Auferstehung

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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Nach dem letzten Worte der Angeklagten und nach der Besprechung der Parteien bezüglich der Form der zu stellenden Fragen, was noch ziemlich viel Zeit in Anspruch nahm, wurden die Fragen vorgelegt und der Präsident begann sein Resümee.

Ehe er an die Darstellung des Thatbestandes ging, erklärte er den Geschworenen sehr ausführlich in einem angenehmen familiären Tone, daß Raub Raub sei, Diebstahl Diebstahl, und Entwendung aus einem verschlossenen Raum Entwendung aus einem verschlossenen Raum. Während dieser Erklärung blickte der Präsident besonders häufig auf Nechljudow, als wollte er gerade ihn auf diesen wichtigen Unterschied ganz besonders aufmerksam machen, in der Hoffnung, daß der Fürst ihn dann später auch seinen Kollegen klar machen würde. Nachdem er dann angenommen hatte, daß die Geschworenen von diesen wichtigen Wahrheiten genügend durchdrungen seien, begann er eine neue Wahrheit zu entwickeln, nämlich die, daß Mord eine solche Handlung genannt werde, durch welche der Tod eines Menschen erfolge, und daß Vergiftung daher auch ein Mord sei. Als auch diese Wahrheit, seiner Ansicht nach, von den Geschworenen ebenfalls erfaßt war, erklärte er ihnen, daß wenn Diebstahl und Mord zugleich verübt werden, der Bestand des Verbrechens sich aus Diebstahl und Mord zusammensetze.

Obgleich der Präsident selbst möglichst schnell fertig werden wollte und die Schweizerin ihn bereits erwarten mußte, so war er doch an seine Beschäftigung so sehr gewöhnt, daß er, als er ein mal angefangen hatte zu sprechen, nicht mehr auf hören konnte. Er belehrte daher die Geschworenen ausführlich, daß, wenn sie die Angeklagten für schuldig befänden, ihnen das Recht zustände, sie für schuldig zu befinden, wenn sie sie aber für unschuldig befänden, ihnen das Recht zustände, sie für unschuldig zu befinden; wenn sie sie aber in einer Sache für schuldig, in der anderen aber für unschuldig befänden, so stehe ihnen das Recht zu, sie in der einen Sache für schuldig, in der anderen für unschuldig zu befinden. Darauf er klärte er ihnen noch, daß, obgleich ihnen dieses Recht zuerkannt sei, sie davon nur in vernünftiger Weise Gebrauch machen müßten.

Er wollte ihnen auch noch erklären, daß, wenn sie auf eine der ihnen vorgelegten Fragen eine bejahende Antwort geben, sie durch diese Antwort alles das, was die Frage enthält, bejahen, und daß, wenn sie irgend einen Teil der Frage nicht bejahen wollten, sie das, was sie nicht bejahen, besonders erwähnen und ausscheiden müßten. Aber als er auf die Uhr blickte und sah, daß es schon fünf Minuten vor Drei war, entschloß er sich, so gleich zur Darlegung des Thatbestandes überzugehen.

»Der Thatbestand dieser Sache ist folgender«, so begann er und wiederholte dann alles das, was schon mehrere Male von den Verteidigern, vom Staatsanwaltsadjunkt und von den Zeugen gesagt worden war.

Der Präsident sprach, während die Mitglieder rechts und links von ihm tiefsinnig zuhörten und nur bisweilen nach der Uhr sahen. Sie fanden seine Rede zwar sehr schön, d.h. gerade so, wie sie sein mußte, aber doch etwas lang. Derselben Meinung waren auch der Staatsanwalt, alle Beamten des Gerichtshofs und alle übrigen Anwesenden.

