Loe raamatut: «Begierde»

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Lilly Grünberg

Begierde

erotischer Roman


Lilly Grünberg

Unter verschiedenen Namen hat sich die Autorin in die Herzen der Erotik- und SM-Leser aber auch in die der Fantasy-Liebhaber geschrieben. Unter dem Namen »Lilly Grünberg« sind bisher erschienen:

»Begierde« (PDA; Neuauflage »Elysion Books« 2013)

»Verführung der Unschuld« (PDA, als Lizenz auch bei Heyne und im Club Bertelsmann erschienen, Neuauflage Elysion-Books 2013)

»Dein« (Elysion-Books 2012)

»Sein« (Elysion Books 2013)

in Vorbereitung bei Elysion-Books sind u. a.: »Mein« und die »Verführung der Unschuld 2«

Mehr über die Autorin auf ihrer Homepage:

www.lilly-romane.de

Lilly Grünberg

Begierde


ELYSION-BOOKS TASCHENBUCH

BAND 4056

überarbeitete Neuauflage: Juni (eBook)/September (Buch) 2013

VOLLSTÄNDIGE TASCHENBUCHAUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2013 BY ELYSION BOOKS, GELSENKIRCHEN

ALL RIGHTS RESERVED

UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleinert

www.dreamaddiction.de

FOTOS: © Svetlana Fedosesva/Fotolia

LAYOUT &WERKSATZ: Hanspeter Ludwig

www.imaginary-world.de

PRINTED IN POLAND

ISBN 978-3-942602-35-8

Mehr himmlisch heißen Lesespaß finden Sie auf:

www.Elysion-Books.com

Inhalt

Die Testamentseröffnung

Vickys Jugendfreund

Zügellosigkeit

Der Verlust der Freiheit

Die Flucht

Die Wende

Der Interessent

Jede Menge Schuldgefühle

Der Ausflug

Ein erotisches Fest

Gewissensbisse

Die Versteigerung

Die Ankunft

Gefährliche Neugierde

Die Hochzeit

Die Testamentseröffnung

Das Taxi hatte Schwierigkeiten, sich durch den dichten Berufsverkehr zu schlängeln, obwohl sich der Fahrer große Mühe gab und gerade zum x-ten Mal die Spur wechselte, wenn es dort gerade schneller vorwärts ging. Trotzdem hatte Marc den Eindruck, zu Fuß würde er mindestens genauso schnell vorangekommen. Allerdings nicht so trocken. Denn es regnete in Strömen. Natürlich hätte er auch die Straßenbahn nehmen können. Die hatte wenigstens ihr eigenes Gleisbett und hielt ihre Zeiten ein. Aber bei solch miesem Wetter wusste er die Annehmlichkeiten eines Taxis durchaus zu schätzen.

Jedes Mal, wenn er geschäftlich in seiner deutschen Heimat zu tun hatte, hatte er den Verdacht, dass es hier wesentlich mehr regnete als in Italien. Es war zumindest feuchter und kälter. Niemals hätte er geglaubt, dass ihm das eines Tages auffallen würde. Auch der Verkehr war quälender. Dabei war der Autoverkehr in Rom noch dichter als hier in Frankfurt. Aber irgendwie waren die Italiener flexibler, spontaner, kamen schneller voran, ohne jedoch im Übermaß die Verkehrsregeln zu brechen. Selbst wenn sich einer aufregte und wild gestikulierte, war das bei weitem weniger ernst gemeint als in Deutschland.

Zum wiederholten Male sah er auf seine edle Schweizer Armbanduhr. Der Termin rückte unaufhaltsam näher. Auf seiner Stirn bildete sich eine Falte und sein Blick begegnete kurz dem des Taxifahrers im Rückspiegel, der kommentarlos die Schultern hochzog. Marc hasste Unpünktlichkeit, obwohl er sich auch daran inzwischen gewöhnt haben sollte. Das Dolce vita traf durchaus auch auf das italienische Verständnis von Terminen zu. Vielleicht erfasste ihn aber auch nur zuhause dieser Wahn deutscher Pünktlichkeit.

