Animant Crumbs Staubchronik

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Loe katkendit
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Das Zehnte oder das, in dem ich die Fronten klärte.


Ich war so müde wie noch niemals zuvor in meinem jungen Leben, das früher nur mit Müßiggang und dem Lesen im Bett angefüllt gewesen war. Alle Verantwortung und Terminpflicht hatte ich von mir ferngehalten und jetzt wusste ich auch wieso.

Lange nach Mitternacht wankte ich im Licht einer Laterne nach Hause und schlief auf dem Weg einzig aus dem Grund nicht ein, weil der permanente Nieselregen mir das Gesicht kühlte. Ich war selbst zu müde, um mich vor der Dunkelheit zu fürchten.

Das Haus meines Onkels sah bei Nacht genauso aus wie die Häuser rechts und links und starrte mir aus grauen Fenstern entgegen.

Mr Dolls machte mir auf, nachdem ich leise den Türklopfer betätigt hatte und betete, dass noch jemand um diese Uhrzeit wach war, um mich zu hören. Er war ordentlich bekleidet und hellwach, was mir den Schluss offenlegte, dass er wohl auf mich gewartet hatte. Der Butler beäugte mich besorgt, sagte aber nichts dazu, dass ich erst mitten in der Nacht nach Hause kam.

»Erzählen Sie es meinem Onkel und meiner Tante nicht«, bat ich ihn und er nickte, den gütigen Ausdruck unverändert auf seinem bereits mit Falten durchzogenen Gesicht.

»Wünschen Sie noch etwas zu essen, Miss?«, erkundigte er sich leise und nahm mir die Laterne ab, die im mit Kerzen erleuchteten Flur nicht mehr vonnöten war.

»Ich wünsche nur zu schlafen. Danke«, antwortete ich ihm schwach und spürte, wie meine Zunge langsam schwer wurde. Mühsam schleppte ich mich die Treppen hinauf in mein Zimmer, schälte mich aus meinen Kleidern und ließ alles achtlos zu Boden fallen. Es war mir egal, dass es keine Ordnung hatte und dass die Regennässe nun Gelegenheit bekam, Stockflecken auf dem Stoff zu hinterlassen. Ich hatte die letzten Stunden genug Ordnung geschaffen, um noch lange von dem Gefühl zu zehren.

Doch als mein Kopf schließlich auf dem Kissen lag, wollte er einfach nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder kreisten Gedanken über die Dinge darin, die noch zu tun waren. Und die ich schon getan hatte.

Ich hatte jedes Dokument, jeden Brief, jedes Buch, jede Mappe, jedes Schriftstück, jede Notiz sortiert, auf Stapel verteilt und in Akten geordnet. Dabei waren Dokumente aus den letzten zwei Jahren zum Vorschein gekommen und ich wollte mir gar nicht vorstellen, wann dieses Chaos seinen Ursprung gehabt hatte.

Wie konnte Mr Reed nur so arbeiten?

Ich war getrieben gewesen von der Vorstellung, dass sich die Unordnung ausbreiten könnte, und da ich nun mal damit begonnen hatte, musste ich es auch zu Ende bringen.

Als ich die Bibliothek verließ, war Mr Reeds Büro ein Zimmer von vorbildlichem Charakter. Er hätte darin Gäste empfangen können, so ordentlich war es.

Auf der Tischplatte, die nun wieder frei war, um daran zu arbeiten, lag die Liste der zu ersetzenden Bücher mit den dazugehörigen Adressen, in Gruppen sortiert und alphabetisch geordnet.

Vielleicht mochte man mir einen gewissen Perfektionismus anhängen, doch dafür würde ich niemals so ein Durcheinander an meinem Arbeitsplatz dulden.

Es dauerte lange, bis ich schließlich einschlief und ich verbrachte eine sehr kurze, traumlose Nacht, in der ich immer wieder von dem Regen auf dem Dach geweckt wurde.

Nach gerade einmal dreieinhalb Stunden Schlaf klopfte es an meiner Tür und ich wusste, dass es Zeit war, wieder aufzustehen. Mein Kopf war erstaunlich leicht, dafür, dass ich kaum geschlafen hatte, aber mir war schmerzlich bewusst, dass dieses seltsame Gefühl wohl kaum lange anhalten konnte und ich heute Nachmittag vor Müdigkeit einknicken würde.