Endlich hatte der Präsident sein Resümee beendet. Es schien jetzt alles gesagt worden zu sein. Wer der Präsident konnte sich von seinem Recht zu sprechen durchaus nicht trennen, so an genehm war es ihm, die eindringlichen Intonationen seiner Stimme zu hören. Er fand es also für angebracht, noch einige Worte über die Bedeutung des Rechtes, das den Geschworenen verliehen war, zu sagen, wie sie dieses Recht mit Vorsicht und Aufmerksamkeit benutzen und es nicht mißbrauchen sollten. Er erinnerte sie an den Eid, den sie geleistet, sagte ihnen, daß sie das Gewissen der Gesellschaft seien, daß das Geheimnis des Beratungszimmers geheiligt sein müsse u.s.w. u.s.w.

Seitdem der Präsident zu sprechen begonnen, hatte ihn die Maslowa unverwandt angeblickt, als fürchtete sie, ein Wort seiner Rede zu verlieren. Nechljudow brauchte daher nicht zu fürchten, ihren Augen zu begegnen und sah sie immerfort an. Und in seiner Vorstellung ging jene gewöhnliche Erscheinung vor sich, die man jedesmal beobachten kann, wenn man ein liebes, lange nicht gesehenes Gesicht wieder vor Augen hat. Zuerst pflegt es einen durch die vielen äußerlichen Veränderungen, die sich während der Trennung eingestellt, zu frappieren, dann allmählich wird es wieder dasselbe Antlitz, das es vor vielen Jahren gewesen war, alle Veränderungen schwinden, und vor dem geistigen Auge ersteht wieder jener Hauptausdruck der aus schließlichen unwiederholbaren geistigen Persönlichkeit. Eben dieses ging in Nechljudow vor sich.

Ja, trotz des Arrestantenschlafrocks, trotz des ganzen breiter gewordenen Körpers und der aus gewachsenen Brust, trotz des in den unteren Teilen gröber gewordenen Gesichts, trotz der Fältchen auf der Stirn und an den Schläfen, und der geschwollenen Lider, war es unzweifelhaft dieselbe Katjuscha, die am Heiligen Ostersonntag mit vor Freude und Lebensfülle lachenden, verliebten Augen so unschuldig von oben herauf zu ihm, ihrem Geliebten, geschaut hatte.

»Und so ein merkwürdiger Zufall! Mußte es sich doch gerade so treffen, daß dieser Prozeß auf meine Session fiel und daß ich sie, die ich zehn Jahre hindurch nicht getroffen, gerade hier, auf der Verbrecherbank wiedersehe! Und was für ein Ende wird das alles nehmen? Wäre es doch schneller, ach schneller zu Ende!«

Er wollte sich immer noch nicht dem Gefühl der Reue, das in ihm lebendig wurde, unter werfen. Es erschien ihm noch alles wie ein Zufall, der vorübergehen würde, ohne sein Leben zu stören. Er fühlte sich in der Lage eines jungen Hundes, der sich in der Stube schlecht aufgeführt hat und den der Herr am Kragen nimmt und mit der Schnauze in die Schweinerei, die der Hund gemacht hat, hineinstößt. Der Hund winselt, zieht sich zurück, um von den Folgen seiner That möglichst weit wegzulaufen und dieselben zu vergessen, aber sein unerbittlicher Herr läßt ihn nicht los. So empfand auch Nechljudow bereits die ganze Abscheulichkeit dessen, was er gemacht, er fühlte auch die mächtige Hand des Herren, aber er begriff noch immer nicht die Bedeutung seiner That und erkannte den Herren selbst nicht an. Er wollte immer nicht daran glauben, daß das, was er vor sich sah, sein Machwerk war. Aber die unerbittliche unsichtbare Hand hielt ihn fest, und er fühlte bereits, daß er nicht loskommen würde. Er markierte noch den Tapferen und saß noch mit selbstbewußter Miene auf seinem zweiten Platz in der ersten Reihe, die Beine übereinander geschlagen und das Pincenez zwischen den Fingern. Unterdessen aber fühlte er schon in der Tiefe seiner Seele die ganze Grausamkeit, Gemeinheit und Niedrigkeit nicht nur dieser seiner That, sondern auch seines ganzen müßigen, unsittlichen, grausamen und eigenwilligen Lebens. Und jener furchtbare Vorhang, der wie durch ein Wunder ihm diese ganze Zeit hindurch, während dieser ganzen zwölf Jahre, nicht nur dieses sein Verbrechen, sondern auch sein nachfolgendes Leben verborgen hatte, begann sich schon zu lüften, und er konnte bereits hier und da einen Blick dahinter werfen.

