Auferstehung

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Neunzehntes Kapitel.

In einer solchen Gemütsverfassung befand sich Nechljudow, als er aus dem Sitzungssaal in das Zimmer der Geschworenen getreten war. Er saß am Fenster, horchte auf das Gespräch um ihn her und rauchte unaufhörlich.

Der lustige Kaufmann sympathisierte augenscheinlich von ganzem Herzen mit der Art, wie sich der Kaufmann Smeljkow die Zeit vertrieben hatte.

»Na, mein Bester, der hat ’mal ordentlich gelumpt, echt sibirisch. Der war darin Fachmann, so ein Zuckermädel . . . «

Der Obmann äußerte irgend welche Erwägungen, denen zufolge die ganze Sache dem Gutachten der Sachverständigen gemäß beurteilt werden müsse. Pjotr Gerassimowitsch scherzte mit dem jüdischen Kommis und beide lachten. Nechljudow antwortete einsilbig auf die an ihn gerichteten Fragen und wünschte nur eines, daß man ihn in Ruhe ließe.

Als der Gerichtsvollzieher mit dem schiefen Gang die Geschworenen wieder in den Sitzungssaal bat, wurde Nechljudow von einer Furcht befallen, als ob nicht er zu Gericht sitzen, sondern über ihn abgeurteilt werden sollte. In der Tiefe seiner Seele fühlte er bereits, daß er ein Schuft sei, der den Leuten nicht in die Augen sehen dürfte, er betrat aber gewohnheitsgemäß, mit den gewohnten selbst bewußten Allüren das Podium und setzte sich auf seinen Platz neben dem Obmann, das eine Bein über das andere geschlagen, das Pincenez zwischen den Fingern.

Auch die Angeklagten waren inzwischen irgend wohin abgeführt worden und wurden jetzt wieder vorgeführt.

Im Saal sah man neue Gesichter, Zeugen, und Nechljudow bemerkte, wie die Maslowa mehrere Mal, als könnte sie sich nicht satt sehen, auf eine in Samt und Seide geputzte dicke Dame hinblickte, die in einem hohen Hut mit großer Schleife und einem eleganten Ridikül auf dem bis zum Ellbogen entblößten Arm, in der ersten Reihe, gleich vor dem Gitter saß. Das war, wie Nechljudow sofort erriet, eine Zeugin, die Vorsteherin des Hauses, in welchem die Maslowa in ihrer letzten Stellung »gearbeitet« hatte.

Das Zeugenverhör begann. Name, Konfession u.s.w. Nach Befragung der Parteien, ob sie das Verhör mit oder ohne Vereidigung haben wollten, erschien wieder mit demselben mühsamen Gang der alte Geistliche und wieder legte er mit derselben Geste das goldene Kreuz auf der seidenen Brust zurecht und nahm mit derselben Ruhe und Sicherheit den Zeugen und dem Sachverständigen den Eid ab. Nachdem die Vereidigung beendet war, wurden alle Zeugen, mit Ausnahme von Maslowas Wirtin, der Kitajewa, wieder abgeführt. Sie wurde gefragt, was sie von der Sache wisse. Mit einem gemachten Lächeln erzählte sie mit deutschem Accent, indem sie den großen Hut wellenförmig bewegte, folgendes:

Zuerst kam ihr Bekannter, der Korridorbediente Simon zu ihr, um die Ljubascha abzuholen. Nach einiger Zeit kehrte Ljubascha mit dem Kaufmann wieder zurück. Der Kaufmann war bereits in Ekstase, — erzählte die Kitajewa mit einem leichten Lächeln, — und fuhr auch bei uns zu trinken fort. Da ihm aber das Geld bald ausging, so schickte er zu sich ins Hotel jene Ljubascha, zu der er eine »Prédilection« gefaßt hatte, — sagte sie mit einem Blick auf die Angeklagte.

Nechljudow schien es, als hätte die Maslowa dazu gelächelt und dieses Lächeln machte auf ihn einen widerwärtigen Eindruck. Ein eigentümliches Gefühl von Abscheu und Mitleid zugleich stieg in ihm auf.

»Und welche Meinung haben Sie von der Maslowa gehabt?« fragte zaghaft und errötend ihr vom Gericht ernannter Verteidiger, ein junger Aspirant.