Ich zog mich an, kämmte mir das wirre Haar und steckte es zu einem einfachen Knoten zusammen. Zu mehr war ich nicht imstande.

Mein Onkel und meine Tante setzten sich zu mir an den Frühstückstisch und ich zwang mir einen Toast mit Butter rein, damit sie nicht merkten, dass etwas nicht stimmte.

Tante Lillian war jedoch viel zu aufmerksam, als dass sie mir das einfach so durchgehen ließ, und ihre hellen Augen fixierten mich, während sie selbst an ihrem Tee nippte.

»Animant, kann ich dich fragen, wo du gestern Abend gewesen bist?«, fragte sie ganz vorsichtig und Onkel Alfred legte seine Zeitung zur Seite.

»Ich war in der Bibliothek«, gab ich ohne Umschweife zurück und rührte mir einen Schluck Milch in meinen Tee.

»In der Bibliothek? Lässt dich dieser Bibliothekar etwa bis in die Nacht schuften?!«, empörte sich Onkel Alfred aufbrausend und ich hätte gerne mit den Augen gerollt. Doch Tante Lillian hatte mich im Blick und ich wollte sie nicht kränken.

»Nein, Onkel Alfred. Ich war freiwillig dort«, beschwichtigte ich ihn schnell und sah ihn nun über den Tisch hinweg an. In seinen Augen stand die Wut geschrieben, seine buschigen Augenbrauen verdunkelten sein ganzes Gesicht. »Ein Überseekoffer ist durch die Glaskuppel gebrochen und der Regen hat einen Teil der medizinischen Abteilung zerstört. Ich konnte nicht weg«, erklärte ich und unterschlug, dass Mr Reed sehr wohl hatte weggehen können. Er hatte mich mit dem ganzen Schlamassel allein gelassen und dann war ich in das Chaos in seinem Büro gestürzt wie Alice in den Kaninchenbau. Nur dass mich hinter all dem Papier nicht das Wunderland erwartet hatte, sondern nur noch mehr Papier.

»Das ist ja schrecklich!«, rief Tante Lillian schockiert. »Hast du das gewusst, Alfred?«, wandte sie sich an ihren Mann, der recht ratlos dreinblickte. Er hatte es also noch nicht mitbekommen.

»Ich nehme an, dass ich es wohl nachher erfahren hätte«, brummte er in seinen Bart und ich nickte nur. »So, Ani, da du ja heute nur bis Mittag arbeitest, schlage ich vor, ich hole dich um halb eins mit der Kusche ab, dann können wir zusammen essen«, wechselte Onkel Alfred geschickt das Thema, um nicht weiter darauf eingehen zu müssen, dass an seiner Universität Dinge vor sich gingen, von denen er nichts wusste.

Ich sah ihn nur mit großen Augen an. Mir war nicht bekannt gewesen, dass ich heute nur bis Mittag arbeiten musste. Schon wieder etwas, das Mr Reed vergessen hatte, mir mitzuteilen.

Onkel Alfred räusperte sich und erwähnte, dass wir ja anschließend zum Luftschiffplatz fahren könnten, an dem Mr Boyle um halb zwei landen würde. Da ich noch nie ein Luftschiff von Nahem gesehen hatte, wäre es eine gute Gelegenheit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er lächelte Tante Lillian verschwörerisch zu, als ich zusagte, und ich rollte nun doch heimlich mit den Augen.

Die beiden sahen Mr Boyle und mich wahrscheinlich schon als so gut wie verlobt an, nur weil wir uns einmal nett unterhalten hatten. Das war mehr als albern. Ich hatte in der vergangenen Woche nicht öfter als zweimal an diesen Herrn gedacht und keiner dieser Gedanken war schwärmerischer Natur gewesen. Mein Herz war nicht so schnell ins Wanken zu bringen und ich zweifelte schon seit Längerem daran, dass ich überhaupt dazu fähig war, mich wahrlich zu verlieben.