Dreiundzwanzigstes Kapitel,

Endlich hatte der Präsident seine Rede beendet.

Mit einer graziösen Geste hob er die Frageliste in die Höhe und übergab sie dem heran getretenen Obmann. Die Geschworenen standen auf und waren froh, weggehen zu dürfen. Als ob sie sich vor etwas schämten und nicht wüßten, was sie mit ihren Händen beginnen sollten, gingen sie einer nach dem anderen in das Beratungszimmer. Sobald sich die Thür hinter ihnen schloß, trat ein Gendarm an dieselbe; er zog den Säbel aus der Scheide, legte ihn an die Schulter und blieb an der Thür stehen. Auch die Richter er hoben sich und gingen hinaus. Die Angeklagten wurden abgeführt.

Sobald die Geschworenen das Beratungszimmer betreten hatten, holten sie, wie auch vorher, in erster Linie ihre Cigaretten hervor und begannen zu rauchen. Das Unnatürliche und Falsche ihrer Lage, das sie alle mehr oder weniger empfunden hatten, als sie auf ihren Plätzen im Saale saßen, war nun vorbei, sobald sie das Beratungszimmer betreten und ihre Cigaretten angezündet hatten. Mit dem Gefühl der Erleichterung nahmen sie Platz und begannen sogleich ein lebhaftes Gespräch.

»Die Dirne ist unschuldig, sie ist da herein gefallen . . . . Man muß ihr mildernde Umstände zuerkennen«, sagte der gutmütige Kaufmann.

»Das wollen wir also nun besprechen«, sagte der Obmann. »Wir dürfen uns nicht unseren persönlichen Eindrücken hingeben.«

»Der Präsident hat sein Resümee gut gemacht«, bemerkte der Oberst.

»Jawohl, gut! Ich bin beinahe eingeschlafen.«

»Die Hauptsache ist die, daß die Dienstboten vom Gelde überhaupt nichts hätten wissen können, wenn die Maslowa mit ihnen nicht unter einer Decke gesteckt hätte«, meinte der Kommis mit dem jüdischen Aussehen.

»Also hat sie Ihrer Meinung nach gestohlen?« fragte einer von den Geschworenen.

»Um nichts in der Welt kann ich daran glauben!« rief der gutmütige Kaufmann aus.

»Das hat alles diese rotäugige Kanaille eingebrockt.«

»Die sind alle gut«, sagte der Oberst.

»Aber sie sagt doch, daß sie im Zimmer gar nicht gewesen sei.«

»Glauben Sie ihr nur. Ich würde diesem Luder nicht über den Weg trauen.«

»Ob Sie ihr trauen oder nicht, ändert die Sache wenig«, bemerkte der Kommis.

»Sie hatte den Schlüssel.«

»Was ist denn dabei, daß sie ihn hatte?« entgegnete der Kaufmann.

»Und der Ring?«

 

»Sie hat es doch gesagt!« schrie wieder der Kaufmann. »Der Kaufmann war ja temperamenvoll und noch dazu angetrunken. Zuerst prügelte er sie und nachher that es ihm leid. . . . Da hast du, weine nicht . . . Das war ja ein Bombenkerl, zwölf Werschok, gegen acht Pud schwer, wie ich hörte . . .