Zuhause. Bitterkeit stieg in Marc auf, wie ein Schwall Magensäure, der überfallartig die Speiseröhre emporsteigt und einen ekligen Nachgeschmack hinterlässt. Hier war schon lange nicht mehr sein Zuhause. Zuhause war dort, wo er seit einigen Jahren lebte und arbeitete, am Rande Roms, nur eine halbe Autostunde von der Casa dell’artigianato entfernt, der Fabrik, in der er zusammen mit Antonio del Carmine anspruchsvolle Designermöbel und Accessoires für junge Reiche herstellte. Es kam ihm vor, als hätte er schon sein halbes Leben dort verbracht.

Es war eine gute Kombination. Antonios Familie mit ihrer alt ehrwürdigen, italienischen Herkunft, etabliert und angesehen, mit kaufmännischer Erfahrung über Generationen. Er selbst dagegen sorgte als »guter« deutscher Unternehmer für das Vertrauen der internationalen Kundschaft, verkörperte die angeblich typisch deutschen Eigenschaften wie Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Obwohl er vielen Italienern immer noch zu Deutsch war, zu steif, zu akkurat, war er manchen Deutschen bereits zu italienisch.

Marcs Anspannung stieg ins Unerträgliche. Viel zu spät hatte er den Brief erhalten, der ihn über den Tod seiner Stiefmutter und die Testamentseröffnung beim Notar informierte, obwohl er in Frankfurt ein kleines Kontaktbüro mit zwei Assistentinnen unterhielt, die seine Post sortierten und bearbeiteten, oder bei Bedarf nach Italien schickten. Aber die italienischen Postbeamten hatten gerade Mal wieder gestreikt, und so war der Brief mehrere Tage im Nirgendwo liegen geblieben.

Bedauern empfand er kaum. Seine Stiefmutter war der Scheidungsgrund seiner Eltern gewesen. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Seine Stiefmutter war nur an dem Mann interessiert gewesen, an seiner sexuellen Ausstrahlung und seinem nicht geringen Vermögen, aber nicht an dem halb erwachsenen Sohn, einem eher lästigen Anhängsel.

Anfangs weigerte Marc sich, zu begreifen und zu akzeptieren, dass seine Eltern sich trennten. Sein Vater machte keinen Hehl daraus, dass er wechselnde Geliebte hatte, und Marc schwankte damals zwischen der Bewunderung des Vaters als toller Hecht und dem Mitleid für die gekränkte Mutter. Gerade zu dieser Zeit hätte er selbst dringend ein starkes Vorbild gebraucht, eine männliche Führungsperson, die ihm mit gutem Beispiel voranging und ihn auf das Leben vorbereitete. Oh ja, sein Vater und seine Stiefmutter bereiteten ihn durchaus auf das vor, was ihn erwarten würde. Aber anders als es wünschenswert gewesen wäre. Doch das begriff er alles erst später, als er das Verhalten seines Vaters analysierte und verurteilte. Die Streitereien, die seine Eltern lautstark ausfochten, ehe seine Mutter letztlich auszog, gellten ihm noch nachts in den Ohren, als er längst im Bett lag, der Streit vorbei war und das Haus in tiefer Stille versunken.

Zu seinem noch größeren Entsetzen verzichtete seine Mutter auf das Sorgerecht und ließ Marc bei seinem Vater zurück. Sollte das die viel gepriesene Mutterliebe sein? Er fühlte sich im Stich gelassen.

Doch nicht genug des Dramas. Zwei Wochen nach dem Auszug seiner Mutter stellte Marcs Vater ihm seine künftige Stiefmutter vor – und Victoria, genannt Vicky, seine vier Jahre jüngere Stiefschwester. Ein wenig pummelig und leichenblass, mit weit abstehenden kastanienroten Locken und zusammengepressten Lippen, hinter denen sie die Drähte ihrer Zahnspange verbarg.

Es stellte sich bald heraus, dass Vicky noch viel schockierter von dem plötzlichen Zusammenschluss zur Patchworkfamilie war als er selbst, und das linderte Marcs zunächst ablehnende Haltung. Als er eines Nachts auf Toilette gegangen war, hatte er sie durch die angelehnte Zimmertür schluchzen gehört. Einen Moment lang hatte er gehorcht, und war dann doch erstmal in sein Zimmer zurückgekehrt. Aber es ließ ihm keine Ruhe.

Niemanden interessierte es, ob es Vicky gut ging, ob und wie sie mit dem Umzug zurecht kam. Er empfand Mitgefühl. In seinen Augen war sie noch ein kleines unbeholfenes Mädchen. Plötzlich fühlte er sich mit seinen sechzehn Jahren viel erwachsener.