Auf dem Weg zur Bibliothek ging ich die Aufgaben durch, die ich heute erledigen musste. Die Zeitungen hatte ich vernachlässigt und auch in meiner Kammer gab es noch so einiges zu tun. Außerdem vermutete ich, dass es am heutigen Tage mehr Studenten in die Bibliothek ziehen würde als sonst. Erstens, weil heute Samstag war und somit ein vorlesungsfreier Tag. Zweitens, weil viele von ihnen gestern nicht die Gelegenheit gehabt hatten, in der Bibliothek zu lernen. Und drittens, weil alle Menschen neugierig waren und sicher eine Menge Studenten nur aus einem Vorwand heraus ein Buch entleihen würden, um das Chaos zu sehen, das der Überseekoffer angerichtet hatte.

Ein Grund mehr, warum ich mich freuen sollte, heute schon am Mittag wegzukommen.

Es hatte aufgehört zu regnen, Nebelfetzen zogen durch den Park und kalt unter meinen Rock. Ich war mal wieder vor Mr Reed an der Tür der Bibliothek und als ich seine Gestalt durch den leichten Nebel auf mich zukommen sah, kam er mir beinahe schon vertraut vor. Jedes Mal, wenn mein Blick auf ihn fiel, machte sich in meinem Innern ein beklemmendes Gefühl breit, eine explosive Mischung aus Einschüchterung und Wut.

Doch heute früh war die Wut stärker als der Rest meiner Empfindungen. Denn gestern Nacht war mir eine Erkenntnis gekommen und die befähigte mich neuerdings, nicht mehr vor diesem Mann kuschen zu müssen.

»Guten Morgen, Mr Reed«, grüßte ich ihn recht neutral und er sah mich an.

»Guten Morgen, Miss Crumb«, gab er den Gruß zurück und kramte in seiner Manteltasche nach dem Schlüssel.

Innerlich brodelte ich. »Mr Reed, ist es richtig, dass ich an einem Samstag schon am Mittag gehen kann?«, hakte ich sofort nach und Mr Reed öffnete die Tür.

»Das ist richtig«, antwortete er mir, als handelte es sich um eine Selbstverständlichkeit, in die ich schon längst eingeweiht sein müsste.

»Und warum, Mr Reed, haben Sie dann nicht die Güte, mir dies auch mitzuteilen? Hätte mein Onkel es nicht heute morgen erwähnt, hätte ich es nicht gewusst«, redete ich auf ihn ein, während wir die Bibliothek betraten und er sich noch auf dem Weg in den Lesesaal den Mantel auszog und ihn über eine Stuhllehne warf.

Er schnaubte und drehte sich mir zu, während er sich seine Krawatte richtete. »Miss Crumb«, seufzte er, als ob ich ein kleines Kind wäre, doch diesmal würde ich mir das nicht gefallen lassen.

»Sparen Sie sich das«, fiel ich ihm ins Wort und starrte ihn finster an. »Gestehen Sie sich lieber ein, dass Sie nicht unfehlbar sind. Es ist nicht mein Verfehlen, wenn ich solche Dinge nicht weiß, sondern Ihres«, platzte es förmlich aus mir heraus und obwohl ich mich nicht hatte zurückhalten können, fürchtete ich gleichzeitig, dass meine Worte zu scharf gewesen waren für den Anfang dieser Unterhaltung.

 

Mr Reed sah mich verwundert an. »Sie haben wohl schlecht geschlafen«, kommentierte er nur, drehte sich dann auf dem Absatz um, nahm seinen Mantel in der gleichen Bewegung wieder auf und marschierte auf die Treppen zu.

»Ich habe sogar äußerst schlecht geschlafen, aber das ist sicher nicht der Grund für meine Aufgebrachtheit«, nahm ich den Gesprächsfaden wieder auf, den Mr Reed so plump hatte fallen lassen, und raffte meine Röcke, um ihm die Stufen nach oben zu folgen.

»Es ist also meine Schuld, dass Sie mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden sind?«, drehte er mir das Wort im Munde um und ich schnaufte wütend, als ich hinter ihm herhastete.

»Das habe ich nicht gesagt«, verteidigte ich mich.

»Ich halte Sie hier nicht fest. Sie können jederzeit gehen und Ihrem Onkel schöne Grüße von mir ausrichten«, meinte er recht bissig, während er nach der Klinke seiner Bürotür griff.

»Das hätten Sie wohl gerne!«, fauchte ich und seine Augen richteten sich fest auf mich.