»Darauf kommt es ja gar nicht an«, unter brach ihn Pjotr Gerassimowitsch. »Die Frage ist die: hat sie die ganze Sache eingefädelt, oder die Dienstboten?«

»Die Dienstboten allein konnten das nicht aus führen. Sie hatte ja den Schlüssel . . . «

Diese zusammenhanglosen Debatten dauerten ziemlich lange.

»Erlauben Sie doch, meine Herren«, sagte der Obmann. »Setzen wir uns an den Tisch und besprechen wir die Sache. Bitte . . . « Und er setzte sich auf den Präsidentenplatz.

»Sind auch ein Pack, diese Frauenzimmer«, sagte der Kommis und erzählte zur Bekräftigung seiner Ansicht, daß die Maslowa die Hauptanstifterin sei, eine Geschichte, wie ein solches Frauenzimmer seinem Kameraden einmal auf dem Boulevard die Uhr gestohlen hatte.

Der Oberst begann bei dieser Gelegenheit einen noch frappanteren Fall zu erzählen, den Diebstahl eines silbernen Samowars.

»Meine Herren, ich bitte, sich an die Fragen zu halten!« sagte der Obmann und klopfte mit dem Bleistift auf den Tisch.

Alle schwiegen.

Die Fragen waren folgendermaßen gefaßt:

1. Ist der Bauer des Dorfes Borki, Kreis Krapiwensk, Simon Petrow Kartinkin, drei und dreißig Jahre alt, dessen schuldig, daß er am 17. Januar 188 . in der Stadt N., in der Absicht, den Kaufmann Smeljkow ums Leben zu bringen, um ihn zu berauben, nach erfolgtem Einverständnis mit anderen Personen, dem Smeljkow im Kognak Gift gegeben hat, worauf Smeljkows Tod erfolgte, und demselben Geld, etwa zweitausend und fünfhundert Rubel und einen Brillantring entwendet hat.

2. Ist die Kleinbürgerin Jewfimia Iwanowa Botschkowa, drei und vierzig Jahre alt, des in der ersten Frage erwähnten Verbrechens schuldig?

3. Ist die Kleinbürgerin Jekaterina Michajlowa Maslowa, sieben und zwanzig Jahre alt, des in der ersten Frage erwähnten Verbrechens schuldig?

4. Wenn die Angeklagte Jewfimia Botschkowa nach der ersten Frage unschuldig ist, ist sie dann nicht dessen schuldig, daß sie am 17. Januar 188 . in der Stadt N., während sie im Hotel »Mauritanien« in Dienst stand, aus dem verschlossenen Koffer eines Logiergastes des genannten Hotels, des Kaufmanns Smeljkow, heimlich zweitausend fünfhundert Rubel Geld entwendet hat, zu welchem Zwecke sie den Koffer an Ort und Stelle mit einem mitgebrachten, passenden Schlüssel geöffnet hat?

Der Obmann verlas die erste Frage.

»Nun, meine Herren?«

Diese Frage wurde sehr schnell beantwortet. Alle waren mit der Antwort: »ja, schuldig«, einverstanden und erkannten den Kartinkin als Mitthäter an der Entwendung sowohl als auch an der Vergiftung. Nicht einverstanden, den Kartinkin als schuldig zu erklären, war nur ein alter Mann, Mitglied einer Arbeitergenossenschaft, der alle Fragen im Sinne der Freisprechung beantwortet haben wollte.

Der Obmann glaubte, daß der Mann die Sache nicht verstehe und erklärte ihm, wie es augenscheinlich sei, daß Kartinkin und die Botschkowa schuldig wären. Aber der Genossenschaftler antwortete, daß er alles sehr wohl verstehe, es aber immerhin für richtiger halte, Mitleid mit den Leuten zu haben. »Wir sind selbst keine Heiligen . . . « sagte er und blieb auch bei seiner Meinung.

Auf die zweite, die Botschkowa betreffende Frage, erfolgte nach langem Hin- und Herreden und Erklären die Antwort: »unschuldig«, da es keine klaren Beweise für ihre Teilnahme am Giftmord gab, — worauf ihr Advokat immer wieder hin gewiesen hatte.

