das Olivenöl mit Mohnblüten?«, flüstert Großvater.
Großmutter kruscht weiter in der Taschen. »Da is.« Sie zieht ein lilanes Flascherl und einen Esslöffel raus. Dreht auf, schüttet was auf den Löffel. Der Löffel mit Öl vor Markus seinem Mund. Riecht ranzig. »Geh weiter, nimm die Medizin, Guggile«, sagt Großvater und schiebt Markus zum Löffel.
Großmutter nickt: »Das hilft gegen das Gift von den Amis und dem Jud.«
Markus presst die Lippen zusammen. Großmutter presst den Löffel durch die Lippen. In den Mund. Hält dem Markus die Nasen zu. Markus schnauft. Und schluckt.
»Und jetzt zum Auto«, flüstert Großvater.
Großmutter nickt: »Damit mir ned noch mehr abkriegn.«
Im Auto:
»Schnell, die Türen zu«, sagt Großvater.
Großmutter nickt: »Und die Lüftung.«
»Wir kennen noch den Himmel von früher«, sagt Großvater.
Großmutter nickt: »Den kennst du schon gar nimmer, Guggile.«
»Wärens normale Kondensstreifen, täten sie sich nach kurzer Zeit auflösen«, sagt Großvater.
Großmutter nickt: »Aber die Chemtrails bleiben stundenlang am Himmel und werden irgendwann zu einer Wolkenschicht.«
»Die Amis und der Jud wollen uns in die Knie zwingen«, sagt Großvater.
Großmutter nickt: »Sie impfen die Wolken.«
»Der Zweite Weltkrieg ist noch ned vorbei«, sagt Großvater.
Großmutter nickt: »Der wird jetzt bloß mit andere Mittel gführt.«
»Mit Erdbeben zum Beispiel«, sagt Großvater.
Großmutter nickt. »Wie in Tschernobyl, wo die Amis das Atomkraftwerk in d’ Luft gjagt habn.«
»Am 26. April 1986 um 1:23 Uhr«, sagt Großvater.
Großmutter nickt: »23, die Zahl von den Illuminaten.«
»Danach habn wir den radioaktiven Regen abgkriegt«, sagt Großvater.
Großmutter nickt: »Da hab ich nur noch Milchpulver einkauft.«
Ferienpark Arber:
»Dann bräuchte ich bitte Ihre Personalausweise.«
»Wir ghören nicht zum Personal der besetzten Bundesrepublik Deutschland«, sagt Großvater.
Die Frau hustet. »Da haben wir uns jetzt missverstanden. Ihre Ausweise bräuchte ich bitte.«
Großmutter nickt. Sucht in ihrer Handtaschen. Zieht die Ausweise raus. Gibt sie Großvater. Der hält sie der Frau hin. »Bittschön.«
»Reichsausweis Markus Keilhofer«, liest die Frau. Markus zuckt zusammen. Die Frau legt die Ausweise auf den Tisch. Langt nach einem Blattl. Und malt mit dem Kugelschreiber drauf. »Also. Da sind die Zeltplätze. Und da die Stellplätze mit Strom und Wasser.«
»Zeltplatz«, sagt Großvater.
»Haben Sie eigentlich eine Kegelbahn?«, fragt Großmutter.
In der Dusche:
Der nackerte Markus. Die angezogene Großmutter. Mit der Bürsten und dem Mohnblütenolivenöl. Das Wasser zu kalt. Das Wasser zu heiß. Der große Mund. »Das Glied muss gwaschen werdn.« Die großen Augen. Die raue Bürsten. Auf seinem Gesicht. Seinem Hals. Seinen Schultern. Seiner Brust. Seinem Glied. Das raue Handtuch. Das müffelnde Öl in ihrer Hand. Ihre Händ auf seinem Gesicht. Seinem Hals. Seinen Schultern. Seiner Brust. Seinem Glied. Er macht die Augen zu.
Ich wünscht mir, du wärst da, Mutter.
Der Bademantel. Ausschnaufen.
Auf der Wiese:
Kinder um einen blonden Bub im roten T-Shirt. In der Hand eine Flaschn und eine Pistoln. Peng! Peng! Aus seinem Mund: »Joo, wooo.« Zermanscht vom Schreien von den anderen Kindern. Erste Regentropfen auf hängende weiß-rosa Blüten. Süßer Geruch.
»Indisches Springkraut«, flüstert Großvater.