»Ja, das hätte ich gerne!«, zischte er zurück und riss seine Tür auf, um in dem Raum dahinter der Unterhaltung zu entfliehen. Doch der Schritt, den Mr Reed in das Zimmer setzen wollte, wurde ein kleines Stolpern und er klammerte sich mit schockiertem Gesichtsausdruck an seinem Türrahmen fest.

Ich hätte ihm gerne an den Kopf geworfen, dass er gestern noch behauptet hatte, er würde mich hier brauchen, schürzte jedoch lediglich die Lippen, denn er hätte mir sicher nicht zugehört.

»Bei Gott, was ist das?!«, stieß er hervor und seine Augen wurden so weit, dass es mir ungesund vorkam.

»Ihr Büro, Mr Reed. Und zwar so, wie es aussehen müsste, damit man darin effektiv arbeiten kann!«, erwiderte ich erzürnt und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war mir egal, wie trotzig ich dabei aussah, denn ich hatte meinen Schlaf geopfert, um dem Chaos Herr zu werden.

»Waren Sie das etwa?«, fuhr Mr Reed mich an und die Wut erreichte seine Augen. Aber jetzt konnte er mich nicht mehr einschüchtern. Ich kannte seine Schwächen.

»Natürlich war ich das! Aber es hätte nicht meine Aufgabe sein sollen, sondern Ihre!«, antwortete ich ihm im gleichen Ton und Mr Reeds Finger krampften sich um das Holz des Türrahmens, bis die Fingerknöchel weiß hervortraten.

»Das ist mein Büro, Miss Crumb. Sie haben darin überhaupt nichts verloren«, platzte ihm der Kragen und seine Stimme wurde deutlich lauter.

»Das sagen Sie. Aber ich habe versucht, meine Arbeit zu machen. Sie haben es nicht einmal geschafft, mir die nötigen Unterlagen bereitzustellen. Wären Sie hier gewesen, hätte ich Sie ja gefragt. Aber Sie hatten es ja für wichtig erachtet, einfach so zu verschwinden«, keifte ich zurück, löste meine Hände aus ihrer Verschränkung und zeigte anklagend mit dem Finger auf den Bibliothekar.

»Ich habe Termine wahrgenommen«, verteidigte er sich zu meiner Überraschung und ich erahnte einen wunden Punkt, den ich sogleich in Angriff nahm.

»Sie haben mich in der Stunde der Not hier allein gelassen, an einem Tag wie gestern. Sie hätten mir wenigstens Bescheid geben können, Sie Unmensch!«, warf ich ihm an den Kopf und die Wut trieb mir die Tränen in die Augen.

»Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, in mein Büro einzubrechen und all meine Ablagen zu durchwühlen«, versuchte er dagegenzuhalten, aber seine Abwehr schwankte. Die Tränen in meinen Augen machten ihn weich. Ich wischte sie weg, wollte ihm ebenbürtig gegenüberstehen und nicht wie jemand, den man zu bemitleiden hatte.

»Ablagen? Dass ich nicht lache«, rief ich und langsam wurde mir zu heiß in meinem dicken Mantel. Die Hitze des Streites drückte mir auf die Brust und ich begann an meinen Knöpfen zu fingern, ohne Mr Reed aus den Augen zu lassen. »Wenn Sie mir jetzt erzählen wollen, dass es in der Unordnung ein System gab, dann werde ich Sie einen Lügner nennen, Mr Reed!«

»Sie haben doch keine Ahnung!«, wies er meinen Vorwurf von sich.

»Doch, die habe ich, ob es Ihnen passt oder nicht. Sie scheuchen mich, Sie sehen auf mich herab, schon seit ich diese Bibliothek betreten habe. Sie schätzen mich gering und schimpfen mich eine langsame und unfähige Person. Sie machen mich klein, um sich groß zu fühlen, dabei sind Sie keinen Deut besser als ich!«, begann ich meine Schimpftirade und holte nicht lang genug Luft, als dass Mr Reed mich hätte unterbrechen können. »Sie leben eine Unordnung, die Ihnen über den Kopf wächst. Sie sind zu unorganisiert, um Ihre Arbeit in den Griff zu bekommen und wälzen Ihren Ärger auf mich ab. Wissen Sie, ich dachte, Sie wollten mich schikanieren, indem Sie mir so viele Informationen vorenthalten, aber ich habe mich geirrt. Jetzt weiß ich, dass Sie es nur vergessen haben, weil in Ihrem Kopf genauso viel Unordnung herrscht wie in Ihrem Büro!« Ich holte tief Atem, zog mir mit einem Rück den Mantel von den Schultern und ließ Mr Reed einfach stehen, während ich an ihm vorbei zum kleinen Räumchen nebenan ging.