Der Kaufmann, der die Maslowa freisprechen wollte, bestand zwar darauf, daß die Botschkowa die Hauptanstifterin von allem sei. Viele von den Geschworenen stimmten ihm bei, aber der Obmann wollte sich streng an das Gesetz halten und wiederholte, daß es keinen Grund gäbe, sie als Teilnehmerin am Giftmord zu erklären.

Nach langen Debatten siegte die Meinung des Obmanns.

Auf die vierte, ebenfalls die Botschkowa betreffende Frage antwortete man: »ja, schuldig«, und fügte dann auf Verlangen des Genossenschaftlers hinzu: »aber hat Anspruch auf Zuerkennung mildernder Umstände.«

Die die Maslowa betreffende Frage rief einen erbitterten Streit hervor. Der Obmann bestand darauf, daß sie sowohl des Giftmords als auch der Entwendung schuldig sei. Der Kaufmann wollte dazu nicht seine Zustimmung geben und wurde darin von dem Oberst, dem Kommis und dem Genossenschaftler unterstützt. Die übrigen schienen eine Zeit lang zu schwanken, aber die Meinung des Obmanns begann schließlich doch überhand zu nehmen, besonders weil die Geschworenen alle ermüdet waren und sich darum leichter der Meinung anschlossen, die die meiste Aussicht hatte, alle schneller zu vereinigen und somit auch zu befreien.

Nach alledem, was die gerichtliche Untersuchung zu Tage gefördert hatte und nachdem, wie Nechljudow die Maslowa kannte, war er überzeugt, daß sie sowohl an der Entwendung als auch am Mord unschuldig war. Anfangs war er auch überzeugt, daß alle das anerkennen würden, aber bald merkte er, daß die ungeschickte Verteidigung des Kaufmannes der Sache schadete. Diese Verteidigung war augenscheinlich darauf begründet, daß die Maslowa dem Kaufmann physisch gefiel, was er auch nicht verhehlte. Gerade dieses aber weckte den Widerspruch des Obmanns. Auch die Müdigkeit der Geschworenen trug dazu bei, daß sich die Entscheidung immer mehr der Schuldigsprechung zuneigte. Nechljudow merkte das wohl. Er wollte zuerst dagegensprechen, aber er fürchtete sich, für die Maslowa einzutreten, es schien ihm, daß alle sogleich seine Beziehungen zu ihr erraten würden. Dennoch fühlte er, daß er die Sache nicht auf sich beruhen lassen könnte und entgegnen müßte. Er wurde rot und blaß und wollte eben anfangen zu sprechen, als Pjotr Gerassimowitsch, der bis dahin geschwiegen hatte, offenbar durch den autoritativen Ton des Obmanns geärgert, diesem zu widersprechen begann und genau dasselbe sagte was Nechljudow hatte sagen wollen.

»Erlauben Sie«, sagte er, »Sie behaupten, daß sie des Diebstahls darum schuldig sei, weil sie den Schlüssel gehabt hätte . . . Als ob die Dienstboten den Koffer nicht nach ihr mit einem falschen Schlüssel geöffnet haben könnten? . . . «

»Nun ja, natürlich«, unterstützte ihn der Kaufmann.

»Sie konnte das Geld auch darum nicht genommen haben, weil sie in ihrer Lage mit dem selben nichts anfangen konnte.«

»Das sage ich ja auch«, bestätigte der Kaufmann.

»Viel eher brachte ihr Besuch im Hotel die Dienstboten auf diese Idee; diese benutzten dann die Gelegenheit und schoben hernach alles auf die Maslowa.«

Pjotr Gerassimowitsch sprach mit gereizter Stimme. Und seine Gereiztheit teilte sich dem Obmanne mit, der daraufhin seine entgegengesetzte Ansicht besonders standhaft zu verteidigen begann. Pjotr Gerassimowitsch sprach jedoch so überzeugend, daß die Mehrheit ihm beistimmte und zugab, daß die Maslowa an der Entwendung des Geldes und Ringes nicht beteiligt gewesen sei und den Ring vom Kaufmann geschenkt bekommen habe.