»Die allerbeste«, antwortete die Kitajewa in gebrochenem Russisch. »Sie war gebildet und chic. In einer feinen Familie war sie erzogen und konnte Französisch lesen. Sie trank zuweilen ein übriges, vergaß sich aber nie. Ein wirklich braves Mädchen.«

Katjuscha sah auf die Wirtin, wandte dann aber ihren Blick plötzlich auf die Geschworenen und ließ ihn auf Nechljudow ruhen, wobei ihr Gesicht einen ernsten und sogar strengen Ausdruck annahm. Das eine ihrer strengen Augen schielte. Ziemlich lange blieben diese seltsam dreinschauenden Augen auf Nechljudow geheftet. Und trotz des Schreckens, der ihn erfaßte, konnte auch er seinen Blick von diesen schielenden Augen nicht wenden. In seinem Gedächtnis tauchte jene schreckliche Nacht auf mit dem berstenden Eis, dem Nebel und dem ab nehmenden umgekehrten Mond, der gegen Morgen aufging und etwas Schwarzes und Furchtbares beleuchtete. Diese zwei schwarzen Augen, die auf ihn und zugleich an ihm vorbei blickten, erinnerten ihn an dieses Schwarze und Furchtbare.

»Sie hat mich erkannt!« dachte Nechljudow und zuckte zusammen, als erwartete er einen Schlag. Aber sie erkannte ihn nicht. Sie atmete ruhig auf und begann wieder auf den Präsidenten zu blicken. Auch Nechljudows Brust entrang sich ein Seufzer. »Ach, nur schneller!« dachte er. Er empfand jetzt ein Gefühl, welches demjenigen ähnlich war, das er auf der Jagd hatte, wenn er einem angeschossenen Vogel den Rest geben mußte: Ekel und Mitleid und Missmut. Der verwundete Vogel zuckt in der Jagdtasche, er ist einem widerwärtig und thut einem leid, man möchte ihn schneller tot machen und vergessen.

Solche gemischte Empfindungen bewegten Nechljudow, während er der Zeugenvernehmung zuhörte.

Zwanzigstes Kapitel.

Aber gleichsam ihm zum Trotz dauerte die Verhandlung lange. Die Zeugen wurden einzeln vernommen, der Sachverständige angehört, der Staatsanwaltsadjunkt und der Verteidiger thaten mit der wichtigsten Miene die überflüssigsten Fragen. Endlich schlug der Präsident den Geschworenen die Besichtigung der corpora delicti vor, die aus einem kolossalen Ring mit einer Rosette aus Brillanten, der offenbar auf dem mächtigsten Zeigefinger getragen wurde, und aus einem Filter bestanden, in welchem das Gift untersucht worden war. Die Sachen waren versiegelt und mit Etiketten versehen.

Die Geschworenen schickten sich schon an, die Sachen zu besichtigen, als der Staatsanwaltsadjunkt sich abermals erhob und verlangte, daß vor der Besichtigung der corpora delicti das Protokoll der medizinischen Besichtigung des Leichnams verlesen werde.

Der Präsident wollte die Verhandlung möglichst beschleunigen. Er wußte sehr wohl, daß die Verlesung dieser Akten, auf welcher der Staatsanwalt nur darum bestand, weil er dazu ein gesetzliches Recht hatte, keine anderen Folgen als Langeweile und einen Aufschub des Mittags haben konnte. Je doch durfte er dieses Verlangen nicht ablehnen und erteilte seine Zustimmung. Der Sekretär holte die Akten hervor und begann mit seiner traurigen, bei den Buchstaben L und R schnarrenden Stimme zu lesen.

Bei der äußeren Besichtigung ergab sich, daß:

1) Der Wuchs des Ferapont Smeljkow zwei Arschin und zwölf Werschok war.

»War das ein kräftiger Kerl«, flüsterte der Kaufmann besorgt Nechljudow ins Ohr.

2) Sein Alter wurde dem äußeren Anschein nach auf ungefähr vierzig Jahre bestimmt.

3) Der Leichnam sah aufgedunsen aus.

4) Die Farbe der Haut war überall grünlich, stellenweise mit dunklen Flecken.