Er war wieder aufgestanden und leise in ihr Zimmer gegangen, hatte Vicky mit seinem »Pssst, was ist denn los«, beinahe zu Tode erschreckt. Aber nachdem er sie einfach in den Arm genommen und getröstet hatte, beruhigte sie sich schnell und das Eis zwischen ihnen war gebrochen. Bis dahin hatte jeder den anderen ignoriert, als ob dieser an der veränderten Situation mitschuldig wäre.

Den Rest der Nacht hatten sie leise miteinander geredet, zeitweise Arm in Arm zusammen unter die Decke gekuschelt und am Frühstückstisch vor Müdigkeit fast synchron gegähnt. Aber nicht einmal das war ihren Eltern aufgefallen. Plötzlich gab es Geheimnisse, die sie zu einer Zweiergemeinschaft verband.

Ab da verbrachten sie viel Zeit miteinander und Marc sah es als seine Aufgabe an, sich nachmittags um Vicky zu kümmern und ihr, wenn nötig, bei den Hausaufgaben zu helfen. Da er noch nie ein Freund von Fußball und anderen Freizeitaktivitäten gewesen war, sich nur selten mit Freunden traf, fiel es gar nicht auf, wie viel Zeit er mit Vicky verbrachte.

Endlich erreichte er sein Ziel. Das Taxi hielt in zweiter Reihe neben dem dicht gefüllten Parkstreifen. Die zu spät eingeschaltete Warnblinkanlage entlockte dem nachfolgenden Fahrzeug ein wütendes Hupen. Der Taxifahrer winkte beschwichtigend in den Rückspiegel und stellte in aller Ruhe die von Marc gewünschte Quittung aus.

Das Notariat lag im zweiten Stock eines mehrstöckigen Geschäftshauses. Marc strich sich die vom Regen feuchten Haare nach hinten und prüfte den Sitz seiner Krawatte, ehe er eintrat. Er nannte der Empfangsdame seinen Namen und wurde sogleich in das Büro des Notars gebeten. Einer der Plätze am Schreibtisch war von einer Frau mit langen gelockten Haaren besetzt, die sich nun schwungvoll umdrehte, aufsprang und ihn zu seiner Verblüffung überschwänglich umarmte, links und rechts seiner Wangen einen Kuss andeutete, den intensiven Duft eines sportiven Parfums verbreitend.

»Marc. Ich freue mich ja so, dich zu sehen«, säuselte sie in sein Ohr.

Er murmelte irgendetwas wie »ganz meinerseits«, reichte dann dem Notar die Hand zur Begrüßung und setzte sich.

Die Sitzung mit dem Notar war kurz. Dieser verlas das Testament, das die Eltern gemeinsam verfasst hatten. Den beiden Stiefgeschwistern Victoria Rossmann – sie hatte ihren Nachnamen bei der Heirat der Eltern behalten – und Marc Braun wurde das nach dem Tod des zweiten Elternteils verbliebene Vermögen zu gleichen Teilen zugesprochen.

Marc hatte als Erbteil nicht viel erwartet. Als sein Vater vor zwei Jahren nach einem Unfall auf der Autobahn verstorben war, erfreute sich seine Stiefmutter bester Gesundheit und er war sicher, sie würde lange genug leben, um alle Ersparnisse zu verprassen. Mit ihrem plötzlichen Ableben als Folge eines Herzinfarkts war nicht zu rechnen gewesen.

Seine Aufmerksamkeit galt nur zur Hälfte dem Notar. Verstohlen musterte er seine Stiefschwester von der Seite. Aus dem unscheinbaren Teenager von einst war eine attraktive junge Dame geworden, die mit elegant übereinander geschlagenen Beinen den Notar anlächelte. Ihre Figur hatte angenehme frauliche Rundungen angenommen, ihr Gesicht hingegen ein wenig des weichen Babyface verloren, an das er sich erinnerte. Sie war schlank, aber nicht mager. Ihre weißliche Haut hatte ihr als Kind diverse Spitznamen eingebracht, von denen Käsekuchen und Blasskäfer die bei weitem charmantesten gewesen waren. Es war ein Erbe ihres Vaters, dessen Haut nicht nur blass, sondern auch mit Sommersprossen übersät war, übertroffen nur noch von den feuerroten Haaren. Vickys kastanienbraunes Haar, das ihr Gesicht in üppigen großen Locken umrahmte, glich dem ihrer Mutter. Jetzt, als erwachsene Frau, gab ihr die vornehme Blässe das gewisse Extra, einen Hauch von Eleganz und ließ sie ein wenig geheimnisvoll wirken.