Großmutter nickt: »Unkraut, verdrängt einheimische Pflanzen.«
»Schwarze Tollkirschen«, flüstert Großvater.
Großmutter nickt: »Die gute alte Zauberpflanzen, die war schon immer da.«
Ein Stecken unter der Birken. Zwischen Nacktschnecken und Blättern. Das Holz feucht. Ausholen. Zielen. Der Stecken saust durch die Luft: Treffer. Die Nacktschnecken biegt sich im Gras. Ausholen. Zielen. Stecken saust durch die Luft: Treffer! Die Nacktschnecken schebberts in die verregnete Dämmerung. Der Bub im roten T-Shirt auf einmal neben ihm. »Joo, wooo.« Deutet auf den Stecken. Packt ihn. Markus hält den Stecken fest. Rocky, gib alles. Der Bub zieht daran. »Essen!«, schreit Großmutter. Der Bub verschwindet in der verregneten Dämmerung.
Im Vorzelt:
»Ich hab scho wieder Verstopfung«, sagt Großvater.
Großmutter nickt. »Das kommt von den Chemtrails.«
»Lass uns beten«, sagt Großvater.
Großmutter nickt: »Ein Psalm Davids, zum Gedächtnis.«
»Herr, strafe mich nicht in Deinem Zorn und züchtige mich nicht in Deinem Grimm. Denn Deine Pfeile stecken in mir, und Deine Hand drückt mich. Und die mir nach dem Leben trachten, stellen mir nach; und die mir übelwollen, reden, wie sie Schaden tun wollen, und gehen mit eitel Listen um. Denn ich zeige meine Missetat an und sorge wegen meiner Sünde. Aber meine Feinde leben und sind mächtig; die mich unbillig hassen, derer ist viel.«
Im Zelt:
Der schnarchende Großvater. Die ranzig riechende Großmutter. Der warme Schlafsack. Die volle Blase. Durchhalten. Einschlafen, einschlafen, einschlafen.
Schleimige Nacktschnecken. Im Ohr. In der Nasen. Auf dem Gesicht.
Regentropfen schlagen aufs Zeltdach. Spülen die Schnecken weg. Die drückende Blase. Der plätschernde Bach. Markus zippt den Reißverschluss auf. Schält sich aus dem Schlafsack. Zieht das Moskitonetz auf. Zieht es zu. Kalte, feuchte Schuh. Müdes Laternenlicht. Nacktschnecken. Überall. Unsichtbar. Unter der Sohle: zerplatzt. Hosen runter. Der dampfende Strahl. Der plätschernde Bach. Der Gestank vom Springkraut. Hosen rauf. Die glänzenden Tollkirschen. Bitter.
Im Vorzelt:
In der Früh. Die Sonne. Die Schnecken fliehen ins hohe Gras. Die Wepsen kommen.
Großvater liest seine National-Zeitung.
»Das in Oklahoma waren Terroristen«, flüstert Großvater.
Großmutter nickt. »Muselmänner.«
Sssssssssssssss. Weps über dem Kaba. Sssssssssssssss. Weps über dem Marmeladenbrot. Sssssssssssssss. Weps über Großvaters Kaffee.
»Zefix, Scheißviecher!« Batz. Von der Zeitung erschlagen. Tot.
Sssssssssssssss. Weps über Großvaters Marmeladenbrot. Sssssssssssssss. Weps über Großmutters Tee. Sssssssssssssss. Weps über Großmutters Marmeladenbrot. Batz. Marmelad spritzt. »Scheißdreck!«
Sssssssssssssss. Weps auf Markus’ Mund.
»Trinken lieber drinnen«, sagt Großmutter.
Großvater nickt.
Großmutter zieht das Moskitonetz auf. Markus schlupft rein. Samt Tass, samt Teller. Großmutter zieht es zu.
Im Zelt:
Markus in der Mitten. Allein. Mit Tass und Marmeladenbrot. Schaut nach oben, in die Pyramidenspitzen: Markus in der Pyramide. Großvater und Großmutter hinter dem weißen Netz: käsig. Der blonde Bub mit dem roten T-Shirt neben dem Zelt: plärrt. Die Wepsen über ihm: kreisen und krabbeln auf dem Innenzelt. Schatten, die ruckartig die Richtung ändern. Fühler, die aneinanderreiben. Stacheln, die zu ihm runterstechen.