Als aber das Gespräch auf ihre Teilnahme am Giftmord überging, sagte ihr leidenschaftlicher Verteidiger, der Kaufmann, daß man sie für unschuldig erachten müsse, da sie ja keine Veranlassung gehabt hätte, den Smeljkow zu vergiften. Der Obmann aber sagte, daß man sie nicht für unschuldig halten könne, da sie ja selbst eingestanden hätte, das Pulver gereicht zu haben.

»Sie hat es gegeben, hat aber geglaubt, daß es Opium sei«, sagte der Kaufmann.

»Sie hätte ihm, auch mit Opium das Leben nehmen können«, bemerkte der Oberst, der sich gern auf Abschweifungen einließ. Bei dieser Gelegenheit begann er zu erzählen, wie sich die Frau seines Schwagers mit Opium vergiftet hätte und wohl auch gestorben wäre, wenn nicht ein Arzt in der Nähe gewesen wäre und man nicht rechtzeitig Maßregeln ergriffen hätte.

Der Oberst erzählte so eindringlich, so selbst bewußt und mit solcher Würde, daß niemand den Mut hatte, ihn zu unterbrechen.

Nur der Kommis, den das Beispiel lockte, entschloß sich, ihm ins Wort zu fallen, um seine Geschichte zu erzählen.

»Manche gewöhnen sich so sehr daran«, begann er, »daß sie bis zu vierzig Tropfen einnehmen können . . . Ich hatte einen Verwandten, der . . . «

Aber der Oberst ließ sich das Wort nicht nehmen, und fuhr fort, seine Geschichte von der Wirkung des Opiums auf die Frau seines Schwagers zu erzählen.

»Aber es ist schon über vier Uhr«, sagte endlich einer der Geschworenen.

»Also wie ist’s, meine Herren?« wandte sich der Obmann an die Geschworenen. »Wollen wir sie für schuldig erklären, aber ohne den Vorsatz, zu berauben, und fremdes Eigentum hat sie nicht entwendet?«

»Ist’s recht?«

Pjotr Gerassimowitsch, der mit seinem Siege zufrieden war, willigte ein.

»Aber sie verdient mildernde Umstände«, fügte der Kaufmann hinzu.

Alle waren einverstanden, nur der Genossenschaftler nicht, sondern er bestand darauf, daß man antworten müsse: »nein, unschuldig.«

»Das kommt ja darauf heraus«, erklärte der Obmann. »Auf diese Weise ist sie ja unschuldig.«

»Also drauf los: und verdient mildernde Um stände. Was also geblieben ist, auch das wird damit getilgt . . . « sagte lustig der Kaufmann.

Alle waren so müde geworden und hatten sich so in den Debatten verwickelt, daß es niemand in den Sinn kam, der Antwort beizufügen: ja, aber ohne den Vorsatz, des Lebens zu berauben.

Nechljudow war so aufgeregt, daß auch er es nicht bemerkte.

In dieser Fassung wurden die Antworten auf gezeichnet und in den Gerichtssaal getragen.

Rabelais schreibt, daß ein Jurist, den man um seinen Urteilsspruch anging, nach einem Hinweis auf alle möglichen Gesetze und nach Verlesung von zwanzig Seiten sinnlosen juristischen Lateins den Streitenden vorgeschlagen habe, einfach zu würfeln: Paar oder Unpaar. Wenn Paar — so habe der Kläger recht, wenn Unpaar — der Beklagte.

