Loe raamatut: «Sprachenlernen im Tandem»

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Lingyan Qian

Sprachenlernen im Tandem

Eine empirische Untersuchung über den Lernprozess im chinesisch-deutschen Tandem

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0018-2

Inhalt

  Danksagung

  Einleitung

 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen1.1 Zum Begriff Interaktion1.1.1 Interaktion und Zweitspracherwerb1.1.2 Tandem: eine besondere Interaktionsform für Zweitspracherwerb1.2 Zusammenfassung

 2 Untersuchungsmethode2.1 Konversationsanalytischer Ansatz2.1.1 Grundprinzipien der Konversationsanalyse2.1.2 Konversationsanalyse in der Linguistik2.1.3 Konversationsanalyse und Kommunikation mit nicht kompetenten Sprechern2.2 Zu den Daten2.2.1 Datenerhebung2.2.2 Zu den Probanden2.2.3 Die Aufbereitung der Daten

 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung3.1 Das Konzept: kommunikative Gattung3.1.1 Die Struktur kommunikativer Gattungen3.1.2 Forschung kommunikativer Gattungen3.2 Alltägliche Gespräche3.3 Unterrichtsinteraktion3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung3.4.1 Der Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz3.4.2 Der Wechsel von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch3.5 Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem vs. Unterrichtsinteraktionen3.6 Tandem als eine besondere kommunikative Gattung3.7 Zusammenfassung

 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem4.1 Zum Begriff Erzählen4.1.1 Die Struktur konversationeller Erzählungen4.2 Die Stellung der Erzählfähigkeit im Spracherwerb4.2.1 Erwerb der Erzählfähigkeit in der Muttersprache4.2.2 Erwerb der Erzählfähigkeit in der Fremdsprache4.3 Modell zur Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem4.4 Analyse konversationeller Erzählungen am Beispiel einer Erzählung unter Deutschen4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem4.5.1 Erzählanfänge4.5.2 Dramatisieren (Redewiedergabe)4.5.3 Detaillierung4.5.4 Erzählbeendigungen4.6 Zusammenfassung

 5 Scaffolding5.1 Das Scaffolding-Konzept5.1.1 Bedeutung des Scaffoldings für Lehren und Lernen5.1.2 Scaffolding in der Erstspracherwerbsforschung5.1.3 Scaffolding in der Zweitspracherwerbsforschung5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen5.2.1 Typen von Scaffolding5.2.2 Versuchtes Scaffolding5.2.3 Kontext für potenzielles Scaffolding5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren5.3.1 Fragen5.3.2 Imperativ5.3.3 Explikation5.3.4 Affektive Mittel5.3.5 Übernahme5.3.6 Wiedergabe5.4 Zu Aktivitäten der chinesischen Lerner bei der konstruktiven Dialoghilfe im Tandem5.4.1 Ratifizieren5.4.2 Schweigen5.4.3 Missverstehen5.5 Anpassung des Muttersprachlers an den Sprachstand des Lerners5.6 Zusammenfassung

  6 Schlussbetrachtungen 6.1 Das Sprachenlernen im Tandem: zwischen Fiktionalität und Realität 6.2 Ausblick: Supervision für das Sprachenlernen im Tandem

  Literatur

Danksagung

Ich möchte mich bei all jenen Menschen bedanken, die mich während der Entstehung der vorliegenden Arbeit unterstützt haben.

Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter, Prof. Dr. Helga Kotthoff, die mich mit vielen konstruktiven Gesprächen, produktiven Hinweisen und kritischen Rückmeldungen unterstützte, eigene Gedankengänge zu entwickeln.

Für die Übernahme des Zweitgutachtens und die anregenden Diskussionen möchte ich mich herzlich bei Prof. Dr. Katharina Brizić bedanken.

Den Probanden, die an dieser Untersuchung teilgenommen haben, möchte ich herzlich danken. Ihr Vertrauen und Einverständnis haben die Datenerhebung ermöglicht.