Ab und an nickte Vicky, als verstünde sie den Inhalt des notariellen Kauderwelschs, in dem das Testament abgefasst war. Sie hat also ihre schauspielerischen Talente, mit denen sie schon früher fast jeden um den Finger wickelte, nicht verlernt. Ganz im Gegenteil, dachte Marc bitter.

Seine Stiefschwester trug ein schwarzes Kostüm mit kragenloser Jacke, darunter eine weiße Bluse mit tiefem V-Ausschnitt, der Stoff leicht transparent. Der Spitzenstoff ihres BHs zeichnete sich darunter ab, dazu trug sie hauchdünne schwarze Strümpfe und Highheels. Diese Kleidung ließ sie ein wenig älter und reifer wirken, als sie in Wirklichkeit war.

Die fein gemusterte Abschlussborte ihrer Strümpfe schaute ein kleines Stück unter ihrem viel zu kurzen Rock hervor und Marc beobachtete, dass der Notar nervös immer wieder auf Vickys Schenkel starrte. Irrte er sich, oder rutschte der Rocksaum noch ein kleines Stück höher, nur weil Vicky etwas ihre Position verändert hatte? Wenn ja, dann war es die raffinierteste Masche, scheinbar unabsichtlich mehr Bein zu zeigen, die er seit langem beobachtet hatte.

Sie öffnete die flache schwarze Handtasche, die auf ihren Beinen lag, entnahm ihr ein Notizbuch und schrieb ein paar Zeilen auf einen Zettel. Ihre Hand verdeckte den Text. Marc hätte zu gerne gewusst, was sie Wichtiges zu notieren hatte.

In diesem Augenblick beendete der Notar seinen Vortrag, fragte knapp, ob sie beide das Erbe annehmen würden, und als sie nickten, reichte er ihnen ein Formular zur Unterschrift. Damit war die Sitzung beendet.

Marc schüttelte dem Notar die Hand, bedankte sich und wandte sich zur Tür. Im Augenwinkel nahm er wahr, wie Vicky den Zettel, den sie aus ihrem Notizbuch herausgerissen hatte, dem Notar reichte. Dann stolzierte sie mit einem selbstbewussten, fast als arrogant zu bezeichnenden Gesichtsausdruck an Marc vorbei, der auf sie wartete und ihr die Tür aufhielt.

»Gehen wir noch zusammen etwas trinken? Wir haben uns ja solange nicht mehr gesehen.« Vicky griff nach Marcs Arm und hängte sich bei ihm ein. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen. In den Pfützen spiegelten sich Passanten, Straßenlaternen, Schaufensterscheiben und Autos. Der Verkehr war noch genauso dicht wie eine halbe Stunde zuvor.

»Du siehst übrigens gut aus, mit der gebräunten Haut und deinen schwarzen Haaren gehst du sicher fast schon als Italiener unter ihresgleichen durch, oder?« Sie erwartete wohl keine Antwort, sondern plapperte munter weiter, während sie ihren Stiefbruder zielstrebig in ein kleines, nahe gelegenes Restaurant dirigierte. Ohne ihn nach seinen Wünschen zu fragen, bestellte sie bei dem herbeieilenden Ober eine Karaffe Rotwein, zwei Gläser und Mineralwasser.

Marc zog die Stirn in Falten. »Übernimmst du immer die Regie?«

Vicky lachte laut auf. »Na klar, wer denn sonst? Aber erzähl, was machst du so, wir haben uns schließlich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

Marc fasste sich kurz. Er hatte keine Lust, Vicky einen allzu genauen Einblick in sein Leben zu gewähren. Er erzählte in knappen Worten, dass er mit einem Kompagnon eine Fabrik für Designermöbel leite und viel unterwegs sei, um die neuesten Modelle exquisiten Läden vorzustellen. Es bedeute viel Arbeit und wenig Freizeit, ergänzte er zurückhaltend. Er vermied bewusst Namen und Sitz der Firma zu nennen, damit Vicky keine Gelegenheit erhielt, ihn zu kontaktieren. Sie kannte nur die Adresse der deutschen Filiale. Selbst das war schon fast zuviel.

