Mit Kindern neue Wege gehen

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Das heißt natürlich nicht, daß wir einfach nur „aus dem hohlen Bauch“ handeln sollten, ohne uns über die Folgen unseres Tuns Gedanken zu machen. Alles, was wir tun oder nicht tun, hat Folgen, und nur wenn wir versuchen, uns dieser Folgen gewahr zu werden, nur wenn wir uns unseren Kindern und unserer Situation wirklich zuwenden und bewußt unsere eigenen Entscheidungen treffen, können wir einen Weg finden, der wirklich unser eigener ist. Und nur ein solcher, eigener Weg führt dazu, daß unsere Kinder sich von uns angenommen und geliebt und auf ihrem Weg ins Leben begleitet fühlen können. Jon Kabat-Zinn sagte am Ende eines Interviews: „Das größte Geschenk, das wir Kindern machen können, sind wir selbst.“ Kinder möchten mit uns eine echte Beziehung eingehen, sie haben kein Interesse an „perfekten“ Eltern, die immer alles richtig machen wollen. Es ist unausweichlich, daß wir Fehler machen und daß unsere Kinder unter diesen Fehlern zu leiden haben, aber wenn wir die innere Bereitschaft haben, aus diesen Fehlern zu lernen, ist das alles, was nötig ist.

Vielleicht zweifeln auch Sie hin und wieder daran, daß Sie der Aufgabe gerecht werden und Ihre Kinder auf angemessene Weise ins Leben begleiten können. Elternsein ist sicherlich eine der anstrengendsten und streßreichsten Aufgaben, die es auf dieser Erde gibt, und da es eine solch gewaltige Herausforderung ist, sehnen wir uns oft einfach danach, einen Weg zu finden, alle Schwierigkeiten, Zweifel und Ängste, die mit dieser Aufgabe verbunden sind, möglichst auf einen Schlag loszuwerden. Das letzte, was wir uns wünschen, sind noch mehr Aufgaben, noch mehr, was wir machen sollen, um „gute Eltern“ zu sein.

In diesem Buch geht es nicht darum, was Sie noch alles tun sollten, sondern vielmehr darum, erst einmal innezuhalten, einen Schritt zurückzutreten und Ihre Situation mit neuen Augen zu sehen. Vielleicht sehen Sie dann deutlicher, was Sie wirklich wollen, welche Werte Sie in Ihrem Familienleben pflegen und verwirklichen wollen und wie Sie einen Weg finden können, der es Ihren Kindern und Ihnen selbst ermöglicht, ein erfülltes Leben zu führen.

Geschichte Der ehrgeizige junge Bauer

Im alten China gab es einen jungen, ehrgeizigen Bauern, der ein großes Feld erworben hatte und nun darauf brannte, seine erste Ernte einzufahren. Er kaufte besonders ertragreiches Saatgut, und so konnte er mit der Arbeit beginnen. Nachdem er den Boden bearbeitet, das Saatgut ausgebracht und alles weitere für ein gutes Wachstum der Pflanzen getan hatte, legte er sich zufrieden zur Ruhe.

Jeden Morgen schaute der junge Bauer auf seinem Feld nach, ob seine Saat schon aufgegangen war. Groß war seine Freude, als die ersten Halme aus der Erde kamen. Schon bald war das ganze Feld übersät von jungen Trieben. Immer noch ging er jeden Morgen auf sein Feld, um das weitere Wachstum seiner Pflanzen zu verfolgen. Aber es dauerte ihm alles viel zu lange. Er wollte doch so gerne die Früchte seiner Arbeit in Händen halten – und das natürlich so schnell wie möglich.

Eines Abends nun hatte er eine Idee: Wie wäre es, wenn er an allen Halmen ein wenig ziehen würde, um sie so zu schnellerem Wachstum anzuregen? Er war so begeistert von dieser Idee, daß er sofort aufstand, auf sein Feld ging und bis tief in die Nacht hinein an jedem einzelnen Hälmchen zog und zupfte. Nach getaner Arbeit legte er sich schließlich zufrieden in sein Bett.

