Loe raamatut: «moralisch defekt»
«moralisch defekt»
Pauline Schwarz
zwischen Psychiatrie
und Gefängnis
Lisbeth Herger | HIER UND JETZT |
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Mit Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt: Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung Katharina Strebel Stiftung Stiftung Interfeminas
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Umschlagbild: Staatsarchiv Aargau, Justizvollzugsanstalt Lenzburg, Häftlingsdossier Nr. 389; Bild S. 1: Privatbesitz. Lektorat: Stephanie Mohler, Hier und Jetzt Gestaltung und Satz: Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-484-1
ISBN E-Book 978-3-03919-954-9
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz
Inhalt
Vorwort
Im Burghölzli
Das Gutachten
Urteile
Entmündigung und Versorgung
Listen der Ohnmacht
Zwischen Gittern
Die Wiederkehr des Gleichen
Die Königsfelder Akte
Die Verwahrung
Herrendienste
Der Kampf um die Tochter
Neustart am Napf
Nachgeborene
Pauline Schwarz – Stationen als Gefangene
Quellen und Literatur
Anmerkungen
Dank
Autorin
«Der gesellschaftliche Weg ist uns ein für alle Mal durch den eisernen Vorhang der Strafakte versperrt. […] Es ist zu spät, zu unauslöschlich, nicht umsonst nennt man die Verurteilungen ‹Tätowierungen›.»
Albertine Sarrazin, mehrfach verurteilte Einbruchs- und Taschendiebin (1937–1967)
«Bestimmt will ich ein liebes Mutti sein u. nie mehr so etwas machen, wieviel musste ich ja ungerecht verbüssen aber man glaubt nur andern, es ist klar wenn man etwas gebost hat u mit dem Gesetz in Konflikt bist, bist wehrlos. Aber warum ich so geworden bin, frägt man nie, sondern zieht nur das böse hervor.»
Pauline Schwarz, Auszug aus einem Brief an ihren Ehemann, Kantonale Heilanstalt Königsfelden, 28. Januar 1951
Vorwort
Die Schweiz schaut zurück. Forscht, denkt nach. Entschuldigt sich. Im Fokus stehen die administrative Versorgung, die Zwangsarbeit, die Verwahrung. Der Ausschluss und das Wegsperren einer ganzen Gruppe von Bürgerinnen und Bürger im letzten Jahrhundert. Menschen, die es nicht schafften, im Land der Anständigen anzukommen. Sogenannt Liederliche und Arbeitsscheue. Oder Trunksüchtige und Asoziale. Die manchmal auch mit dem Gesetz kollidierten. Sie galten als die «Vertreter der Unordnung», wie Friedrich Glauser, der Dichter, sie einst nannte, gehörten zum Stand der Unruhigen, oft ein trauriges Leben lang. Es gab Zehntausende von ihnen. Ihr Leiden war gross.
Hinter Abstraktionen und Zahlen stehen Menschen. Verbergen sich Lebensläufe. Im Falle von Pauline Schwarz das Leben einer Frau. Genauer einer Straftäterin. Geboren 1918, gestorben 1982. Sie war fünf Mal verheiratet, schenkte fünf Kindern ein Leben. Vierzehn Mal stand sie vor Gericht, verbrachte neun Jahre und einen Monat ihres Lebens hinter Gittern oder Verwahrungstüren. Vorwiegend wegen Diebstahls und Betrug. Von solch delinquenten Frauen weiss man noch wenig. Sie waren in der göttlichen Ordnung der Männer nicht vorgesehen. Entsprechend hart wurden sie von der Justiz gemassregelt. Und von der Psychiatrie als «moralisch defekt» pathologisiert.
Die Geschichte der Pauline Schwarz zeichnet ein solches Leben nach. Rekonstruiert deren Biografie von den Anfängen als Armeleutekind im Rheintal bis zu ihrem Lebensabend als Bäuerin am Napf. Die hervorragende Quellenlage ermöglicht Präzision im Nachverfolgen eines getriebenen Lebens, die Einbettung in das Zeitgeschehen das Aufdecken der so gewichtigen Rolle der Psychiatrie im biografischen Geschehen. Und beides zusammen erlaubt das Aufspüren einer Handlungslogik dieser als «Gewohnheitsverbrecherin» so oft weggesperrten Frau.