»Miss Crumb«, begann Mr Reed und seine Stimme war dunkel vor Wut.

Doch ich ließ ihn nicht sprechen. Nicht jetzt. Das hier war mein Moment und ich würde ihn mir bewahren. »Wagen Sie es ja nicht, mich je wieder zu kritisieren, wenn Sie davor nicht verdammt noch mal dafür gesorgt haben, dass Sie perfekt sind!«, fauchte ich wie eine teuflische Straßenkatze in ihrem achten Leben und schenkte ihm einen so niederschmetternden Blick, dass Mr Reed die Erwiderung im Hals stecken blieb und er ohne ein weiteres Wort langsam, wie im Rückzug, in seinem Büro verschwand.

Ich hängte meinen Mantel an seinen Haken, atmete so lange ein, bis meine Lunge nichts mehr aufnehmen konnte, und ließ die Luft langsam wieder entweichen.

Meine Hände zitterten, mein Kopf fühlte sich ganz leer an und all die Wut, die ich seit meinem ersten Arbeitstag mit mir herumgetragen hatte, war wie durch Zauberhand verschwunden. Ich hatte sie herausgeschrien und ich wusste, dass es nun in Zukunft in dieser Bibliothek anders für mich laufen würde. Die größere Veränderung würde aber wohl Mr Reed bevorstehen. Das konnte ich ihm versprechen!

Das Elfte oder das, in dem mein Herz hüpfte.


Meine Zeit rannte davon und füllte sich mit dem Sortieren von Büchern, dem lästigen Gang ins Archiv und einer Menge Buchrückgaben.

Als mein Onkel sich plötzlich neben mir räusperte und ich beim Einräumen der Bücher beinahe drei Geschichtswälzer fallen ließ, war ich völlig überrascht, dass es bereits Mittag sein sollte. Doch ein Blick auf die Uhr im Foyer bestätigte die Richtigkeit seiner Anwesenheit und ich ging meinen Mantel holen.

Für einen Moment blieb ich vor Mr Reeds Tür stehen, fragte mich, ob ich einfach gehen und ihn in seinem Büro weiter schmollen lassen sollte.

Denn das tat er. Seit unserem Streit hatte er die Tür seines Raumes nicht geöffnet und ich hatte keinen Mucks mehr von ihm gehört.

Ich seufzte in mich hinein. Wenn ich jetzt ging, ohne ihn noch einmal zu sprechen, würde sich die Situation zwischen uns sicher über den freien Tag hinweg verschlimmern; und am Montag wieder hier zu erscheinen, würde mich große Überwindung kosten.

Zaghaft klopfte ich gegen die Tür. Ein leises Geräusch in einem so stillen Gebäude und doch schien es im Raum dahinter gänzlich zu verschwinden.

Ich hörte das leise Rascheln von Papier, das Knarren von Holz, auf dem das Gewicht verlagert wurde, und ein erschöpftes Seufzen. »Herein«, rief Mr Reed und ich öffnete die Tür einen Spaltbreit.

Das Büro sah noch fast so aus, wie ich es gestern verlassen hatte. Die Bücher in den Regalen, die Akten in den Schränken, die Vorhänge geöffnet. Nur auf dem Schreibtisch sah ich die Ansätze des Chaos wieder, welches ich gestern beseitigt hatte.

Mr Reed saß auf seinem Stuhl, einen Stapel Briefpapiere, ein geöffnetes Tintenfass, Briefumschläge und die Liste mit den zerstörten Büchern vor sich, die er wohl gerade abarbeitete.

Er schrieb also an all diese Adressen? Fünfundachtzig Adressen, fünfundachtzig Briefe.

»Miss Crumb?«, sprach Mr Reed mich an, als ich nicht reagierte und nur starr im Türrahmen stand.

Ich blinzelte. »Sie schreiben all diese Briefe persönlich?«, erkundigte ich mich schockiert, obwohl ich mich eigentlich nur hatte verabschieden wollen.