Insbesondere danke ich Ulrike Ackermann, die bei der Aufbereitung der Daten eine Unterstützung geleistet hat.

Meine dankbare Anerkennung gilt in besonderer Weise auch Robert Stimpel für die geduldige Korrektur des Manuskripts und die wertvollen Diskussionen.

Einleitung

Das Tandem-Konzept erlebt seit den 1980er Jahren eine Hochkonjunktur im deutschsprachigen Raum. Beim Lernen im Tandem arbeiten in der Regel zwei Personen mit unterschiedlichen Muttersprachen zusammen, um voneinander zu lernen und gemeinsam fortzuschreiten. Jeder Partner bringt Kenntnisse und Fähigkeiten in seiner Sprache und Kultur ein, die der andere erwerben will. Auf diese Weise profitiert jeder von den Erfahrungen und der Unterstützung des Partners.

Im Rahmen des Lehrens und Lernens fremder Sprachen enthält das Lernen im Tandem zwei Ebenen, das Sprachenlernen und das interkulturelle Lernen. Mit der Globalisierung entstehen immer mehr Begegnungssituationen zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Sprachen. Die Entwicklung der weltweiten Mobilität und der zunehmende internationale Austausch stellen Anforderungen an Menschen, sprachliche Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit im interulturellen Kontext zu erwerben. Vor diesem Hintergrund steht die Frage im Mittelpunkt: Wie kann man den Fremdspracherwerb und die Entwicklung der interkulturellen Kompetenz fördern. Neben dem institutionellen Fremdsprachenunterricht stellt das Tandem eine besondere Alternative für den Spracherwerb und die Vermittlung des kulturellen Wissens dar. Das Tandemfieber an deutschen Hochschulen ist seit Jahren deutlich spürbar, von institutionell organisierten Tandemkursen, Einzeltandemvermittlungen bis zu selbstinitiierten Tandeminteraktionen. Das Tandem-Konzept ist weit verbreitet und den meisten Sprachenlernenden bekannt.

In der vorliegenden Studie geht es um die sprachliche Ebene im chinesisch-deutschen Tandem. Die Arbeit beschreibt die Organisation der Tandemgespräche sowie die Lehr- und Lernpotenziale der Tandeminteraktion für das Deutschlernen der chinesischen Studierenden. In der wissenschaftlichen Literatur zum Fremdsprachenlernen im Tandem ist immer wieder die Rede davon, dass die Interagierenden partnerschaftlich die sprachlichen Defizite des Lerners bearbeiten, indem die muttersprachlichen Tandempartner z.B. die lernerseitigen Äußerungen korrigieren, neue Vokabulare einbringen oder auf grammatische Probleme hinweisen. Außerdem geht die Tandemforschung häufig davon aus, dass die Lerner im nicht-institutionellen Kontext Sprechhemmungen abbauen und dadurch freier sprechen können. In der Interaktion mit den muttersprachlichen Gesprächspartnern erwerben die Lerner nicht nur Kenntnisse auf der Ebene der sprachlichen Form, sondern auch auf der Ebene der Struktur der Diskurse und der Kommunikationsfähigkeit im Umgang mit den Fremden. Alle diese positiven Aspekte zeigen, dass das Tandem-Konzept für das Sprachenlernen fördernd sein könnte.

Wie sehen aber die Möglichkeiten und die Grenzen des Sprachenlernens im Tandem genau aus? Was geschieht, wenn zwei Tandempartner zum Zweck des Sprachenlernens miteinander kommunizieren? Welche Vorteile bringt diese besondere Lehr-Lern-Form? Welche Schwierigkeiten haben die Interagierenden im realen Gesprächsablauf? Ein Blick in die Tandempraxis zeigt, dass die Zusammenarbeit der Interagierenden häufig nicht problemlos ist. Relevante sprachliche Fehler bleiben unkommentiert. Gesprächsthemen zu finden, fällt den Interagierenden schwer. Die Initiativen der sprachlichen Behandlung zeichnen sich durch Spontaneität und Beliebigkeit aus. Konkrete Lernziele finden sich nicht. Ferner ist auffällig, dass manche Tandempaare oft nach kurzer Zeit abbrechen, entweder aufgrund von Problemen, die auf der menschlichen Ebene entstehen oder auch wegen des Motivationsmangels der Teilnehmer.