Doch viel mehr interessiere ihn, was sie mache, lenkte er von sich ab. Nach kurzem Zögern ging sie darauf ein. Denn ihre bis dahin makellose Karriere erlebte gerade einen Knick. Daran war sie zwar nicht selbst schuld, aber es nagte wohl trotzdem an ihr. Die Fluggesellschaft, für die sie als Stewardess gearbeitet hatte, war verkauft und das Flugpersonal entlassen worden. Die Bewerbungen bei Konkurrenzunternehmen liefen noch ohne Rückmeldungen. Vicky hat nach ihrer sechsmonatigen Ausbildung zum Cabin Attendant nur gut eineinhalb Jahre für dieselbe Fluggesellschaft gearbeitet. Zudem bildete jedes Unternehmen seine Stewardessen nach eigenen Vorstellungen aus, sie würde also fast von vorne anfangen müssen und die Konkurrenz der Mitbewerberinnen war groß.

»Der Tod deiner Mutter scheint dich ja relativ wenig zu berühren?«

Für einen kurzen Augenblick verfinsterte sich Vickys Miene. »Du vergisst, dass sie schon vor drei Wochen gestorben ist. Ich hatte also genügend Zeit zum Tränen vergießen. Außerdem – du hast ja keine Ahnung. Seit ich mich entschieden habe, Stewardess zu werden, lag sie mir ständig in den Ohren, dass ich einen Fehler begehe und meine Talente vergeude.«

Sie lachte kurz auf, nahm einen hastigen Schluck aus ihrem Glas, und Marc fiel auf, dass ihre Fingernägel sorgfältig manikürt und dunkelrot lackiert waren, mit einem Strasssteinchen in der Mitte.

»Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich irgendetwas studieren sollen. Aber ich müsste doch verrückt sein, mir vier oder fünf Jahre noch mal nichts als Lernen anzutun. Das dauert ja dann eine halbe Ewigkeit, ehe ich endlich mal zu Geld komme, mir was leisten kann und vor allem auch was von der Welt sehe.« Sie schüttelte ihre Locken, als wollte sie ihre Worte durch diese Geste unterstreichen, und strich sich eine Strähne aus den Augen. »Nein, ich treffe inzwischen meine eigenen Entscheidungen. Es gibt soviel zu sehen und zu erleben, warum sollte ich warten, bis ich alt und grau bin? Wer garantiert mir denn einen Arbeitsplatz nach dem Studium?« Als wäre es nötig, sie zu bedauern, fügte sie noch hinzu: »Ein reicher Ehemann wäre natürlich die ideale Lösung.« Dann lächelte sie und Marc war sich nicht sicher, wie scherzhaft diese Bemerkung zu verstehen war oder ob sie ihrer Mutter nacheiferte.

Vielleicht hatte er gehofft, eine andere Vicky zu treffen, als die, die er in Erinnerung behalten hatte. Aber sie hatte sich in ihrem Charakter nicht verändert.

»Und, wie geht’s weiter?« Marc verstand Vickys Haltung nicht. Er wusste, dass sie intelligent war und eine schnelle Auffassungsgabe besaß. Außerdem hatte sie viel Talent für Sprachen. Sie hätte Dolmetscherin oder Auslandskorrespondentin oder dergleichen werden können. Ausnahmsweise musste er ihrer Mutter Recht geben. Vicky vergeudete tatsächlich ihr Potential. Ihre Mutter hatte es ihr pausenlos gepredigt, bereits als Marc noch zuhause gewohnt hatte. Mach was aus dir, lerne, du bist klug.

Eigentlich interessierte ihn das alles schon gar nicht mehr. Es gab eine Zeit, da hatte er an eine Rückkehr zu alten Zeiten geglaubt und hätte sich aufrichtig gefreut, Vicky seine Schwester zu nennen. Trotz seiner mehr als brüderlichen Gefühle für sie. Aber es war vorbei.

»Und nun? Wie glaubst du, geht’s weiter?«

Mit einem schelmischen Grinsen neigte sie den Kopf zur Seite. »Es wird sich schon was finden. Mit der Erbschaft kann ich mich eine Weile über Wasser halten. Außerdem steht bestimmt bald ein Gespräch mit einem Personalchef an, vielleicht gelingt es mir, gleich den ersten um den Finger zu wickeln.« Sie leckte sich anzüglich über die Lippen und blinzelte ihn herausfordernd an.