Der Anstoss zu dieser biografischen Nachverfolgung kam von einer der Töchter von Pauline Schwarz. Sie wurde gleich nach der Geburt von der Mutter getrennt, lebte mit fragmentarischem Wissen über die Frau, die sie geboren hatte. Es waren vor allem Schreckensbilder und Gerüchte. Nach ihrer Pensionierung begann sie, den Lebensweg ihrer Mutter zu erforschen, und wollte wenigstens die verschiedenen Stationen dieses wirren Lebens zusammentragen. Sie war dabei beeindruckend hartnäckig. Fand Abwehr und Unterstützung. Verlor sich dann irgendwann in den unzähligen Akten und deren Leerstellen.
Nun ist daraus doch noch eine Lebensgeschichte geworden. Eine biografische Reise. Zusammengefügt aus Hunderten von schriftlichen und mündlichen Quellen. Die Namen sind bis auf wenige öffentliche Amtsträger alle anonymisiert. Die Orte aber sind authentisch. Es ist der Versuch, hinter der verstümmelnden Sprache von Justiz, Psychiatrie und Behörden das Gesicht einer Frau freizulegen, die individuell und exemplarisch für ihr Geschlecht steht. Und ihr damit ihre Biografie zurückzugeben. Im Schutze eines Pseudonyms.
Lisbeth Herger, im Herbst 2020
Im Burghölzli
Ob der Polizist die junge Frau in Handschellen in die Kantonale Heilanstalt überführt hat, ist nicht dokumentiert. Überliefert ist nur, dass die Strafgefangene dort am 18. November 1941 nachmittags um drei Uhr dem zuständigen Psychiater übergeben wird. Zürichs psychiatrische Anstalt, landesweit und über die Grenzen hinaus bekannt als «Burghölzli», steht auf dem gleichnamigen Hügel im Südosten der Stadt. Hoch über dem See, von Wald und Reben umgeben. Einst hiess das Burghölzli schlicht «Irrenheilanstalt», inzwischen steht «Heilanstalt und psychiatrische Universitäts-Poliklinik» auf den offiziellen Papieren. Aber das Burghölzli sitzt tief in den Köpfen der Leute. Die Frau, die aus der Untersuchungshaft hierher verschoben wird, heisst Pauline Schmid, geborene Schwarz, ist 23 Jahre alt, verheiratet. Sie ist Mutter eines kleinen Sohnes, Stiefmutter einer ganzen Kinderschar, das Jüngste ist sieben, die Älteste, Ida, längst erwachsen. Pauline war gerade mal 21, als sie ihren Mann, den Witwer Armin Schmid, einen Landwirt und Bauarbeiter aus Regensdorf, heiratete. Der Mann ist mehr als doppelt so alt. Für kurze Zeit hatte sie bei ihm als Haushälterin gedient, dann wurde sie schwanger. Doch das Ungeborene überlebte die rohe Gewalt des Erzeugers nicht. Kurz nach der Hochzeit wurde es der werdenden Mutter vom Mann aus dem Bauch geschlagen. Sie aber wurde sogleich wieder schwanger. Das brachte neue Gewalt. Nach der Geburt floh die Frau, erst mit, später ohne Kind; verdingte sich in fremden Häusern, machte Schulden, versuchte, mit kleinen Diebstählen und Schwindeleien an Geld und Waren heranzukommen. Sie kehrte zurück, floh und flunkerte erneut, ging wieder heim. Und war bereits wieder in anderen Umständen.
Schliesslich hatte Ehemann Armin genug von diesen Wirren. Nach einem Streit liess er seine Frau polizeilich abholen, schlug Alarm auf dem örtlichen Posten, klagte, dass «seine Frau sich aufführe wie verrückt, man müsse damit rechnen, dass ein Unglück passiere. Sie habe schon vor zwei Tagen gedroht, sie schneide sich und dem kleinen Knaben Jakob, der erst etwa einjährig ist, den Hals auf». Zudem, so empörte er sich, habe sie mit dem Karabiner auf ihn gezielt. Als die Polizei eintraf, fanden sie Pauline mit dem Kind in einem Zimmer verbarrikadiert. Sie wünschte, zu ihrem Vater nach St. Margrethen fahren zu können, der aber wollte nichts von ihr wissen. Der Polizist verhaftete die «wiederholte Betrügerin», vom Bezirksgefängnis wurde sie nach einer Woche Untersuchungshaft in die Kantonale Heilanstalt Burghölzli überführt. Zur Begutachtung ihrer «Geistestätigkeit».