In der bisherigen relativ jungen Tandemforschung gibt es leider wenige Studien, die einen wirklich detaillierten und aufschlussreichen Einblick in den praktizierten Lernprozess geben. Hier bedarf es empirischer Untersuchungen anhand authentischer Daten. Vor diesem Hintergrund fiel die Entscheidung für die vorliegende Forschung: In einer empirischen Studie wurden drei chinesisch-deutsche Tandempaare in Deutschland ein halbes Jahr wissenschaftlich begleitet. Neben ca. 35-stündigen Audioaufnahmen ihrer authentischen Tandemgespräche wurden Abschlussinterviews mit den chinesischen Probanden durchgeführt. Durch teilnehmende Beobachtung, die in der sozialwissenschaftlichen Feldforschung häufig verwendet wird, konnte ich einen genauen Blick in den Interaktionsverlauf gewinnen.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht jedoch die Frage nach den realen Abläufen und Strukturen der Tandemgespräche zur Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen des Sprachenlernens in der Praxis. Es geht darum, wie sich der Lernprozess im Einzeltandem beobachten, beschreiben und analysieren lässt. Dafür ist es notwendig, eine Unterschungsmethode zu verwenden, mit der man die stattfindenden Gespräche zwischen den Interagierenden rekonstruieren und damit die dynamische Interaktion detailliert analysieren kann. Ein konversationsanalytisches Vorgehen, das anhand authentischer und natürlicher Daten der Analyse der Interaktionsabläufe zugrunde liegt, ist für dieses Untersuchungsziel geeignet.

Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Diese werde ich hier einführend vorstellen. In Kapitel 1 erfolgt ein Überblick über die Lehr- und Lernpotenziale der Interaktion. Hierzu zählen ein historischer Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung der interaktionsorientierten Zweitspracherwerbsforschung und der damit verbundenen Frage nach der Bedeutung der Interaktion im gesteuerten und ungesteuerten Kontext. Neben wichtigen theoretischen Prinzipien wird auch eine Darstellung der wichtigsten Forschungsarbeiten der letzten 30 Jahren gegeben, um möglichst viele aufschlussreiche Perspektiven in diesem Bereich zu gewinnen. Aufgrund dessen wird Tandem als eine besondere Interaktionsform für den Zweitspracherwerb beschrieben. Anhand einschlägiger Arbeiten der jungen Tandemforschung wird auf relevante Elemente in diesem Konzept eingegangen. Dieses Kapitel dient dazu, eine Vorstellung des allgemeinen Lehr-Lern-Kontextes, in den der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit eingebettet ist, zu vermitteln.

Kapitel 2 ist der Beschreibung der Untersuchungsmethode gewidmet. Zuerst erfolgt eine allgemeine Darlegung der Konversationsanalyse. Im Anschluss daran wird das Vorgehen gezielt im Hinblick auf die Untersuchung der Kommunikation mit nicht-kompetenten Sprechern erläutert. Mit ausgewählten Studien wird die Bedeutung der konversationsanalytischen Methode für die Forschung des Sprachenlernens in Interaktion diskutiert und detailliert dargestellt. Dabei geht es vor allem darum, welche Fragen man mit dieser Methode beantworten und inwieweit man dadurch eine aufschlussreiche Einschätzung zu Möglichkeiten und Grenzen des Sprachenlernens in Interaktion ziehen kann. Neben der Erörterung der forschungsrelevanten methodologischen Fragen geht es in diesem Kapitel um eine transparente Darstellung der Daten.