5) Die Epidermis der Körperoberfläche hatte sich in Blasen verschiedener Größe gehoben, stellenweise hatte sie sich gelöst und hing in großen Lappen.

6) Das Haar war dunkelblond, dicht und fiel bei der Berührung leicht von der Haut.

7) Die Augen waren aus den Höhlen gedrungen und die Hornhaut war trübe geworden.

8) Aus den Öffnungen der Nase, der Ohren und der Mundhöhle floß eine schaumige Blutserumflüssigkeit; der Mund war halb geöffnet.

9) Der Hals konnte infolge der Aufblähung des Gesichts und der Brust nicht unterschieden werden.

10) U.s.w. u.s.w.

Auf diese Weise folgte auf vier Seiten in siebenundzwanzig Punkten die Beschreibung aller Einzelheiten des äußeren Befundes des schrecklichen, riesigen, dicken und noch dazu aufgedunsenen, faulenden Leichnams des Kaufmanns, der sich in der Stadt amüsiert hatte: Das Gefühl eines unbestimmten Ekels, welches Nechljudow empfunden hatte, wurde durch diese Beschreibung des Leichnams noch verstärkt. Das Leben Katjuschas und das aus den Nasenlöchern fließende Blutserum, die aus den Höhlen getretenen Augen und seine an ihr verübte Schandthat, alles das waren Gegenstände derselben Ordnung und von allen Seiten wurde er von diesen Gegenständen erfaßt und umgeben.

Als endlich die Verlesung des äußeren Befundes beendet war, seufzte der Präsident schwer auf und erhob das Haupt, in der Hoffnung, daß es nun aus sei. Aber der Sekretär begann so fort die Verlesung des Protokolls des inneren Befundes.

Der Präsident ließ seinen Kopf wieder hängen, stützte ihn mit der Hand und schloß die Augen. Der Kaufmann, der neben Nechljudow saß, konnte sich kaum des Schlafes erwehren und schwankte ab und zu. Die Angeklagten saßen, ebenso wie die Gendarmen hinter ihnen, unbeweglich.

In dem Protokoll des inneren Befundes hieß es:

1) Die häutigen Schädeldecken lösten sich leicht von den Schädelknochen; Blutspuren waren nicht bemerkbar.

2) Die Knochen des Schädels waren von mittlerer Stärke und unverletzt.

3) Auf der harten Hirnhaut sah man zwei pigmentierte Flecken, etwa vier Zoll groß. Die Hirnhaut selbst war von matt-bleicher Farbe.

14) U.s.w. u.s.w. noch dreizehn Punkte.

Weiter folgten die Namen der Zeugen, die Unterschriften und darauf das Resümee des Arztes. Aus demselben ergab sich, daß die bei der Obduktion vorgefundenen und im Protokoll vermerkten Veränderungen im Magen und teilweise im Darm sowie in den Nieren, mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit die Schlußfolgerung nahe legten, daß der Tod Smeljkows durch Vergiftung herbeigeführt sei. Die im Magen und im Darm vorgefundenen Veränderungen lassen zwar nicht erkennen, welches Gift dabei verwendet worden war, jedoch darf man nach den im Magen Smeljkows enthaltenen großen Quantitäten Wein und Spirituosen annehmen, daß das Gift zugleich mit den letzteren eingeführt worden sei.

 

»Der, scheint’s, verstand sich aufs Trinken«, flüsterte der wieder zu sich gekommene Kaufmann.

Die Verlesung dieses Protokolls, die ungefähr eine Stunde Zeit in Anspruch nahm, stellte jedoch den Vertreter der Staatsanwaltschaft noch nicht zufrieden. Als die Verlesung beendet war, wandte sich der Präsident an ihn:

»Ich glaube, daß die Verlesung der Akten über die Untersuchung der Eingeweide unterlassen werden kann . . . .«

»Ich möchte doch um die Verlesung bitten«, sagte streng der Staatsanwalt, indem er sich, ohne den Präsidenten anzusehen, ein wenig seitwärts erhob. Der Ton seiner Stimme sollte zu verstehen geben, daß er auf dieser Verlesung zu bestehen ein Recht hatte und daß eine Verweigerung dieses Rechtes einen Grund zur Kassation ab geben würde.