»Ja«, antwortete er mir knapp und hielt sich noch reservierter, als er es sonst tat. Es war der Streit, der zwischen uns stand und den ich begonnen hatte. Also war es auch an mir, ihn wieder zu beenden.

»Ich könnte Ihnen dabei helfen«, bot ich an und Mr Reeds Blick richtete sich auf mein Gesicht. Er nahm die Brille von der Nase, musterte meine Gesichtszüge, versuchte wohl die Bedeutung dahinter zu finden.

Aber es gab keine, außer dass ich meine Hilfe anbot.

Mr Reed kniff die Lippen zusammen, entspannte sie wieder, senkte den Blick auf die Briefe vor ihm. »Das ist zuvorkommend, Miss Crumb. Aber ich kenne viele dieser Männer schon seit Jahren. Sie wären beleidigt, wenn ich ihnen nicht persönlich schreiben würde.«

Ich nickte, entsann mich, weshalb ich ursprünglich an der Tür geklopft hatte, und ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Ich wusste nicht genau warum, aber irgendwas an dieser Situation gab mir ein gutes Gefühl.

»Na gut. Dann gehe ich jetzt. Ich wollte Ihnen nur einen guten Tag wünschen«, teilte ich dem Bibliothekar mit und er nickte.

»Guten Tag, Miss Crumb«, antwortete er mir mit ruhiger Stimme und ich wandte mich zum Gehen. »Miss Crumb!«, hielt mich Mr Reed jedoch zurück, während er seinen Stuhl zurückschob und eilig aufstand.

Ich drehte ihm den Kopf zu und hob fragend die Augenbrauen.

»Kommen Sie am Montag wieder?«, erkundigte er sich und ich war überrascht, dass ich ihm anscheinend Grund gegeben hatte, das zu bezweifeln.

»Ja, Mr Reed«, bestätigte ich ihm also und zog dann sachte die Tür hinter mir zu.

Eilig stieg ich die Treppe hinunter und schloss zu meinem Onkel auf, der im Foyer auf mich wartete. Er bot mir den Arm an und ich hakte mich unter, als es mir plötzlich aufging. Der Grund für mein gutes Gefühl, das mich gerade zum Lächeln gebracht hatte. Mr Reed war höflich gewesen! Zum ersten Mal hatte er sowohl in seiner Wortwahl als auch in seinem Ton und der Haltung eine außerordentliche Höflichkeit an den Tag gelegt und es fühlte sich gut an, in seinen Augen endlich die Wertschätzung zu bekommen, die ich mir erhofft hatte.

Ich war es wert, höflich behandelt zu werden.

Es war nicht viel, aber es schien mir in diesem Moment das Beste, was in der vergangenen Woche passiert war.

Wir aßen nicht in der Cafeteria, sondern in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Campus. Es war edel eingerichtet und das Essen gut genug, dass ich ein zweites Dessert bestellte.

Mein Onkel neckte mich, indem er mich verfressen nannte, und wir gingen um Viertel nach eins, um mit der Kutsche zum Flugplatz zu fahren.

Aus einem unverständlichen Grund war ich ein wenig aufgeregt, konnte jedoch nicht genau sagen, ob es an den Luftschiffen lag, die ich gleich sehen würde, oder vielleicht an Mr Boyles Rückkehr.

Wir erreichten den Flugplatz und die Kutsche hielt am Straßenrand. Onkel Alfred öffnete die Tür, stieg aus und bot mir die Hand, damit ich auf der Trittstufe nicht ins Wanken geriet.

Ich fühlte mich kribbelig und ein wenig unsicher, konnte es gleichzeitig aber kaum erwarten, das Gebäude vor uns zu betreten. Es war hoch und prachtvoll gebaut, hatte steinerne Bögen, riesige Fenster und eine so wunderschön verzierte Uhr in der Mitte der Front, dass sie schon beinahe die des Big Ben übertraf.

Geschäftig wie in einem Bahnhof trieben die Menschenmassen hinein und hinaus, und ich blieb dicht bei meinem Onkel, um nicht zwischen all den Leuten, Gepäckstücken und Kofferwagen verloren zu gehen.

Ohne Zögern ging Onkel Alfred auf das Gebäude zu und ich folgte ihm.