Kapitel 3 bis Kapitel 5 enthält die empirische Untersuchung, die den Kern der vorliegenden Arbeit bildet. Die Beschreibung des Tandemgesprächs als eine besondere kommunikative Gattung wird in Kapitel 3 vorgenommen. Der erste Analyseteil untersucht – ausgehend von der sprachwissenschaftlichen Gattungstheorie – den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz. Im nächsten Schritt erfolgt die Analyse des Wechsels von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch. Das zielt darauf ab, ein allgemeines Bild über die Interaktionsabläufe im Tandem für das Sprachenlernen zu gewinnen. Dabei ist festzustellen, dass das Tandemgespräch sich durch den ständigen Wechsel zwischen dem alltäglichen Gespräch und der Lehr-Lern-Aktivität auszeichnet.

In Kapitel 4 wird auf das konversationelle Erzählen fokusiert, um die Interaktionssequenzen im chinesisch-deutschen Tandem in meinem Korpus detailliert zu analysieren. Anhand der einschlägigen Theorien in der bisherigen Erzählforschung und meiner empirischen Daten wird zunächst ein Modell zur Analyse konversationeller Erzählungen der chinesischen Lerner im Tandem entwickelt. Anschließend erfolgt die Sequenzanalyse der relevanten Ebenen bezüglich der Erzählstruktur, nämlich Erzählanfang, Dramatisieren (Redewiedergabe), Detaillierung und Erzählbeendigung. Dabei wird aufgezeigt, wie die chinesischen Lerner ihre Erzählungen aufbauen. Sowohl Kompetenzen als auch Defizite bzw. spezifische lernersprachliche Gestaltungen im Tandem werden dadurch ausführlich veranschaulicht.

In Kapitel 5 wird der analytische Fokus im Anschluss an die Untersuchung der Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner um eine weitere Ebene erweitert und die Rolle der muttersprachlichen Tandempartner gezielt betrachtet. In Anlehnung an das sogenannte Scaffolding-Konzept werden die Verhaltensweisen der Muttersprachler bei der lernerseitigen Durchführung der Erzählungen untersucht. Es wird einerseits gezeigt, wie sie die chinesischen Lerner unterstützen, mit ihnen zusammen die Erzählungen aufbauen und welche Verfahren sie dabei einsetzen. Andererseits werden auch die in der Untersuchung verdeutlichten Defizite der muttersprachlichen Gesprächspartner erläutert. Neben der zentralen Rolle der Muttersprachler beim Scaffolding sind die lernerseitigen Aktivitäten ebenfalls wichtig. Schlussendlich basiert eine konversationelle Erzählung auf partnerschaftlicher Zusammenarbeit. In Anbetracht der Bedeutung der gegenseitigen Kooperation für das Gelingen der muttersprachlichen Scaffolding-Verfahren werden die Aktivitäten der chinesischen Lerner dabei diskutiert. Daher ergibt die Analyse der Scaffolding-Verfahren wichtige Einblicke in die Möglichkeiten und Grenzen des Sprachenlernens im Tandem.

Kapitel 6 beinhaltet abschließend eine Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse. Es wird auf die Potenziale und Probleme beim Sprachenlernen im Tandem, wie sie die konversationsanalytische Untersuchung aufweist, eingegangen. Hier wird die Situation der Tandempraxis anhand meiner empirischen Daten sowie der teilnehmenden Beobachtung zusammengefasst und zur Beantwortung der gestellten Forschungsfragen herangezogen. Davon ausgehend erfolgt der Vorschlag von Supervision für das Sprachenlernen im Tandem, die zur Förderung des Lernens im Tandem in Zukunft ausgebaut werden sollte.

1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen
1.1 Zum Begriff Interaktion

Interaktion ist laut Fremdwörterbuch (Duden Band 5, 4. Auflage 1982, S. 350f.) als aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen zu verstehen. Das heißt, dass die daran Beteiligten auf den anderen reagieren und einander beeinflussen. Nach Kotthoff (2012: 1) bezieht sich die Interaktion nicht nur auf Sprechen und Hören, sondern auch auf Lesen und Schreiben, z.B. bei elektronischen Kommunikationsformen wie „e-mail“ oder „chat“. Jedoch stellt das Gespräch die hauptsächliche Erscheinungsform von Interaktion dar.