Das Mitglied mit dem großen Bart und den gutmütigen, nach unten gezogenen Augen, derselbe, der am Katarrh litt, fühlte sich bereits ermattet und wandte sich an den Präsidenten:

»Und wozu ist diese Verlesung nötig? Die Sache wird nur in die Länge gezogen. Diese neuen Besen fegen nicht besser, sondern nur langsamer. . . . «

Das Mitglied mit der goldenen Brille sagte nichts und sah nur finster und entschlossen vor sich hin, ohne weder von seiner Frau, noch vom Leben etwas Gutes zu erwarten.

Die Verlesung auch dieses Protokolls begann:

»188., am 15. Februar, habe ich, der Endes unterzeichnete, im Auftrage der medizinischen Abteilung, laut Schreiben sub Nr. 638, im Beisein des Gehilfen des Medizinalinspektors die Untersuchung der inneren Organe und Eingeweide aus geführt . . . «

Der Sekretär hatte die Verlesung in einer höheren Stimmlage und energisch begonnen, als wollte er den Schlaf, der alle Anwesenden nieder drückte, verscheuchen.

»Und zwar:

1) Der rechten Lunge und des Herzens (in einem sechspfündigen gläsernen Behälter).

2) Des Mageninhalts (in einem sechspfündigen gläsernen Behälter).

3) Des Magens selbst (in einem sechspfündigen gläsernen Behälter).

4) Der Leber, der Milz und der Nieren (in einem dreipfündigen gläsernen Behälter).

5) Der Gedärme (in einem sechspfündigen gläsernen Behälter).«

Der Präsident beugte sich im Beginn der Vorlesung zuerst zu einem der Mitglieder hin und flüsterte etwas, dann zum anderen, und nachdem er eine bejahende Antwort erhalten, unterbrach er die Vorlesung an dieser Stelle.

»Das Gericht erklärt die Vorlesung dieses Protokolls für überflüssig«, sagte er.

Der Sekretär verstummte und legte die Akten zusammen. Der Staatsanwalt fing zornig an, etwas zu notieren.

»Die Herren Geschworenen können die corpora delicti besichtigen«, sagte der Präsident.

Der Obmann und einige der Geschworenen erhoben sich und näherten sich dem Tisch. Verlegen wegen der Bewegungen oder der Lage, welche sie ihren Händen geben sollten, betrachteten sie der Reihe nach den Ring, das Gläschen und den Filter. Der Kaufmann probierte sogar den Ring an seinem Finger.

Einundzwanzigstes Kapitel 139

»Na, das war ein Finger!« sagte er an seinen Platz zurückkehrend. »Wie eine gute Gurke«, fügte er hinzu. Er ergötzte sich augenscheinlich an der Vorstellung eines Recken, die er sich von dem vergifteten Kaufmann gebildet hatte.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Als die Besichtigung der corpora delicti beendet war, erklärte der Präsident die gerichtliche Untersuchung für geschlossen. Und ohne Unterbrechung, weil er sich möglichst schnell frei machen wollte, überließ er das Wort dem Staatsanwalt, in der Hoffnung, daß auch dieser ein Mensch sei, der ebenfalls rauchen und zu Mittag essen wollte und sich daher ihrer erbarmen würde. Aber der Staatsanwaltsadjunkt hatte weder mit sich selbst, noch mit ihnen Erbarmen. Dieser Adjunkt war seiner Veranlagung nach dumm. Zudem hatte er das Unglück gehabt, beim Verlassen des Gymnasiums mit einer goldenen Medaille ausgezeichnet zu werden. Auf der Universität erhielt er einen Preis für seine Abhandlung über »Servituten nach dem römischen Recht«. Durch diese Zufälligkeiten war sein Selbstvertrauen im höchsten Grade gewachsen, er war eingebildet und selbstzufrieden geworden. Dazu kamen noch seine Erfolge bei den Frauen. Die Folge von alldem war, daß seine natürliche Dummheit außergewöhnliche Dimensionen annahm. Nachdem er das Wort erhalten hatte, erhob er sich langsam, indem er seine graziöse Figur zur Geltung brachte. Er stützte beide Hände auf den Tisch, neigte ein wenig sein Haupt, warf einen Blick über den ganzen Saal, wobei er jedoch die Angeklagten vermied und begann:

»Der Fall, welcher Ihnen, meine Herren Geschworenen, vorliegt«, so fing er seine während der Vorlesung der Akten und Protokolle vorbereitete Rede an, »ist, wenn man sich so ausdrücken darf, ein typisches Verbrechen.«

Die Rede des Staatsanwaltsadjunkts mußte seiner Meinung nach eine soziale Bedeutung er halten, ähnlich jenen berühmten Reden, die von berühmt gewordenen Advokaten gehalten wurden. Freilich bestand das Publikum nur aus einem Kutscher und drei Frauen, einer Näherin, einer Köchin und Simons Schwester. Aber auch jene Berühmtheiten hatten ebenso angefangen. Sein Prinzip war, immer auf der Höhe der Situation zu fein, d. h. in die Tiefe der psychologischen Bedeutung des Verbrechens einzudringen und die Krebsschäden der Gesellschaft zu entblößen.

»Sie haben, meine Herren Geschworenen, ein, wenn ich mich so ausdrücken darf, für das Ende des Jahrhunderts typisches Verbrechen vor sich, ein Verbrechen welchem, so zu sagen, die spezifischen Merkmale einer beginnenden Auflösung anhaften, einer Auflösung, der in unseren Tagen namentlich jene Schichten der Gesellschaft verfallen, welche den so zu sagen heißesten Strahlen jenes Prozesses ausgesetzt sind . . . «

Der Staatsanwalt sprach lange, wobei er sich einerseits bemühte, sich all der klugen Sachen, die er sich zurecht gelegt hatte, zu erinnern, anderseits und hauptsächlich aber, nicht einen Augenblick stecken zu bleiben, und es so einzurichten, daß seine Rede ununterbrochen eine und eine viertel Stunde dahinfloß.

Nur einmal stockte er und schluckte ziemlich lange. Aber sogleich überwand er die Schwierigkeit und glich die Bresche durch eine verstärkte Beredsamkeit aus. Er sprach bald mit zarter, ein schmeichelnder Stimme, indem er von einem Fuß auf den anderen trat und den Geschworenen in die Augen blickte, bald im ruhigen geschäftsmäßigen Ton, vertieft in das Konzept, und dann wieder mit lauter überführender Stimme, den Blick von den Geschworenen zu dem Publikum wendend. Nur die Angeklagten, die sich mit den Augen an ihm gleichsam festgesogen hatten, sah er nicht ein einziges Mal an. Seine Rede enthielt all das Neueste, was damals in seinem Kreise im Gange war, was für das letzte Wort der wissenschaftlichen Weisheit galt und noch gilt. Da gab es die Theorie der erblichen Belastung, des angeborenen Verbrechertums, Lombroso, Tardieu, Evolution, Kampf ums Dasein, Hypnotismus, Suggestion, Charcot, Decadence, — all das bunt durcheinander.

Der Kaufmann Smeljkow war nach der Auffassung des Staatsanwaltes ein Typus des kraftvollen, unberührten Russen mit seiner freien schrankenlosen Natur. In Folge seiner Vertrauensseligkeit und seines Großmutes fiel er als Opfer einiger tief entsittlichten Persönlichkeiten, unter deren Einfluß er geraten war.

Simon Kartinkin war ein atavistisches Produkt der Leibeigenschaft, ein verschüchterter Mensch, ohne Bildung, ohne Prinzipien, ohne Religion sogar. Jewfimia war seine Geliebte und ein Opfer erblicher Belastung. An ihr konnte man alle Kennzeichen eines degenerierten Subjekts beobachten. Die eigentliche treibende Kraft des Verbrechens war jedoch in der Maslowa verkörpert, die man zu den niederen Vertretern der Decadence zählen mußte. »Dieses Weib«, so sprach der Staatsanwalt, ohne die Maslowa anzusehen, — »hat Bildung gewonnen. Wir haben hier vor Gericht die Aussagen ihrer Wirtin gehört. Sie kann nicht nur lesen und schreiben, sondern auch Französisch. Sie ist eine Waise, die wahrscheinlich die Keime des Verbrechens schon in sich trug. Sie wurde in einer intelligenten adeligen Familie erzogen und hätte sich durch ehrliche Arbeit ernähren können. Aber sie verläßt ihre Wohlthäter, läßt sich von ihren Leidenschaften fortreißen und geht in ein öffentliches Haus. Sie fällt durch ihre Bildung auf und auch, wie Sie, meine Herren Geschworenen, hier von ihrer Wirtin gehört haben, durch ihre Fähigkeit, die Leute mit jener geheimnisvollen, eigentümlichen Kraft zu beeinflussen, welche in neuester Zeit von der Wissenschaft und namentlich von der Schule Charcots erforscht und unter dem Namen Suggestion bekannt geworden ist. Durch eben diese Kraft unterwirft sie sich den russischen Recken, den gutmütigen, zu traulichen Sagenheld und mißbraucht sein Vertrauen, um ihn erst zu berauben und dann erbarmungslos zu morden.«