Am nächsten Morgen ging er voller Erwartung auf sein Feld. Aber was mußte er sehen: Alle jungen Triebe lagen verwelkt auf dem Boden, seine ganze Arbeit war umsonst gewesen. Diese Lektion sollte er sein ganzes Leben lang nicht vergessen. Er hatte gelernt, geduldig zu warten und der Kraft der Pflanzen zu vertrauen, statt seiner Ungeduld zu erliegen und in den natürlichen Lauf der Dinge einzugreifen. Wachstum und Entwicklung brauchen ihre Zeit, und ich erreiche nichts Gutes, wenn ich versuche, diese Zeit zu verkürzen.


Geschichte Die Lehre des Engels

Es war einmal ein Engel, der wußte, wie gerne die Menschen feste Überzeugungen hegen und sich mit anderen Menschen, die der gleichen Meinung sind, zu Gruppen, Glaubensrichtungen oder politischen Parteien zusammenschließen. Dieser Engel wollte den Menschen nun zeigen, wie verrückt, absurd und schädlich dieses Verhalten ist und ihnen helfen, vielleicht sogar über sich selbst lachen zu können. Er ließ sich einen großen Hut anfertigen, der genau in der Mitte geteilt war. Auf der einen Seite war er von leuchtendem Blau, auf der anderen Seite von flammendem Rot. Dann begab sich der Engel in einen Ort, wo auf beiden Seiten der Dorfstraße viele Menschen auf dem Acker arbeiteten. Dort zeigte er sich dann in all seiner Herrlichkeit und ging gemessenen Schrittes die Straße entlang. Alle Menschen auf der rechten Seite, ebenso wie alle Menschen auf der linken Seite der Straße hielten von Staunen und Ehrfurcht ergriffen in ihrer Arbeit inne und schauten zu dem Engel auf, der mit seinem Licht die ganze Gegend erhellte. Dann verschwand er plötzlich. Zunächst war es still, doch dann riefen alle: „Wir haben einen Engel gesehen! Wir haben einen Engel gesehen!“ Alle waren voller Freude und überglücklich, bis einer der Menschen von der linken Seite der Dorfstraße sagte: „War er nicht wunderbar, in all seiner Herrlichkeit und mit seinem roten Hut?“ Die anderen Bewohner der linken Seite stimmten ihm zu, aber von der rechten Seite kam Widerspruch: „Was redet ihr da? Er hatte einen blauen Hut auf!“, und die anderen Bewohner der rechten Seite stimmten ihm zu.

Die Meinungsverschiedenheit spitzte sich mehr und mehr zu, bis die Menschen auf beiden Seiten der Dorfstraße Barrikaden errichteten und begannen, sich gegenseitig mit Steinen zu bewerfen. Da erschien der Engel von neuem. Dieses Mal ging er in die andere Richtung – um dann wieder plötzlich zu verschwinden. Die Menschen von den beiden Straßenseiten schauten sich an, und die auf der linken Seite sagten: „Es tut uns leid, wir haben uns geirrt, er hatte tatsächlich einen blauen Hut auf. Bitte vergebt uns, wir haben uns getäuscht.“ Die Menschen von der rechten Seite erwiderten: „Aber nicht doch – wir haben uns getäuscht!“ Nun machte sich Unsicherheit breit. Sollten sie weiter gegeneinander kämpfen oder sollten sie Freundschaft schließen? Die meisten waren vollkommen ratlos und verwirrt angesichts der neuen Situation. Da erschien der Engel ein weiteres Mal. Strahlend und gemessenen Schrittes ging er bis zur Mitte der Straße. Dort blieb er kurz stehen, drehte sich langsam nach links und dann wieder nach rechts – und verschwand. Nach einer kurzen Pause der Verblüffung fingen alle herzlich an zu lachen, und fortan waren sie vorsichtiger, wenn sie in sich die Tendenz spürten, an ihren Vorstellungen und Überzeugungen um alles in der Welt festhalten zu wollen.