So chronologisch aufbereitet findet sich Paulines Vorgeschichte in keiner Akte. Diese Rekonstruktion ist das Ergebnis einer hartnäckigen Spurensuche in Archiven. Es liegen vor: das angeforderte psychiatrische Gutachten, 17 Seiten; das Strafurteil vom Bezirksgericht Zürich, 18 Seiten; ein handgeschriebener Lebenslauf, datiert auf den Tag nach ihrer Einweisung, eine Seite; und schliesslich die von den Ärzten während der Beobachtungszeit vorschriftsgemäss geführte Krankenakte. Diese verbirgt sich in einer halbfesten Schutzmappe aus bräunlicher Pappe, gezeichnet als «Akte 42.319». Weiter steht auf dem Deckblatt in grossen Lettern Paulines Name, dann derjenige ihres Ehemannes und ihr Wohnort. Das heisst, genau besehen sind es mehrere Wohnorte, sie wurden ständig durchgestrichen und aktualisiert, auch noch in der Zeit nach der Entlassung. Auffällig zudem das Erfassen eines sogenannten «Garanten», rot und fett umrahmt, es ist dies bei Pauline die Bezirksanwaltschaft Zürich im Büro Nummer 11. Und der «körperliche Status» der Eingewiesenen wird als «Signalement» erfasst, damit bei einer allfälligen Flucht umgehend nach der Flüchtigen gefahndet werden kann.
Pauline Schmid hat, wie ihre Akte verrät, keine pathologischen Auffälligkeiten, die festgehalten werden müssten. Auch die prominent gesetzte Frage nach erblichen Belastungen bleibt bei ihr Leerstelle. Jedoch erfährt man, dass die junge Frau mittelgross ist und grazil wirkt, dass sie ein symmetrisches Gesicht und eine gerade Nase hat, ihr oben einige Zähne fehlen, dass Puls und Blutdruck unauffällig sind. Einzig ihre Brustwirbelsäule zeigt eine kleine Deformation. Pauline selbst erklärt den Rundrücken mit einem Unfall als Schulkind, der Arzt scheint zu zweifeln und kritzelt «angeblich». Vielleicht zu Recht, denn ein Gibbus kann auch vererbt sein, wie eine ihrer Töchter später erfahren muss. Weiter wurde bei den Untersuchungen das Hygieneinstitut aktiv, der «Lues-Nachweis» kommt negativ zurück, also keine Syphilis, kein exzessives Sexualleben, auch die Genitalien sind äusserlich in Ordnung. Die Strafgefangene ist nach eigenen Angaben im vierten Monat schwanger.
Angaben zur seelischen Befindlichkeit der Patientin finden sich im sogenannten Aufnahmestatus: «Junge Frau sitzt mit verweinten Augen im AZ [Aufnahmezimmer]. Gibt ruhig und geordnet Auskunft. Sie habe eben Geld behalten und davon die Milch bezahlt. […] Der Mann habe nur geschimpft. In letzter Zeit schlage er sie soviel. Sie sei wieder schwanger und das passe ihm wohl nicht. Als sie mit dem ersten Kind ging, habe er sie auch geschlagen. Sie wisse schon, dass es nicht recht sei, dass sie Geld genommen habe, weint. Wirkt oligophren [leicht schwachsinnig]. Auch ihre Einstellung zum Delict ist etwas merkwürdig, sie spricht so offen und ohne inneres Entsetzen darüber. Klagt, dass sie in letzter Zeit nicht habe schlafen können, sie wisse nicht warum. Es gehe ihr sonst gut, nur leide sie ein wenig an Schwangerschaftserbrechen.» Und zum Grund ihrer Überweisung fügt sie an: «Hier sei sie, weil sie auf unwahre Angaben hin Sachen geholt habe. Weil der Mann sie geschlagen habe, als sie in anderen Umständen war, da habe sie gemeint, mit dem könne sie ihn wieder gewinnen. Jedesmal, wenn sie in andern Umständen war, habe er sie immer geschlagen, auch schon das erste Mal. Das sei sicher wahr, man dürfe den Mann fragen. Das habe der Mann selbst zugegeben.» Den Grossteil ihrer kleinen Betrügereien, mit denen sie sich auf ihren Fluchten durchs Leben mogelte, hat die Untersuchungsgefangene bereits zugegeben. Denn ihre Versuche, an Geld und Waren zu kommen, missglückten. Sie operierte