Marc schüttelte innerlich den Kopf über ihre unverfrorene Offenheit. Also Vitamin-B. Er verabscheute diese Variante, sein Ziel zu erreichen. Er hatte für seinen Erfolg gekämpft, immer. Zwölf, vierzehn Stunden am Tag, bis zum Umfallen gearbeitet, häufig auch am Wochenende. Wusste Vicky überhaupt, was arbeiten bedeutete? Zeit für Freundschaften oder gar keine langfristige Beziehung gab es für ihn kaum. Und eine Partnerin für die Art sexueller Beziehung, die ihm vorschwebte, zu finden, war sowieso alles andere als einfach.

»Du solltest das Geld besser gewinnbringend für die Zukunft anlegen.«

Vicky ging nicht darauf ein, sondern lenkte mit einem anderen Thema ab. Eine Weile plauderten sie noch über belangloses Zeug, verfielen in ein paar Momente der Erinnerung an gemeinsam verbrachte Ferien, vermieden aber beide – mehr oder weniger bewusst – das Thema Partnerschaft.

Marc fiel wieder die Notiz ein. »Was stand eigentlich auf dem Zettel, den du dem Notar zugesteckt hast, als wir gegangen sind?«

»Meine Handynummer«, erwiderte sie mit laszivem Augenaufschlag.

Marc runzelte die Stirn. »Du willst dich mit ihm treffen?« Es gärte wie Säure in seinen Eingeweiden, dass Vicky noch hemmungsloser geworden war, als er sie in Erinnerung hatte.

»Ja, warum nicht«, erwiderte sie hochnäsig. »Hast du nicht bemerkt, wie gierig er mich angesehen hat? Am liebsten hätte er mir bis in den Schritt geblickt!«

Warum wollte sie den geilen Bock dann treffen? »Und was sagt dein Freund dazu, dass du dich so freizügig aufführst und mit anderen ausgehst?«

Sie warf den Kopf nach hinten und lachte kokett. »Welcher Freund? Glaubst du denn, einer reicht mir? Wie langweilig. Es gibt doch so viele attraktive Männer und ich liebe die Abwechslung.«

Sie hob das Glas, prostete ihm zu, zwinkerte mit den Augen. Scheinbar zufällig schob sie den dünnen Stoff ihres Rockes ein Stück höher, gewährte ihm einen Einblick zwischen ihre Schenkel, das kleine blasse Stückchen Haut oberhalb ihrer schwarzen Strümpfe.

Marc zwang sich, ihr ins Gesicht zu sehen. Er kam kaum gegen den Drang an, entweder auf ihre Beine oder in ihren Ausschnitt zu schauen. Ihre Brüste wölbten sich verlockend. Sein Hemd wurde im Rücken feucht. Verdammt, sie war die reinste Augenweide und bei der Vorstellung, seine Hand auf die weiße Haut ihrer Schenkel zu legen und nachzusehen, ob sie überhaupt einen Slip trug, spürte er ein verlangendes Ziehen in den Lenden. Diese Haut abwechselnd zu streicheln und zu röten wäre eine wahre Freude.

Es gab viele Frauen, auch viele attraktive, aber so eine wie Vicky war ihm schon lange nicht mehr begegnet. Sie hatte Rasse. Kein Wunder, dass es für sie ein Leichtes war, die Männer zu verführen.

»Willst du damit sagen, du hast häufig wechselnde Männerbekanntschaften?«

Wenn sie nur nicht so überheblich und zufällig meine Schwester – er verbesserte sich in Gedanken – Stiefschwester, wäre. Ich würde sie wirklich zu gerne, nein – wie absurd. Letzten Endes trat Vicky in die Fußstapfen ihrer Mutter und aller anderen Frauen, die in seinem bisherigen Leben eine Rolle gespielt hatten. Alle legten denselben Egoismus an den Tag und dachten nur an ihre Vorteile. Was hatte sie erst vor wenigen Minuten gesagt? Am liebsten würde sie reich heiraten? Er malmte mit den Kiefern. Dolce vita.