ReflexionInnehalten

Unser Leben ist häufig geprägt von ständiger Geschäftigkeit. Immer gibt es etwas zu tun oder zu organisieren. Vor allem wenn wir Kinder haben, scheint einfach nie Raum für Nicht-Tun dazusein. Entstehen einmal Lücken in unserem Alltag, so vertreiben wir uns mit Fernsehen, Zeitunglesen oder mit anderen Aktivitäten die Zeit. Momente der Stille, der Leere machen uns eher unruhig, und so lenken wir uns schnell wieder ab. Innere Unruhe und Streß sind die unvermeidliche Folge. Unsere Kultur kennt keine Wertschätzung für das Nicht-Tun – im Gegenteil, sie bietet eine Fülle von Ablenkungen, um der inneren Leere zu entfliehen. Diese Geschäftigkeit kann die innere Leere jedoch nie wirklich ausfüllen, und so laufen wir immer schneller. Dazu gibt es eine Zen-Geschichte von einem Mann und einem Pferd. Der Mann sitzt auf seinem galoppierenden Pferd. Er hat es offensichtlich sehr eilig. Vom Wegrand sieht ihn ein Freund, der ihm zuruft: „Wohin so eilig?“ Worauf der Reiter gerade noch zurückrufen kann: „Keine Ahnung! Frag das Pferd!“

Dieser Zustand kommt mir recht bekannt vor, wenn ich mich vom alltäglichen Streß mitreißen lasse. Ich vergesse dann, wohin ich eigentlich möchte, und meine Gewohnheiten treiben mich so sehr zur Eile, daß ich nur schwer anhalten kann. In diesem Zustand ist es unmöglich, zu meinem Sohn in einen wirklichen Kontakt zu treten. Achtsamkeit ist das Heilmittel, einen Weg zu finden, nicht gleich auf unser Pferd zu springen, wenn es losgaloppieren will.

Es gibt eine andere alte Weisheitsgeschichte, in der ein verzweifelter Suchender zu einem Meister kommt und diesem schildert, was er alles getan hat, um zu innerem Frieden und Glück zu finden. Der Meister lacht und sagt dem Suchenden: „Auf deiner Suche nach Glück eilst du so schnell durch dein Leben und bist ständig so beschäftigt, daß es dich nie einholen kann. Du mußt nämlich wissen – dein Glück läuft immer hinter dir her, aber es erwischt dich einfach nicht, wenn du ständig in Bewegung bist. Halte inne, und es wird dich erreichen.“

Auch im Leben mit Kindern ist es sehr hilfreich, immer wieder innezuhalten und die Leere des „Ich-weiß-Nicht“ ertragen und im Laufe der Zeit vielleicht sogar schätzen zu lernen. Besonders hilfreich ist es, wenn wir es uns zur Gewohnheit machen, in derartigen Situationen zunächst einmal uns selbst Einfühlung zu geben. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit, ohne zu beurteilen oder etwas Bestimmtes zu erwarten, auf unseren eigenen inneren Zustand lenken, bekommen wir mit der Zeit ein besseres Gefühl für uns selbst. Da alles, was wir tun, durch unseren emotionalen Zustand gefärbt wird, ist es außerordentlich hilfreich, wenn wir uns bewusst sind, was sich gerade in uns abspielt. Nur so können wir, statt automatisch zu reagieren, eine Antwort finden, die der Situation, dem Kind und uns selbst angemessen ist. Denn nur in diesem leeren Raum können wir mit unserer Intuition in Verbindung kommen, die Signale, die Kinder uns geben, verstehen und auf einer tieferen Ebene mit ihnen in Kontakt treten. Wenn wir im Leben mit Kindern, oder auch in anderen Situationen, nicht weiterwissen, suchen wir die Lösung normalerweise außen. „Was soll ich tun, wenn mein Kind …“ ist eine verständliche und weitverbreitete Frage, und es gibt ja auch genügend Fachleute, die schnell mit Ratschlägen bei der Hand sind. Wenn all diese wohlgemeinten Ratschläge im Umgang mit Kindern wirklich etwas nützen würden, wären wir schon lange perfekte Eltern, und Schwierigkeiten im Leben mit Kindern wären die Ausnahme. Tatsächlich ist in jeder Frage im Leben mit Kindern auch die Antwort enthalten. Sie ist vielleicht nicht unbedingt leicht zu entdecken, aber wenn wir lernen, das Nichtwissen zu ertragen, offen zu bleiben und uns auf unsere Kinder einzulassen, wird sie sich nach und nach zeigen.