mit dem immer gleichen Muster: Gab sich auf einem Pfarramt als eine Frau Meier aus, die eben erst im Dorf zugezogen sei, in Geldnöten stecke, einen Mann im Militär und zu Hause viele Kinder habe und dringend Geld brauche. Sie werde das erbetene Darlehen innert Wochenfrist zurückzahlen. Erste Erfolge machten ihr Mut, sie versuchte es wieder, in weiteren Pfarrämtern, in Zürich Schwamendingen, Wipkingen und Seebach, in Oberglatt und Rümlang, mit immer neuen Namen. Aber dann schöpfte einer der geistlichen Herren Verdacht, überprüfte die Geschichte dieser «Frau Weber» in seiner Pfarrstube, und Pauline flog auf. Bei der ersten Einvernahme hatte die Polizei sich noch kulant gezeigt, liess die Schwindlerin – nach Abnahme des erbettelten Geldes – gleich wieder laufen. Doch nun, nach der Anklage des Ehemannes, war eine Serie weiterer Delikte ans Licht gekommen. Und die Bezirksanwaltschaft Zürich entschied, die Angeklagte im Burghölzli auf ihre Zurechnungsfähigkeit hin begutachten zu lassen.
Für Pauline muss der Eintritt in die schlossähnliche Anlage der Anstalt mit dem symmetrisch angelegten Park beängstigend gewesen sein. Als kantonale Irrenheilanstalt im 19. Jahrhundert von Stadtbaumeister Johann Caspar Wolff erbaut, thront der spätklassizistische Bau mit seiner Sandsteinfassade, der schweren Pforte und den vergitterten Fenstern mächtig über der Stadt. Heute steht der Bau unter Denkmalschutz. «Sie bauten, bis das Haus bereit, das tiefstem Unglück ist geweiht», rezitierte Gottfried Keller, Staatsschreiber und Dichter, beim Aufrichtefest von 1870 oben auf dem Dach sein eigenes Gedicht. An Unglück hat es seither nicht gemangelt, auch nicht an Unglücklichen, die hier aufgenommen worden sind. Die Anstalt war schon bald nach ihrer Eröffnung überfüllt, es fehlte an Betten für Kranke, an Schlafplätzen für Pfleger und Schwestern, die in den langen Korridoren oder in den Krankenzimmern zu nächtigen hatten. Auch die Wirtschaftsräume der Anstalt stiessen an ihre Grenzen. So wurde dann Anfang der 1930er-Jahre kräftig erweitert, es gab Zimmer fürs Personal, eine neue Gemüseküche mit therapeutischen Arbeitsplätzen, ein grösseres Waschhaus, Umbauten in der Dörrerei. Und just vor Paulines Eintritt hatte man endlich die stinkenden Aborte saniert.
Als Strafgefangene wird Pauline vorerst in die Abteilung F2 eingewiesen, in den «Wachsaal für halbruhige Frauen». Noch kann man die Gefangene nicht einschätzen, sie muss wegen Fluchtgefahr unter Kontrolle bleiben. Im Burghölzli herrscht damals, Ende 1941, eine Art Ausnahmezustand. Schliesslich steht Europa, und bald die ganze Welt, in einem mörderischen Krieg. Die Schweiz sichert ihre Grenzen. Und ruft auf zur Anbauschlacht. Alle sind betroffen, alle machen mit. Auch die psychiatrische Anstalt mit ihrer selbstversorgenden Landwirtschaft. Man versteht sich als Teil eines Kollektivs, das um Unabhängigkeit kämpft. Es werden mehr Kohl und Runkeln produziert und neu auch Kartoffeln, Hafer und Gerste angebaut. Man schafft es, die kriegswirtschaftlichen Auflagen des Bundes sogar zu überbieten. Selbst die Milchleistung wird gesteigert, und dies bei reduziertem Eigengebrauch. Mit Stolz rapportiert der Jahresbericht die entsprechenden Erfolge und unterlegt sie mit Zahlen. Jedoch gibt es auch Engpässe zu vermelden, und zwar beim Kerngeschäft der Anstalt, bei der medizinischen Versorgung. Die periodische Einberufung der Ärzte zum Grenzdienst erzeugt empfindliche Lücken. Auch die Pfleger fehlen, und für den Wachdienst in den Sälen muss ungeschultes Personal eingesetzt werden. Die Überforderungen nehmen zu, die Krankheitstage der Angestellten steigen.