»Warum sagst du es nicht gerade raus? Du hältst mich für geil und nymphoman.« Sie lachte. »Na und? Ich schäme mich nicht deswegen. Ich liebe Sex – du etwa nicht? Aber warum immer derselbe Mann? Das ist doch öde. Ich brauche den sexuellen Kick, je öfter und überraschender – desto besser. Es ist doch alles nur ein Spiel.«

Das Gespräch begann ihn zu strapazieren. Er hätte nicht kommen sollen. Allen negativen Erfahrungen zum Trotz war er im Herzen ein Romantiker und träumte ziemlich weltfremd von der einen treuen Geliebten und Ehefrau, mit der er glücklich werden würde und Kinder zeugen, obwohl Jahr um Jahr verging und die Wirklichkeit dagegen sprach. Vicky war auf dem besten Wege, seine Träume erneut ins Wanken zu bringen. Wie alt war sie jetzt? Er rechnete wortlos nach. Dreiundzwanzig. Wie viele Männerbekanntschaften hatte sie in dieser Zeit wohl schon gehabt? Ekel stieg in ihm auf. Er sollte endlich den Tatsachen ins Auge schauen. Waren nicht alle Frauen so wie sie? Wankelmütig, egoistisch, berechnend, arrogant? Er konnte ihre Äußerungen nicht einfach im Raum stehen lassen, sondern sah sich genötigt, ihr ein letztes Mal zu widersprechen, ehe sich ihre Wege unwiderruflich trennten.

»Eine feste Beziehung hat doch auch gewisse Vorteile, die du völlig außer Acht lässt, zum Beispiel Geborgenheit, Sicherheit, Vertrauen. Und es gibt auch Männer, die das mit fantasievollen erotischen Liebesspielen vereinen und mit denen man durchaus noch nach Jahren des Zusammenseins sexuelle Abenteuer erleben kann.«

Vicky lachte schrill auf und warf den Kopf zurück. »Wenn du einem von ihnen begegnest, schick ihn bei mir vorbei. Ich würde ihn auf der Stelle heiraten und treu werden.« Sie beugte sich vor und flüsterte. »Zu was für Spielchen bist du denn bereit? Wie spannend ist dein Liebesleben? Bist du deiner Freundin treu? Oder ab und zu scharf auf einen Blowjob nebenher? Glaub mir, ich bin gut darin. Jetzt gleich, hier?«

Sie schaute sich um und machte Anstalten, unter dem Tisch zu verschwinden. Er packte verärgert über ihre Schamlosigkeit ihr Handgelenk und zischte: »Nicht, hör auf damit, du –« Er schluckte die Schlampe hinunter.

Vicky lachte schallend.

Marc beeilte sich, sein Glas auszutrinken. Ihm reichte, was er erfahren hatte, mehr als er ertragen wollte. Er war froh, dass Vicky ihn nicht weiter nach seinem Privatleben fragte, so brauchte er nicht zu lügen, denn eine Freundin hatte er derzeit überhaupt nicht. Aber das ging Vicky nun wirklich nichts an.

Marc winkte dem Ober, um zu bezahlen und kurz darauf verabschiedeten sich beide voneinander.


In dieser Nacht lag Marc lange Zeit wach. Ohne dass er es wollte, ging Vicky ihm nicht mehr aus dem Kopf. Seine Augen taxierten ihr Gesicht, ihr Dekollete, ihre Figur, die schlanken Beine. Ihre meergrünen Augen erwiderten selbstsicher und frivol seinen Blick. Je länger er über ihre Unterhaltung nachdachte, desto mehr ärgerte er sich über ihr Verhalten. Hatte sie nur gepokert oder wäre sie wirklich für einen Blowjob unter den Tisch gekrochen? Ob sie wohl tatsächlich gut darin war? Er zuckte erschrocken zusammen. Was für ein Gedanke!

Er sprang aus dem Bett und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. An Schlaf war nicht zu denken. Dabei war Vicky früher ein vollkommen unbescholtenes Geschöpf gewesen, ein ehrliches und natürliches Mädchen bis – er weigerte sich, den Gedanken zuende zu führen. Ohne Ziel wanderte er mit dem Bierglas in der Hand auf und ab. Das Ein-Zimmer-Appartement, das er bei seinen seltenen Besuchen in Frankfurt bewohnte, bot nur wenig mehr Ablenkung als Radio und Fernseher. Nun, er würde sowieso nicht lange bleiben. Noch ein paar Kundentermine in Frankfurt und Köln, dann ging es zurück nach Hause – nach Italien.

€3,99