 

ÜbungInnehalten

Eine sehr wirkungsvolle Möglichkeit, unseren inneren Raum zu erweitern, ist die Praxis der Achtsamkeit. Gleichzeitig ist sie ein wertvolles Werkzeug zur Streßbewältigung und zur Regeneration. Eltern haben manchmal Schwierigkeiten, ein wenig Zeit für diese „innere Arbeit“ zu finden. Aber es ist unmöglich, unseren Kindern zu geben, was sie brauchen, wenn wir uns selbst dabei außer acht lassen. Dann hilft es uns, einen Weg zu finden, auf dem auch wir die innere Nahrung bekommen, die wir brauchen. Da ich dieses Thema für besonders wichtig halte, habe ich ihm den dritten Teil dieses Buches gewidmet. Ich möchte Sie aber schon jetzt einladen, hin und wieder innezuhalten und die Aufmerksamkeit auf Ihre Reaktionen zu lenken, wenn Sie in eine Situation geraten, in der Sie mit einem Gefühl der Unsicherheit, der Ohnmacht oder auch der Leere, der Langeweile konfrontiert sind. Versuchen Sie einfach wahrzunehmen, wie Sie in Ihrem Alltag auf Situationen reagieren, die derartige Zustände hervorrufen. Es geht in dieser Art von Übung zunächst einmal nicht darum, etwas oder sich selbst zu verändern oder sich in irgendeiner Weise zu beurteilen. Sie müssen nichts anders, nichts richtig machen, sondern es geht darum, daß wir uns selbst und unsere Reaktionsweisen kennenlernen, daß wir ein echtes Interesse an uns selbst und unserer eigenen Art und Weise zu reagieren entwickeln. Wenn wir zu schnell reagieren, uns bewerten und verändern wollen, endet dies eher in Selbstmanipulation. Aber wenn wir beginnen, uns selbst besser wahrzunehmen, und wenn es uns mit der Zeit gelingt, unseren inneren Raum zu erweitern, können wir vielleicht hin und wieder aussteigen, wenn unsere alten gewohnheitsmäßigen Verhaltensmuster das Ruder übernehmen wollen.

Wenn Sie bei dieser Selbsterforschung entdecken, daß einige Ihrer Reaktionen im Leben mit Ihren Kindern wenig hilfreich oder sogar schädlich sind, können Sie irgendwann damit beginnen, zu experimentieren, ob es möglich ist, einen Moment innezuhalten. Sie können sich einfach innerlich „Stopp“ sagen, zwei- oder dreimal langsam tief ein- und ausatmen und Ihre Aufmerksamkeit nach Innen, auf Ihren Zustand richten – ohne diesen zu beurteilen oder ändern zu wollen. Dann können Sie sich fragen, was eigentlich los ist. Besonders hilfreich ist es, wenn Sie herausfinden, welches Bedürfnis in Ihnen unbefriedigt ist. So entsteht mit der Zeit ein innerer Raum, in dem sich die Möglichkeit ergibt, daß Sie die Situation mit neuen Augen sehen und so auch zu einer anderen Art und Weise finden können, auf sie zu antworten.

In diesem Zusammenhang gibt es eine schöne Geschichte von einer Mutter, die durch den Kontakt zu dem bekannten buddhistischen Meister Thich Nhat Hanh zur Praxis der Achtsamkeit gefunden hat:

Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, wie leicht wir in unserem Alltag von unseren Gewohnheiten mitgerissen werden und wie schnell wir den Kontakt zu uns und zu dem, was wir gerade tun, verlieren. Um sich immer wieder daran zu erinnern, in den gegenwärtigen Moment zurückzukehren, war diese Familie dem Rat von Thich Nhat Hanh gefolgt und hatte in ihrem Wohnzimmer eine Klangschale aufgestellt. Immer mal wieder, wenn jemand an dieser Schale vorbeikam, oder wenn jemand merkte, daß sich eine Atmosphäre von Hast und Streß aufbaute, konnte er die Schale anschlagen. Dies war dann das Signal für alle, innezuhalten, die Aufmerksamkeit nach innen auf den Atem zu richten, sich zuzulächeln und sich so einen Moment Raum zu geben, wieder bei sich anzukommen.