Inwiefern sich die kriegsbedingten Verschlechterungen direkt auf Pauline und ihr Anstaltsleben auswirken, ist schwer zu sagen. Sie gehört sowieso zur Kategorie der Ärmsten. Ist in der überfüllten «Allgemeinen» untergebracht, wird selbstredend in die dritte Klasse eingeteilt, karges Essen, reduzierte Besuchszeiten. Zudem nehmen die Armenfälle weiter zu, wie im Jahresbericht bedauert wird. Das hat handfeste Gründe. Es lässt sich mit einem neuen Auftrag der Psychiatrie erklären, den diese sich – in den Jahrzehnten zuvor – zugespielt hat und zuspielen liess. Sie kümmert sich nicht mehr nur um Geistesstörungen im engeren Sinne, sondern hilft auch, den Umgang mit «Unruhigen», mit «Umtriebigen» zu klären, die sich unbelehrbar widerborstig und dabei manchmal auch straffällig verhalten. Wer dank ärztlicher Diagnosekunst nur als eingeschränkt urteilsfähig oder gar krank erkannt wird, soll für seine Trunksucht, seine Liederlichkeit, seinen Mundraub weniger bestraft als vor allem ausgesondert werden. Weggesperrt. Mit einer sogenannten Massnahme. Dabei gilt der Schutz weniger den Renitenten selbst als vielmehr dem Rest der Gesellschaft. Man hat neue Diagnosen entwickelt, welche die Bevormundung dieser Unruhigen ermöglichen und die Durchsetzung sogenannt fürsorgerischer Zwangsmassnahmen medizinisch stützen. Und so kommt es, dass im Burghölzli in den 1940er-Jahren nicht nur geforscht, gelehrt und – gemäss den eigenen Statistiken – eher selten geheilt, sondern mehr und mehr auch begutachtet wird. Die Gutachtertätigkeit steigt von Jahr zu Jahr, 1941 beträgt die Zunahme über zehn Prozent, vermeldet der Jahresbericht, sodass insgesamt 353 Gutachten an Behörden und Versicherungen ausgeschickt werden. Eines davon gilt Pauline Schmid.1
Ein Armeleutekind
Die Krankenakte von Pauline Schmid ist das Protokoll einer Klärung. Im Fokus stehen «Geistestätigkeit» und «Urteilskraft». In den fünf Wochen konzentrieren sich die Ärzte auf die Taten und Tatmotive der Angeschuldigten. Familiäre Hintergründe und biografische Entwicklungen sind nicht weiter wichtig. In der kurzen Autoanamnese erfährt man, dass der Vater Deutscher, die Mutter Schweizerin ist, dass die Strafgefangene in der Ostschweiz aufgewachsen ist, dass sie eine mittelmässige Schülerin war, die gerne rechnete, sich aber mit Lesen schwertat. Und dass sie früh als Küchen- und Hausmädchen in fremde Dienste geschickt wurde. Noch vor ihrer Konfirmation sei sie zu ihrem Onkel nach Schönenberg gekommen, so erzählt sie, habe in der Landwirtschaft mitgeholfen, später sei sie als Küchenmädchen nach Bülach weitergezogen. Die fremden Hausdienste habe sie nur für kurze Zeit unterbrochen, um zu ihrer erkrankten Mutter heimzukehren. Habe sich bald schon an einer neuen Stelle verpflichtet, im Zürcher Unterland, bei Rafz, bei einem Bauern. Mit 21 dann habe sie geheiratet und sei ein Jahr danach Mutter eines kleinen Buben geworden. So notiert der Arzt die Kurzbiografie aus dem Munde der Angeklagten.