So war es auch hier. Dieses und nicht ein anderes Urteil wurde gefällt, nicht weil alle damit einverstanden waren, sondern erstens darum, weil der Präsident, der so viel Zeit zu seinem Resümee gebraucht, es diesmal unterlassen hatte, etwas, was er sonst immer zu erwähnen pflegte, zu sagen; nämlich, daß die Geschworenen die Frage auch so beantworten könnten: »Ja, schuldig, aber ohne Vorsatz, des Lebens zu berauben.« Der zweite Grund war der, daß der Oberst sehr ausführlich und langweilig die Geschichte von der Frau seines Schwagers erzählte. Der dritte der, daß Nechljudow so aufgeregt war, daß er die Weglassung der Klausel: »aber ohne Vorsatz, des Lebens zu berauben«, nicht merkte, sondern glaubte, daß schon die Klausel: »ohne vorgefaßte Absicht, zu berauben«, die Anklage vernichte. Der vierte Grund endlich für die Annahme dieses Urteils war der, daß Pjotr Gerassimowitsch im Zimmer nicht anwesend war; er war gerade hinausgegangen, als der Obmann die Fragen und Antworten noch ein mal durchnahm. Der hauptsächlichste Grund aber war der, daß alle ermüdet waren und möglichst bald frei werden wollten. Daher stimmten sie alle der Entscheidung zu, durch welche die ganze Sache am schnellsten erledigt wurde.

Die Geschworenen klingelten. Der Gendarm, der mit gezogenem Säbel an der Thür stand, steckte die Waffe in die Scheide und trat zur Seite. Die Richter setzten sich auf ihre Plätze, und einer nach dem anderen traten die Geschworenen ein.

Der Obmann trug mit feierlichem Ausdruck den Fragebogen. Er trat an den Präsidenten heran und überreichte ihm denselben. Der Präsident warf auf den Bogen einen Blick und machte mit der Hand ein demonstratives Zeichen des Staunens. Er wandte sich an seine Kollegen und begann sich mit ihnen zu besprechen.

Den Präsidenten wunderte es, daß die Geschworenen, während sie die eine Klausel: »ohne Vorsatz, zu berauben« eingefügt hatten, die zweite Klausel: »ohne Vorsatz, des Lebens zu berauben«, außer Acht gelassen hatten. Es ergab sich also nach Ansicht der Geschworenen, daß die Maslowa Weder gestohlen, noch geraubt, zugleich aber ohne jeden ersichtlichen Zweck einen Menschen vergiftet hatte.

»Sehen Sie mal, was für einen Blödsinn die gebracht haben!« sagte er zu dem Mitgliede links. »Das bedeutet ja Zwangsarbeit, während sie doch unschuldig ist . . . «

»Nun, wo denn unschuldig«, meinte das strenge Mitglied.

»Ganz einfach unschuldig. Meiner Ansicht nach giebt das eine Veranlassung zur Anwendung des § 817.«

 

Der § 817 lautet dahin, daß das Gericht, wenn es die Verurteilung für ungerecht erachtet, das Urteil der Geschworenen aufheben kann.

»Wie meinen Sie?« wandte sich der Präsident an das gutmütige Mitglied.

Das gutmütige Mitglied antwortete nicht gleich, er sah auf die Nummer des vor ihm liegenden Papiers und addierte die Zahlen, — es ging nicht durch drei. Er hatte die Absicht, seine Zustimmung dann zu geben, wenn die Summe durch drei teilbar wäre. Aber obgleich drei in der Zahl nicht aufging, so stimmte er dennoch aus Gutmütigkeit zu.

»Ich denke auch, daß man es thun müßte«, sagte er.

»Und Sie?« wandte sich der Präsident an das mißmutige Mitglied.

»Auf keinen Fall!« antwortete dieser entschieden. »Die Zeitungen schreiben schon so wie so, daß die Geschworenen Verbrecher freisprechen, was werden sie erst sagen, wenn der Gerichtshof dasselbe thut. Ich bin in keinem Falle einverstanden.«

Der Präsident sah nach der Uhr.

»Schade, aber was ist da zu machen . . . « Und er übergab die Fragen dem Obmann zur Verlesung.