Wie die Mutter erzählte, hatte ihr dreijähriger Sohn den Wert dieser Praxis sehr schnell erkannt. Eines Tages, sie war gerade in Eile und wollte nur schnell noch die Betten machen, hörte die Mutter im Nebenzimmer ein lautes Scheppern und Klirren. Als sie schon deutlich angespannt in das Wohnzimmer kam, sah sie, daß ihr Sohn bei dem Versuch, eine Schale mit Keksen zu stibitzen, diese fallengelassen hatte, wodurch sie dann zu Bruch ging. Das war zuviel des Guten. Gerade kochten in ihr die Emotionen hoch, und sie war kurz davor, ihren Sohn nicht gerade sehr achtsam und respektvoll zurechtzuweisen, als dieser schnell zu der Klangschale eilte und diese anschlug. Es war also nun ihre Aufgabe, innezuhalten und sich nach innen zu wenden.

Der Zauber war unmittelbar gebrochen und ihre Wut verflogen. Natürlich wies sie ihren Sohn dann trotzdem noch zurecht, aber es geschah in einer vollkommen anderen Weise, getragen von einem inneren Lachen und ohne die Anwendung von Macht oder Gewalt.

Vor allem unter Streß verlieren wir leicht die Kontrolle über uns, und wir tun oder sagen Dinge, die wir später manchmal gar nicht mehr nachvollziehen können. Dies ist in gewisser Weise eine natürliche Reaktion, die in früheren Zeiten für unser Überleben unerläßlich war. Wenn wir in Gefahr gerieten, mußte unser Organismus möglichst schnell zu Angriff oder Flucht aktiviert werden. Dazu werden bei Gefahr besondere Streßhormone wie Adrenalin ausgeschüttet, die dafür sorgen, daß wir möglichst schnell und automatisch reagieren. Die Pupillen weiten sich, unser Blick verengt sich, unser Denken ist stark eingeschränkt, Puls sowie Atmung beschleunigen sich, und unser gesamter Körper wird so blitzartig in Kampf- beziehungsweise Fluchtbereitschaft gebracht.

Diese automatische Streßreaktion ist in unserer heutigen Zeit und vor allem im Leben mit Kindern natürlich wenig hilfreich. Aber sie ist es, die uns manchmal in einer Weise reagieren läßt, die uns vielleicht über uns selbst erschrecken läßt. Der erste Schritt, aus diesem Reaktionsmuster auszusteigen, besteht darin, daß wir erkennen, was sich gerade abspielt. Nur wenn uns mitten in einem solchen Anfall bewußt wird, daß wir beginnen auszurasten, können wir uns innerlich „Stopp!“ sagen. Vielleicht merken wir dann, wie sich unsere Fäuste ballen, das Blut in den Kopf steigt und sich alles in uns darauf ausrichtet, das „Objekt“ unseres Stresses anzugreifen.

In diesem Zustand sind wir nicht zu klarem Denken in der Lage, und so mag es sehr sinnvoll sein, vielleicht erst einmal ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen, ein paar Schritte auf und ab zu gehen oder sogar den Raum zu verlassen, bis wir uns wieder so weit beruhigt haben, daß wir wieder „wir selbst“ sind und die Situation auch wieder aus den Augen unseres Kindes sehen können.

Sollte uns doch der Geduldsfaden reißen, ist es sehr wichtig, uns hinterher zu entschuldigen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie wir die Umgebung oder unseren Tagesablauf in einer Weise organisieren können, daß der Streß nicht dazu führt, daß wir unsere Kinder als Last oder gar als bedrohlich ansehen.

Myla und Jon Kabat-Zinn sprechen gern davon, daß es manchmal scheint, als wären wir, oder auch unsere Kinder, in einer Art Zauberbann gefangen. Wir können zu einer bösen Hexe oder einem bedrohlichen Riesen werden, wenn unsere Emotionen mit uns durchgehen. Der erste Schritt, uns aus einem solchen bösen Zauber zu befreien, besteht darin, erst einmal innezuhalten und nicht automatisch zu reagieren, wie es uns dieser Zustand eingibt. Das heißt nicht, daß wir unsere Gefühle unterdrücken sollen. Wir geben ihnen innerlich Raum, aber wir können lernen, uns nicht einfach mitreißen zu lassen. So wird es uns mit der Zeit möglich, eine geeignetere Antwort auf eine Situation zu finden.