Von der sonstigen Schwere in diesem jungen Leben, noch vor ihrer Heirat, findet sich in den Aufzeichnungen nichts. Es braucht die Fahrt ins Rheintal, den Gang in die Gemeindearchive von Buchs und St. Margrethen, um auf Sedimente dieser Kindheit zu stossen. In den Gemeinderatsprotokollen, in den gebundenen Folianten zur Armenunterstützung dieser Jahre, in den Betreibungs- und Strafregistern – überall finden sich Spuren aus dem Alltag der Familie Schwarz. Und sie alle erzählen Bruchstücke davon, dass der kleinen Pauline wohl eher ein rauer Eintritt in die Welt beschieden war. Ihr Vater Alois, Sohn eines Söldners, kam im Jahr 1900 aus dem württembergischen Bellamont bei Ochsenhausen ins sankt-gallische Buchs. Der junge Mann ist damals 24, vaterlos, er versucht sein Glück alleine als Hausknecht im neuen Land. 1909 heiratet er Paulina Oberholzer, eine Bauerntochter aus dem zürcherischen Schönenberg. Das zweite ihrer vier Kinder, der kleine Anton, stirbt kurz nach der Geburt, Sohn Alois und die Töchter Louise und Marie Pauline zeigen sich zäh. Marie Pauline, die spätere Pauline, ist die Jüngste. Sie kommt 1918, bei Kriegsende, auf die Welt, in den offiziellen Dokumenten wird sie als Marie geführt. Auf wirtschaftliches Glück wartet Familie Schwarz vergeblich. Bereits 1916 wird Zuwanderer Alois samt Familie schriftenlos, sein Heimatausweis ist abgelaufen, die geforderte Kaution von 4000 Franken ist für ihn unbezahlbar. Aber immerhin findet die Familie zwei Bürgen, die für sie garantieren. Jahre später soll ein Neustart in St. Margrethen eine Wende erzwingen, Vater Schwarz übernimmt ein Wirtshaus und wird Gastwirt. Marie Pauline ist damals neun, wechselt die Schule und die Lehrer. Doch der Orts- und Berufswechsel zahlt sich nicht aus. Kaum eingezogen in der Gaststätte Zum Landhaus, beginnen sich hinter dem Tresen die Schuldbriefe zu stapeln, mindestens zwei Mal monatlich steht der Betreibungsbeamte vor der Tür. Die Gäste werden weniger, die Gläubiger immer mehr. Alle wollen sie ihr Geld haben, Kaufhäuser und Versicherungsgesellschaften, der Wein- und der Velohändler, der Bäcker, eine Volksbank. Sie melden sich von weit her, aus Davos, aus dem luzernischen Malters und aus den Dörfern rings herum, aus Altstätten oder Heiden, und auch die örtliche Molkerei stellt formell ein Begehren. Schliesslich ist der Konkurs unvermeidlich. 1929 wird aus Alois Schwarz ein «gewesener Wirt», und kurze Zeit später zieht die Familie vollkommen verarmt aus ihrem «Landhaus» wieder aus. Der Überlebenskampf dauert an. Pfändungen und Betreibungen, die wegen «unverschuldetem Zahlungsunvermögen» schliesslich gar nicht mehr weitergeleitet werden. Nur das Steueramt gibt nicht auf. Und der alte Hausarzt Dr. Feiner. Unwillig verweigert er die Behandlung der erkrankten Mutter, wartet auf die eingeforderte Kostengutsprache der Gemeinde. Diese wiederum beschert Vater Schwarz eine Ausschaffungsdrohung, «falls die Gemeinde für ihn die Arztkosten bezahlen müsse». Und zudem wird er wegen seiner Schuldenwirtschaft mit der Einstellung des Aktivbürgerrechts bestraft. Ein hübscher weisser Schimmel amtlicher Bürokratie, denn Zuwanderer Schwarz besitzt gar keine Bürgerrechte, der Einkauf in die Schweizer Staatsbürgerschaft ist für ihn auch nach dreissig Jahren unerschwinglich geblieben.