Alle erhoben sich, der Obmann räusperte sich, verlegen von einem Fuß auf den anderen tretend, und las die Fragen und Antworten vor. Alle Beamten des Gerichts, der Sekretär, die Advokaten und sogar der Staatsanwalt äußerten Zeichen des Erstaunens.

Die Angeklagten saßen teilnahmlos da, ohne, wie es schien, die Bedeutung der Antworten zu verstehen.

Wieder setzten sich alle und der Präsident fragte den Staatsanwalt, mit welchen Strafen nach seiner Ansicht die Angeklagten zu belegen seien.

Der Staatsanwaltsadjunkt war über seinen unerwarteten Erfolg bezüglich der Maslowa sehr er freut und schrieb denselben seiner Beredsamkeit zu. Er schlug irgendwo etwas nach, erhob sich ein wenig und sagte:

»Simon Kartinkin wäre auf Grund des Artikels 1452 und § 4 des Artikels 1453, Jewfimia Botschkowa auf Grund des Artikels 1659 und Jekaterina Maslowa auf Grund des Artikels 1454 abzuurteilen . . . «

Alle diese Strafen waren die strengsten, die nur angewandt werden konnten.

»Das Gericht entfernt sich, um die Entscheidung zu treffen«, sagte der Präsident, sich erhebend.

Alle erhoben sich nach ihm, und mit dem erleichternden und angenehmen Bewußtsein einer vollbrachten That fingen sie an, hinauszugehen oder sich im Saal hin und her zu bewegen.

»Aber mein Bester, wir haben doch etwas Schändliches zusammengepfuscht«, sagte Pjotr Gerassimowitsch, an Nechljudow herantretend, dem der Obmann etwas erzählte. »Wir haben sie doch zur Zwangsarbeit verdonnert.«

»Was sagen Sie?« rief Nechljudow aus, ohne diesmal die unangenehme Familiarität des Lehrers zu bemerken.

»Ja natürlich«, meinte der Lehrer. »Wir haben ja in der Antwort nicht gesagt: »schuldig, aber ohne den Vorsatz, des Lebens zu berauben.« Der Sekretär erzählte mir eben, daß der Staatsanwalt fünfzehn Jahre Zwangsarbeit beantragt.«

»Wir haben es doch so beschlssfen«, sagte der Obmann.

Pjotr Gerassimowitsch fing an zu streiten. Er meinte, daß es selbstverständlich gewesen wäre, daß, wenn sie das Geld nicht entwendet, sie auch nicht die Absicht gehabt hätte, den Kaufmann zu vergiften.

»Ich hatte doch die Antworten vor Schluß der Beratung verlesen und niemand protestierte«, entschuldigte sich der Obmann.

»Ich war damals gerade aus dem Zimmer hinausgegangen«, sagte Pjotr Gerassimowitsch. »Wie haben Sie es denn verpaßt?«

»Ich hätte das nie geglaubt«, sagte Nechljudow.

»Nie geglaubt . . . Da haben Sie es.«

»Aber das läßt sich noch gut machen«, sagte Nechljudow.

»Nein, mein Bester, jetzt ist Schluß . . .

Nechljudow sah auf die Angeklagten. Sie, deren Schicksal entschieden war, saßen noch immer ebenso unbeweglich hinter ihrem Gitter vor den Soldaten. Die Maslowa lächelte über irgend etwas. Und in Nechljudows Seele regte sich ein schlechtes Gefühl. Vorher, als er vorausgesetzt hatte, daß sie freigesprochen werden und in der Stadt bleiben würde, war er im Zweifel gewesen, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte. Und das Verhalten gegen sie war schwer. Die Zwangsarbeit aber und Sibirien vernichteten plötzlich die Möglichkeit jeglichen Verhältnisses zu ihr. — Der angeschossene Vogel würde aufhören in der Jagdtasche zu zucken und an sich zu erinnern.