Schön, daß es dich gibt

Von einem Stamm in Afrika wird die folgende Geschichte erzählt:

Wenn eine Frau den Wunsch in sich verspürte, einem Kind das Leben zu schenken, ging sie alleine in den Wald und wartete in der Stille lauschend auf das Lied des Kindes, das zu ihr kommen wollte.

Wenn sie das Lied schließlich hören konnte, summte sie es viele Male vor sich hin und ging dann zu dem zukünftigen Vater, um es ihn zu lehren und es mit ihm gemeinsam zu singen.

Während das Kind in Liebe gezeugt wurde, trugen die zukünftigen Eltern das Lied in ihrem Herzen, und später, während seiner Geburt, wurde es von allen gesungen, die dieser beiwohnten.

Immer wenn es Kummer hatte oder ihm ein Leid widerfuhr, wurde sein Lied gesungen – und auch bei allen wichtigen Anlässen, auf seinem Weg durch die Welt.

Das Lied begleitete ihn durch sein ganzes Leben. Und wenn ein Mensch schließlich im Sterben lag, wurde sein Lied wiederum gesungen, so daß es ihn auch auf seinem Weg aus der Welt begleitete.

Diese Geschichte hörte ich von dem bekannten buddhistischen Meditationslehrer Jack Kornfield. Ich finde, daß sie von einem geradezu unglaublichen Einfühlungsvermögen zeugt. Auch wenn wir eine solche Tiefe wahrscheinlich kaum erreichen können, kann uns diese Geschichte doch inspirieren, uns auf unsere Kinder einzustimmen und uns immer wieder zu fragen, wer sie in ihrem innersten Wesen wirklich sind. Sie steht für eine innere Haltung der bedingungslosen Liebe, die ein Kind nicht deshalb schätzt, weil es unseren Erwartungen entspricht oder weil wir etwas von ihm zurückbekommen, sondern einfach nur, weil es da ist. Ich bin überzeugt, daß die Erfahrung, bedingungslos geliebt zu sein, für alle Menschen ein grundlegendes Bedürfnis ist, das allerdings nur selten befriedigt wird. Bei vielen Menschen hat sich zum Beispiel das Gefühl festgesetzt, daß sie etwas Bestimmtes leisten oder darstellen müssen, um liebenswert zu sein. So entsteht ein ungeheurer Leistungsdruck, dessen Auswirkungen nicht nur unser Leben als Eltern, sondern alle Bereiche unseres Daseins stark beeinflussen. Gleichzeitig besteht das Gefühl, diesen Erwartungen nie gerecht werden zu können, was den inneren Druck noch erhöht. Unsere eigenen Kindheitserfahrungen haben häufig dazu geführt, daß wir glauben, uns die Liebe unserer Mitmenschen verdienen zu müssen. Eine Prägung, die ungeheure Auswirkungen auf unser Innenleben hat.

Vielleicht stellen Sie sich selbst einmal die Frage: „Wie würde ich mich fühlen, wenn ich die absolute Gewißheit hätte, daß ich in meinem Wesen wahrgenommen und bedingungslos geliebt werde – so wie ich bin, ohne Wenn und Aber?“

Wird dieses Bedürfnis erfüllt, hat das Kind die innere Sicherheit, daß das Leben es trägt. Die Annahme und Liebe der Eltern ist somit die wichtigste Bedingung dafür, daß ein Kind sein inneres Potential entfalten kann. Denn die Erfüllung dieses Bedürfnisses ist nicht nur die Basis für unsere emotionale Ausgeglichenheit, sondern auch für die Entwicklung unserer Kreativität, Intelligenz und Fähigkeit, auf neue und unerwartete Situationen angemessen zu antworten. (Ich vermeide hier bewußt das Wort „reagieren“, da es meist eher auf eine automatische, gewohnheitsmäßige Reaktion und nicht auf eine adäquate „Antwort“ auf eine gegebene Situation hinweist.) Alle Untersuchungen aus der Entwicklungs- und Gehirnforschung haben ohne jeden Zweifel gezeigt, daß Lernen und echte Entwicklung vor allem in einem Zustand möglich sind, der von innerer Entspannung und Geborgenheit geprägt ist. Jede Art von Angst, innerer Anspannung oder Unsicherheit verhindert die Möglichkeit, der Welt mit offenen Sinnen zu begegnen und führt durch die Ausschüttung von Streßhormonen zu einer eingeschränkten Wahrnehmungsund Lernfähigkeit. Von daher ist die innere Sicherheit, die aus dem Gefühl erwächst, daß wir ohne Bedingungen so angenommen und geliebt werden, wie wir sind, die wichtigste und unerläßliche Voraussetzung für die volle Entfaltung des Menschen.