Edmondson und House (2003: 242) unterscheiden „verdeckte“ Interaktion von „offener“ Interaktion. Mit „verdeckter“ Interaktion ist ein kognitiver Verarbeitungsprozess bei sprachlichen Handlungen wie Lesen oder Schreiben gemeint. Beim Lesen ereignet sich zum Beispiel die Interaktion zwischen einem Text und einer Person. Der sich daraus ergebende kognitive Verarbeitungsprozess ist nicht zugänglich. Unter „offener“ Interaktion werden gemeinhin Interaktionen wie zum Beispiel Unterrichtsinteraktionen, die direkt beobachtet werden können, verstanden.

In den sprachwissenschaftlichen Untersuchungen wurden in den letzten 30 Jahren hauptsächlich die beobachtbaren Abläufe der offenen Interaktion in die Forschung einbezogen, während die mit Kognition verbundene verdeckte Interaktion aufgrund ihrer schweren Zugänglichkeit weniger berücksichtigt wurde.

1.1.1 Interaktion und Zweitspracherwerb

Unter Zweitspracherwerb versteht man den Prozess, bei dem ein Mensch sich neben der ersten Sprache eine zweite oder weitere Sprache aneignet. Dieser Prozess kann in der späten Kindheit, in der Jugend oder im Erwachsenenalter geschehen, wenn die Erstsprache erworben wurde. Je nachdem unter welchen Bedingungen eine neue Sprache erlernt wird, unterscheidet man zwischen den Begriffen Zweitsprache und Fremdsprache. Mit Zweitsprache wird in der Regel die Sprache bezeichnet, die zum alltäglichen Gebrauch lebensnotwendig ist. Die Sprecher leben z.B. in einem Kontext, wo vorwiegend diese Sprache gesprochen wird. Um an den sozialen, akademischen, politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen, sollten sie diese Sprache beherrschen. Im Gegensatz dazu ist unter Fremdsprache die Sprache zu verstehen, die man normalerweise im Kontext der eigenen Kultur lernt. Das heißt, die Lerner haben oft wenige Gelegenheiten oder Bedürfnisse, sich an den Aktivitäten in der fremdsprachlichen Gesellschaft zu beteiligen. Da der Fokus der vorliegenden Arbeit in der Rolle der Interaktion für das allgemeine Lernen einer neuen Sprache liegt, werden die beiden Begriffe (Zweitsprache und Fremdsprache) hier nicht extra differenziert. Das heißt, das Wort „Zweitsprache“ wird, wie in der Forschung üblich, für jede Sprache gebraucht, die nicht die erste Sprache des Lerners ist.

Die Forschung zum Zweitspracherwerb begann in den späten 1960er Jahren und zeichnete sich von Anfang an durch ihre Interdisziplinarität aus. Sie umfasste nämlich Didaktik, Linguistik, Kinderspracherwerb und Psychologie gleichermaßen (Huebner, 1998). Bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist dieses Forschungsgebiet eine eigenständige Disziplin geworden.

Einen Überblick über die Zweitspracherwerbsforschung bieten Ortega (2009) und Saville-Troike (2012). Ortega (2009) führt aus, wie universale, individuelle und soziale Faktoren den Erwerb der Zweitsprache von verschiedenen Menschen in unterschiedlichen Lernsituationen beeinflussen. Ebenfalls davon ausgehend, dass man nur aus multi- und interdisziplinären Perspektiven ein umfassendes Bild über die Aneignung der Zweitsprache bekommen kann, stellt Saville-Troike (2012) verschiedene Forschungen zu diesem Thema aus den Bereichen der Sprachwissenschaft, Psychologie und Soziologie vor. Ein weiterer Fokus von Saville-Troike (2012) liegt darin, dass man sich beim Zweitspracherwerb nicht nur die Sprache, sondern auch die Kompetenz in der Zweitsprache aneignen sollte. Diese Kompetenz lässt sich ihrer Meinung nach auch aus mehreren Blickwinkeln definieren, z.B. sprachliche Kompetenz, kommunikative Kompetenz und Kompetenz für die Teihnahme an Aktivitäten wie Sprechen, Hören, Schreiben und Lesen.