Auch wenn mich der prachtvolle Bau faszinierte und die allgemeine Unruhe der Menschen mich in eine Aufbruchsstimmung versetzte, wurde ich in meiner Betrachtung doch immer wieder gestört, wenn sich jemand viel zu dicht an mir vorbeiquetschte. Raschelnde Röcke, hektisches Stimmengewirr, Hunderte Schuhe, die ihre Schritte hallen ließen, stickiger Atem fremder Menschen, eine Schulter, die mich anrempelte, ein Koffer, dem ich nur knapp ausweichen konnte.

 

Obwohl ich mir vorgenommen hatte, die Hektik der Stadt mehr zu lieben als die Eintönigkeit des Landes, kam ich nicht umhin, mich zunehmend beklemmt und atemlos zu fühlen, während sich die Menschenmassen immer enger um uns schlossen, je weiter wir in die Halle kamen.

Ich drängte mich näher an meinen Onkel, hielt den Kopf hoch und versuchte mich auf meine eigenen Schritte zu konzentrieren.

Es konnte nicht mehr weit sein. Vor uns öffnete sich der Blick auf einen gigantischen Platz, der durch die hohen Fenster zu sehen war. Und als mein Blick auf das riesenhafte Luftschiff fiel, das gerade zur Landung ansetzte, vergaß ich augenblicklich alles andere um mich herum. Als hielte die Welt den Atem an, verschwand das Gedränge um mich, die Stimmen, das Getrappel und die Hektik.

Ein Ballon, groß wie ein Häuserblock, lang gezogen wie ein Rugby-Ball, gefüllt mit Gas und heißer Luft. Die Gondel darunter wirkte winzig, obwohl sie mit Sicherheit einer Unzahl von Menschen Platz bot. Kunstvoll geschnitztes Holz wie die Schiffe der alten Zeiten, als hätte Captain Nemo seine Nautilus zum Fliegen gebracht. Es war wie der wahrhaftige Blick in einen Roman, als hätten Buchstaben Gestalt angenommen.

Unfassbar und überwältigend, und ich konnte nicht aufhören, das Luftschiff anzustarren. Selbst dann nicht, als es bereits gelandet war und die Menschen aus der Gondel strömten. Arbeiter spannten Taue, kletterten an schmalen Leitern den gebogenen Ballon nach oben. Passagiere verließen den Platz und betraten das Gebäude, andere liefen nach draußen und bestiegen die Gondel zu einer neuen Reise, die mir so fantastisch vorkam, dass ich nur zu gern mit ihnen gegangen wäre.

»Welche Ehre, Miss Crumb«, ertönte plötzlich von der Seite und ich erschreckte mich so sehr, dass ein leises Quietschen über meine Lippen kam.

Mein Herz pochte wie wild von dem Schreck, als ich mich Mr Boyle zuwandte, der sich unbemerkt neben mich gestellt hatte.

Ich stand ganz vorne an einem metallenen Geländer, die Hände um die kalte Stange gelegt, ohne mich erinnern zu können, herangetreten zu sein.

»Verzeihen Sie. Ich wollte Sie nicht so erschrecken«, entschuldigte sich Mr Boyle sogleich und in seinen Mundwinkeln lauerte ein Lächeln. Er sah noch genauso gut aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte.

»Sie ist eine Träumerin, unsere Ani«, lachte mein Onkel und ich fühlte mich unwohl, wenn er so über mich sprach.

»Haben Sie sich die Luftschiffe angesehen? Wie finden Sie sie?«, fragte mich Mr Boyle, ohne auf den Kommentar meines Onkels einzugehen, wofür ich ihm dankbar war.

»Wirklich, wirklich faszinierend«, gab ich zu und lächelte, weil ich nicht anders konnte. »Sie sind so viel größer, als ich sie mir vorgestellt hatte.«

Mr Boyle lächelte zurück, ein freundliches, ansprechendes Lächeln und schon wie bei unserer ersten Begegnung empfand ich sofort eine gewisse Vertrautheit zwischen uns.