Das heißt natürlich nicht, daß wir alles gutheißen müssen, was ein Kind tut, oder ständig mit einem lächelnden Gesicht herumlaufen sollten – vielmehr geht es darum, daß das Kind spürt, daß es eine Quelle der Freude für seine Eltern ist und keine Last.

 

Wenn sich in einer Familie oder bei einem Paar ein Kind anmeldet, ist diese Nachricht so gut wie immer von starken Gefühlen begleitet. Egal ob schon ein oder mehrere Kinder da sind oder ob es das erste ist – immer bedeutet es einen großen Einschnitt im Leben der werdenden Eltern. Neben den verschiedensten Hoffnungen, Ängsten und Zweifeln stellt sich häufig auch eine außergewöhnliche Freude, ja vielleicht sogar ein tiefes Glücksgefühl ein. Manche Psychologen sprechen dabei etwas abfällig von den „verliebten Müttern“. Tatsächlich handelt es sich um eine spontane innere Öffnung und ein herzliches Willkommen, das es dem Kind erleichtert, in der neuen Situation wirklich anzukommen.

Nehmen die werdenden Väter am Prozeß der Schwangerschaft und der Geburt aktiv teil, bringt sie dies häufig mit Teilen von sich in Verbindung, von denen sie vorher vielleicht gar nicht geahnt hatten, daß sie in ihnen sind. Eine weiche Stelle in ihrem Inneren wird berührt, die eine tiefe Liebe, Feinfühligkeit und Fürsorge an den Tag bringt. Auch wenn diese plötzliche Sensibilität manchmal zu Unsicherheiten oder einer ungewohnten Schüchternheit führen kann, ist diese Zeit auch für viele Männer eine besondere Gelegenheit, mit tieferen Aspekten von sich selbst in Berührung zu kommen.

Schließlich ist das Kind da, und neben der Freude schleicht sich früher oder später auch die Frage in den Eltern ein, ob sie dieser Aufgabe wirklich gewachsen sind.

Alles mögliche muß geregelt und organisiert werden, und mit der Zeit kann es sein, daß wir den Kontakt zu unserer Freude und Liebe wieder verlieren. Streß, Müdigkeit, vielleicht sogar Depressionen können auftreten, und manchmal wird das Kind, das vorher Anlaß zu Freude und tiefem Glück war, langsam, aber sicher zu einer Last. Dies wiederum teilt sich den Kindern mit, auch wenn es nicht ausgesprochen wird, und beeinflußt in starkem Maße ihr Selbstwertgefühl.

Die innere Freude über das neue Leben ist eine Quelle, aus der Eltern immer wieder schöpfen können. Gleichzeitig ist das Leuchten in den Augen der Mutter eine wirkliche innere Nahrung für das Kind. Es spürt und sieht, daß es willkommen ist. Auch hier können Sie sich wieder fragen: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich die innere Gewißheit hätte, daß ich willkommen bin – daß ich eine Quelle der Freude bin für meine Eltern?

Reflexionen oder Besinnungsübungen wie die am Ende dieses Kapitels können eine wertvolle Hilfe sein, uns daran zu erinnern, daß diese innere Freude nicht von der Macht des Alltags überdeckt wird. Und das ist fast unvermeidlich, wenn wir nicht aktiv daran arbeiten, sie lebendig zu erhalten und immer wieder zu nähren. Als Jugendlicher ist mir durch einige Begebenheiten aufgefallen, daß manche Eltern erst dann wieder mit ihrer Liebe zu ihren Kindern in Kontakt kommen, wenn diese in Lebensgefahr schweben. So geriet ein Mädchen, dessen Eltern immer sehr auf ihre sportlichen Leistungen bedacht waren, nach einer kleineren Sportverletzung in Lebensgefahr, weil die Narkoseärzte eine Unverträglichkeit nicht beachtet hatten. Plötzlich spürten sie wieder, wie wichtig ihnen das Kind war, um dessen Leben sie bangten. Vorher lief das Mädchen lange mehr oder weniger nebenher. Sie wurde nicht wirklich gesehen, ihren wahren Gefühlen wurde kaum Beachtung geschenkt. Man machte sich Sorgen um ihre Leistungen, ermahnte oder ermutigte sie und wendete sich ihr auch sonst vor allem in der Hinsicht zu, wie gut oder schlecht sie den Anforderungen der Schule oder den anderen Erwartungen der Eltern genügte.