Dabei richtet sich der Blick in der linguistischen Zweitspracherwerbsforschung seit den 1980er Jahren auf die Wirkungen der Interaktion beim Erlernen der Zweitsprache. Es ist die Gruppe um Long (u.a. Chaudron, Doherty, Pica, Young), die die Input-Hypothese (u.a. Ferguson 1975, Chaudron 1977, Hatch 1974, Larsen-Freemann 1976, Krashen 1982, 1985) zur Interaktions-Hypothese weiterentwickelt hat. Während in der Input-Hypothese der Verständlichkeit der zielsprachlichen Äußerungen eine besondere Bedeutung für den Spracherwerb zugeschrieben wird, weist Long (1983) darauf hin, dass der Input durch Modifikationen der interaktionalen Struktur der Konversation verständlich wird. Die Bedeutung der Interaktion für den Zweitspracherwerb wird dadurch betont.

In der Interaktions-Hypothese lautet die allgemeine Auffassung, dass der Spracherwerb durch zweiseitige Interaktion erfolgreicher als durch einseitige stattfindet. Nach zahlreichen empirischen Untersuchungen über die Wirkung von Interaktion auf den Zweitspracherwerb ergibt sich die folgende Bilanz:

 Interaktion bietet einen Kontext, in dem die Lerner mit dem Input der Zielsprache konfrontiert werden und damit versuchen, sie zu verstehen (Krashen 1982).

 Interaktion bietet einen Kontext, in dem die Lerner gezwungen werden, in der zu lernenden Zielsprache zu kommunizieren und ihren Output in der Zielsprache verständlich und angemessen zu gestalten (Gass 2003, Swain 1995, 2005).

 Interaktion bietet den Lernern die Möglichkeit zur Bedeutungsaushandlung („negotiation of meaning“) zum Zweck der gegenseitigen Verständigung (Gass 2003).

 Das Feedback, das die Lerner in Interaktion bei Formulierungsschwierigkeiten oder Verständnisproblemen von ihren Interaktionspartnern bekommen, spielt eine bedeutende Rolle für den Zweitspracherwerb (Mackey 2006).

 Möglichkeiten zum zielsprachlichen Output können die Beherrschung der erworbenen zielsprachlichen Kenntnisse und das flüssige Sprechen in der Zielsprache fördern (de Bot 1996, Swain 1995, 2005).

Während einerseits die positiven Wirkungen von Interaktion auf den Zweitspracherwerb entweder theoretisch oder empirisch verdeutlicht werden, gibt es andererseits auch kritische Meinungen dazu. Kommunikative Interaktion in der Zielsprache ist zwar wichtig für den Spracherwerb, aber effizientes Sprachenlernen erfolgt nach Edmondson und House (2003: 244) nicht mittels Interaktion allein. Ellis (2003) wirft der Interaktions-Hypothese vor, ein statisches Bild von Fremdspracherwerb zu zeichnen, bei dem letztendlich Interaktion auf einzelne, quantifizierbare Merkmale reduziert, der reziproke Charakter von Gesprächen aber negiert wird.

Hinsichtlich der Wirkung von Interaktion auf den Zweitspracherwerb bilden sich einige Forschungsfelder in den linguistischen Untersuchungen heraus. Im Vordergrund steht in der Regel die Forschung über gesteuerten oder ungesteuerten Spracherwerb in Interaktionen. In den folgenden Darlegungen wird ein Überblick über den Forschungsstand auf dem Gebiet des Zweitspracherwerbs in Interaktionen auf zwei Ebenen (gesteuerter und ungesteuerter Zweitspracherwerb) gegeben.

Žanrid ja sildid

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481 lk 2 illustratsiooni
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9783823300182
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