»Na, da scheint er mir denn doch sich etwas zu hoch verflogen zu haben«, sagte der Präsident, indem er sich lächelnd zum strengen Mitglied hinüberbeugte.

»Ein fürchterlicher Schafskopf!« sagte das strenge Mitglied.

»Meine Herren Geschworen!« fuhr unterdessen mit einer graziösen Taillenwendung der Staatsanwalt fort. »Von Ihrem Machtspruch hängt das Schicksal dieser Menschen ab, aber in Ihrer Macht befindet sich zum Teil auch das Schicksal der ganzen Gesellschaft, die Sie durch Ihr Verdikt beeinflussen. Sie werden sich von der Bedeutung dieses Verbrechens durchdringen lassen, werden sich der Gefahr, welcher die Gesellschaft durch solche, so zu sagen, pathologische Individuen ausgesetzt wird, nicht verschließen, und werden die Gesellschaft, ihre gesunden, unschuldigen Elemente, vor Ansteckung und wahrscheinlichem Untergang wohl zu wahren wissen.«

Und als wäre er selbst von der Bedeutung des zu erwartenden Urteils erdrückt, ließ sich der Staatsanwalt auf seinen Sitz nieder, mit seiner eigenen Rede offenbar aufs höchste zufrieden.

Der Sinn seiner Rede war, abgesehen von den Blumen der Beredsamkeit, — daß die Maslowa den Kaufmann hypnotisiert haben sollte. Nachdem sie sich in sein Vertrauen eingeschlichen hätte, sei sie nach dem Gelds mit dem Schlüssel in sein Zimmer gegangen und hätte ursprünglich alles für sich behalten wollen. Da sie aber von Simon und Jewfimia überrascht wurde, so mußte sie natürlich den Raub mit ihnen teilen. Nachher, um die Spuren des Verbrechens zu tilgen, hätte sie den Kaufmann wieder ins Hotel gelockt und ihn dort vergiftet.

Nach der Rede des Staatsanwaltes erhob sich von der Advokatenbank ein Herr in mittleren Jahren, mit stark ausgeschnittener Weste und hielt eine geschickte Rede zur Verteidigung des Kartinkin und der Botschkowa. Es war der von ihnen für dreihundert Rubel engagierte Rechtsanwalt. Er suchte die beiden zu entlasten und die ganze Schuld auf die Maslowa zu schieben.

Er verwarf die Aussage der Maslowa, daß die Botschkowa und Kartinkin mit ihr zusammen gewesen seien, als sie das Gerd nahm, und bestand darauf, daß ihr Zeugnis, als das Zeugnis einer des Giftmordes überwiesenen, keinen Wert haben könne. Das Geld, die zweitausend fünfhundert Rubel — so sagte der Advokat — konnten von zwei ehrlichen und arbeitsamen Menschen, die von den Gästen zuweilen drei bis fünf Rubel täglich erhielten, sehr wohl erübrigt worden sein. Das Geld des Kaufmanns aber sei von der Maslowa geraubt und irgend jemand übergeben worden oder auch verloren, da sie sich in einem anormalen Zustande befunden hätte. Die Vergiftung hätte die Maslowa allein ausgeführt.

Daher ersuchte er die Geschworenen, den Kartinkin und die Botschkowa von der Entwendung des Geldes freizusprechen. Sollten sie aber die beiden in dieser Hinsicht dennoch für schuldig er achten, so möchten sie doch die vorgefaßte Absicht und die Teilnahme an der Vergiftung ausschließen.