Wir müssen nicht auf solche Extremsituationen warten, damit wir wieder mit unserer Liebe zu unseren Kindern in Kontakt kommen. Wir können uns erinnern und unsere Kinder spüren lassen, daß sie willkommen sind. Denn es reicht nicht aus, daß wir unsere Kinder lieben – sie müssen diese Liebe auch spüren! Ich bin mir sicher, daß die allermeisten Eltern ihre Kinder lieben – nur fällt es vielen schwer, diese Liebe zu leben und in ihrer Beziehung zu ihren Kindern zu verwirklichen.


ÜbungFreude

Geben Sie sich für Besinnungsübungen wie diese ein wenig Raum und sorgen Sie dafür, daß Sie möglichst ungestört sind. Lassen Sie sich zunächst einmal ein paar Minuten Zeit, um bei sich anzukommen. Wenn Sie sich noch mit Dingen aus Ihrem Alltag beschäftigen oder von ihnen bedrängt werden, stellen Sie diese wie in der Achtsamkeitsübung (siehe Seite 200) für eine Weile zurück.

Wenn Sie sich bereit fühlen zu beginnen, stellen Sie sich auf Ihr Kind oder eines Ihrer Kinder ein und versuchen Sie eine Situation vor Ihrem inneren Auge oder Ihrem inneren Gefühl auftauchen zu lassen, als Sie in Verbindung mit diesem Kind Freude erlebt haben. Erzwingen Sie nichts. Stellen Sie sich einfach darauf ein, daß Erinnerungen auftauchen können. Vielleicht hilft Ihnen das Bild einer Antenne, die empfangsbereit ist, aber nicht aktiv Ausschau hält. Wenn zunächst nichts auftaucht, ist das vollkommen in Ordnung. Machen Sie sich keinen Druck. Nehmen Sie einfach wahr, was von allein kommt, ohne es zu bewerten. Es kann eine Situation sein, wo Sie etwas gemeinsam mit dem Kind getan haben, was Ihnen beiden Freude bereitet hat – es kann aber auch eine Situation sein, in der Sie das Kind bei etwas beobachtet haben, was Sie gefreut hat.

Wenn ein solcher Moment auftaucht, lassen Sie sich Zeit, daß die Situation in Ihnen lebendig werden kann, geben Sie der Freude Raum und lassen sie sich in Ihrem ganzen Körper ausbreiten, ohne etwas zu forcieren.

Wenn Sie durch eine solche Besinnungsübung Zugang zu dieser Freude bekommen, nehmen Sie sich regelmäßig ein paar Minuten Zeit, in der Sie sonst nichts erledigen oder tun, und versuchen Sie sich an diese Freude zu erinnern. Wenn Ihr Kind noch klein ist und Sie vielleicht sogar noch stillen, nutzen Sie diese Zeit, um diese Freude in sich aufzuspüren, sie zuzulassen und ihr Raum zu geben.

Eine gute Gelegenheit, sich innerlich wieder mit einem Kind zu verbinden, ist, wenn es schläft. Es stellt nun keine Anforderungen mehr an uns, wir können unsere Anspannung loslassen und es einfach ansehen. Wenn wir in dieser Weise mit unserem schlafenden Kind Kontakt aufnehmen, fällt es uns vielleicht leichter, unsere Liebe zu erneuern und unsere innere Verbindung zu nähren.

Das Erleben von gemeinsamer Freude spielt auch in dem Ansatz von Emmi Pikler eine wesentliche Rolle. Beim Wickeln, Füttern, Baden – bei allem, was wir mit dem Kind tun, ist es möglich, Raum für gemeinsame Freude zu schaffen, was nicht nur für das Kind, sondern auch für uns ein ganz anderes Lebensgefühl mit sich bringt.

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