»Sagen Sie, wie viele Leute passen in so ein Gefährt? Wie sehen die Gondeln von innen aus? Oh, wie ist es, damit zu fliegen? Spürt man, wie die Erdanziehungskraft nachlässt, wenn man in die Höhe aufsteigt?«, quollen die Worte aus meinem Mund und ich schämte mich ein klein wenig für meine Neugierde, die ich sonst nur vor Henry, meinem Vater oder meinem Onkel so deutlich zeigte.

Doch Mr Boyle sollte es ja nicht anders von mir kennen, schließlich hatte ich ihn vor einer Woche bei unserer ersten Begegnung ebenfalls mit Fragen überhäuft.

Mr Boyle nahm mir meine Neugierde auch keineswegs übel und lachte auf eine wärmende Art über meinen Redefluss.

»Ich werde versuchen, eine Frage nach der anderen zu beantworten, Miss Crumb«, stellte er mir in Aussicht und ich spürte die Anspannung meiner Neugierde im Bauch.

»Aber nicht hier, meine Lieben«, ging mein Onkel zügig dazwischen und zeigte auf den Haupteingang, durch den wir die Halle betreten hatten. »Geht schon mal nach draußen. Ich werde mich um dein Gepäck kümmern.«

»Aber das ist doch nicht nötig, Alfred«, erklärte Mr Boyle sofort und Onkel Alfred winkte gleich ab.

»Meine Nichte brennt auf Antworten. Ich tue nicht nur dir einen Gefallen, wenn ich euch beide allein lasse«, warf er ein, grinste und machte sich mit einem Augenzwinkern in die entgegengesetzte Richtung davon.

»Na dann«, meinte Mr Boyle und schien sich kurz erinnern zu müssen, wie meine erste Frage lautete. »Also, die Gondeln fassen bis zu dreißig Personen. Sicher könnten es aber mehr sein, wenn es allein um den Platz ginge. Doch ich weiß nicht genau, ob da nicht auch Gewicht eine Rolle spielt«, begann er zu erzählen und wir bewegten uns langsam auf den Ausgang zu.

Die Menge wurde wieder dichter und ich war gezwungen, mich näher an Mr Boyle zu halten, als es üblich war. Ich hätte mich gerne untergehakt, um mich in dem Gedränge nicht so verloren zu fühlen, brachte es aber nicht über mich, es von mir aus zu tun, wenn er mir seinen Arm nicht angeboten hatte.

»Die Gondeln sehen immer unterschiedlich aus. Dieses Mal war die ganze Inneneinrichtung ein reines Kunstwerk. Ich bin aber auch schon mit wesentlich einfacheren Gefährten geflogen«, berichtete er weiter.

Ein Mann rempelte mich so unglücklich an, dass ich zur Seite gestoßen wurde. Mir entfuhr ein Schreckenslaut, meine Schulter schmerzte und einen Moment später fand ich mich in Mr Boyles Armen wieder, der mich etwas erschrocken ansah. Seine Honigaugen blickten auf mich herab und meine Finger klammerten sich an seine Arme.

Erst als er mich wieder aufrichtete und ich festen Stand unter meinen Füßen hatte, merkte ich, dass ich den Atem angehalten hatte und schnappte eilig nach Luft.

»Ent… entschuldigen Sie, Mr Boyle«, stammelte ich und brauchte einen Moment, bis ich es fertigbrachte, meine Hände von seinen Armen zu lösen. Die Menschen drängelten sich weiter um uns herum und Mr Boyle hatte mich noch nicht losgelassen. Er nahm behutsam meine Hand und legte sich meinen Arm um den seinen, sodass ich fest an seiner Seite stand, den Arm untergehakt.

»Schon gut, Miss Crumb, ich fange Sie mit Vergnügen jederzeit wieder auf«, gestand er mir mit einem frechen Lächeln, und ob ich es nun wollte oder nicht, hüpfte mir in diesem Moment das Herz. Ein komisches Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus und ich schob es auf den Schreck.

Flüchtig sah ich mich um, doch der Mann, der mich angerempelt hatte, war längst in der Menschenmasse verschwunden.

Mr Boyle bahnte uns einen Weg bis zum Ausgang und dort öffneten sich die Massen an Menschen sogleich und ließen uns hinaus in die Freiheit.

Jetzt wusste ich wenigstens, dass ich große Menschenmengen keineswegs schätzte. Und dass es sich gut anfühlte, einen Retter mit bernsteinfarbenen Augen an meiner Seite zu haben.

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