Zum Schluß bemerkte der Advokat mit einem Stich gegen den Staatsanwalt, daß die glänzenden Ausführungen des Herrn Vertreters der Staatsanwaltschaft über die Frage der erblichen Belastung, obgleich sie dieselbe vom wissenschaftlichen Standpunkt beleuchteten, in diesem Falle doch nicht an gebracht seien, da die Botschkowa die Tochter unbekannter Eltern sei.

 

Der Staatsanwalt trug wütend und bissig etwas in seinem Konzept ein und zuckte in verächtlicher Verwunderung die Achseln.

Darauf erhob sich der Verteidiger der Maslowa und hielt schüchtern und stotternd seine Verteidigungsrede. Ohne die Teilnahme der Maslowa an der Entwendung des Geldes in Abrede zu stellen, bestand er nur darauf, daß sie nicht die Absicht gehabt hätte, Smeljkow zu vergiften, und das Pulver nur dazu gereicht hätte, damit er einschliefe. Er wollte auch etwas Beredsamkeit entwickeln, indem er eine Schilderung unternahm, wie die Maslowa in das lasterhafte Leben von einem Manne hin eingezogen war, der straflos geblieben, während sie jetzt die ganze Schwere ihres Fehltrittes tragen mußte. Aber dieser Exkurs in das Gebiet der Psychologie gelang ihm so schlecht, daß es allen peinlich wurde. Als er von der Hilflosigkeit der Frauen und der Hartherzigkeit der Männer zu stottern begann, unterbrach ihn der Präsident, um ihm die Situation zu erleichtern, und ersuchte ihn, bei der Sache zu bleiben.

Nach diesem Verteidiger erhob sich wieder der Staatsanwalt und begann seine Auffassung von der Vererbung gegen den ersten Rechtsanwalt zu verteidigen. Wenn die Botschkowa auch von unbekannten Eltern abstamme, so werde dadurch die Sicherheit der Vererbungstheorie in keiner Weise gemindert, denn diese Theorie sei von der Wissenschaft so weit fundiert, daß wir nicht nur das Verbrechen von der Vererbung, sondern auch die Vererbung vom Verbrechen herleiten könnten. Was übrigens die Annahme der Verteidigung beträfe, daß die Maslowa zum lasterhaften Lebenswandel von einem fingierten (er sprach das Wort »fingiert« besonders giftig aus) Manne verführt worden sei, so sprächen alle Ergebnisse der Untersuchung vielmehr dafür, daß sie die Verführerin vieler, sehr vieler Opfer gewesen, die durch ihre Hände gegangen seien. Nachdem er das gesagt hatte, ließ er sich wieder siegreich nieder.

Darauf wurde den Angeklagten anheim gegeben, sich zu rechtfertigen.

Jewfimia Botschkowa wiederholte nur, daß sie von nichts gewußt und sich an nichts beteiligt hätte und wies hartnäckig auf die Maslowa hin, als auf diejenige, die die einzige Schuldige sei.

Simon wiederholte nur einige Mal:

»Wie Sie wollen . . . aber schuldlos . . . ohne Grund . . . «

Die Maslowa sagte nichts. Auf das Ersuchen des Präsidenten, das, was sie zu ihrer Verteidigung vorzubringen hätte, zu sagen, erhob sie nur die Augen zu ihm und warf wie ein gehetztes Tier einen Blick um sich herum, senkte dann wieder die Augen und brach in ein lautes Schluchzen aus.

»Was ist Ihnen?« fragte der neben Nechljudow sitzende Kaufmann, als er den sonderbaren Ton vernahm, der diesem plötzlich entfuhr. Dieser Ton war ein zurückgehaltenes Schluchzen.

Nechljudow begriff noch immer nicht die ganze Bedeutung seiner jetzigen Lage und schrieb das kaum zurückgehaltene Schluchzen und die in die Augen tretenden Thränen der Schwäche seiner Nerven zu. Er setzte, um die Thränen zu verbergen, das Pincenez auf und begann sich zu schnauben.

Die Furcht vor der Schande, mit der er sich bedecken würde, wenn jetzt im Gerichtssaale alle seine Schandthat erkennen würden, erstickte die innere Arbeit, die in ihm vor sich ging. Diese Furcht drängte in der ersten Zeit alles andere in ihm zurück.