Wie sich die drei Schwarz-Kinder durch all diese Jahre bewegen, weiss man nicht. Nur zwei behördliche Spuren führen direkt zu ihnen. Einmal wird Vater Alois «wegen fortgef. Entzugs seines Kindes vom vorgeschriebenen Schulunterricht» mit einer Busse bestraft. Es geht dabei um seine Jüngste, um Marie Pauline, die offenbar oft krank ist, wegen einer «Wanderniere», wie der Vater den Richtern erklärt, und dass sie deswegen «alleine in einer Bank sitzen müsse», klagt er, und dass «der Lehrer sich nicht viel mit ihm [dem Mädchen] abgebe». Doch seine Erklärungen zählen nicht.«Diese Einreden sind jedoch solange ein ärztliches Zeugnis fehlt, nicht stichhaltig», urteilen die Richter, vergessen, dass bereits ein Arztbesuch für Habenichtse unbezahlbar sein kann. Die zweite Aktennotiz, die einen Einblick in die Kindheit der Geschwister Schwarz erlaubt, ist eine Intervention des Waisenamtes, damals, als man den Konkurs abwickelte und das Amt verlangte, dass man für die drei eine kleine Summe der Konkursmasse abzweige. Die 1000 Franken wurden sogleich verteilt, eine beachtliche Summe wanderte nach Davos, Sanatoriumskosten für Louise, die an Tuberkulose erkrankt war. Sie blieb dann gleich dort, für die Anfänge ihres Dienstmädchenlebens, so verrät uns der örtliche Meldeschein.
Pauline verlässt ihr Elternhaus mit ungefähr 14 Jahren, so erzählt sie dem Arzt in ihrem Aufnahmegespräch. Sie berichtet auch von Mutters Erkrankung und ihrer diesbezüglichen Heimkehr. Den eigentlichen Tod spart sie in ihrer Erzählung aus. Sie ist noch keine 19, als die Mutter schliesslich stirbt. Mitten im Winter 1937. An einer «Herzlähmung», wie das Totenbuch der evangelischen Kirchgemeinde von St. Margrethen festhält. Hinweise darauf, wie sehr dieser Tod die junge Frau umtreibt, finden sich im kurzen Lebenslauf, geschrieben am Tag nach ihrem Eintritt ins Burghölzli. Im ersten Teil erzählt sie in knappen Worten von ihrem jungen Leben, erschafft sich mit den üblichen Stereotypen eine glückliche Kindheit, schreibt diskret über das Schwierige hinweg. «Am 13 Juni 1918 wurde ich in Buchs geboren. Mit einem Bruder und Schwester wuchs ich auf. Meinere Jugend durfte ich mit vielen frohen Zeit erleben. Die Schule besuchte ich in Buchs und St. Margrethen. Wo meine Eltern heute noch sind. Nach meiner Konfermation ging ich in die Fremde um mein Brot zu verdienen, 2 Jahre diente ich als Küchenmädchen bei Familie Fehr in Bülach. Hernach ging ich nach Hause um meiner Mutter in den kranken Tagen eine Hilfe zu sein. Doch mit vielen Heimweh ging ich später wieder an eine Stelle, wo ich kein Glück hatte so wurde mir viele Schicksal zur Last. Doch immer vertraute ich auf Gott er werde mir helfen.» Der zweite Teil, der immerhin die Hälfte ihres Textes ausmacht, ist mehr Reflexion als Biografie, er gilt dem Sterben und dem Tod ihrer Mutter, den sie schreibend umkreist. «So kamen so viel Stunden wo meine Mutter ans Sterben war und konnte ein 1 ½ sah ich Sie nie mehr sehen, wo ich nur imer und imer denke warum ich nicht eher Heim war, seit dem Tode habe ich mich so viel geweint und habe nie mich mehr so zu Hause gefühlt, Trotzdem das der Vater sehr lieb zu mir war. Im 1939 verheiratet ich mich mit einem Witwer mit 9 Kindern wo ich mich mit aller liebe diesen Kindern eine liebe Mutter ersetzte war sehr froh denn wo ich das eigene Mutterstolz erfahren durfte und einen lieben Bub das Leben schenken durfte.»
Der frühe Tod der Mutter muss Pauline getroffen haben. Sie tut sich schwer mit dem eigenen Fernbleiben in der Sterbephase, das vielleicht ökonomisch begründet war. Eine Heimkehr kostete Reisegeld und brachte Lohnausfall. Zudem blieb sie in ihrer Trauer allein. Der innerfamiliäre Austausch war wohl dürftig, blieb beschränkt auf Briefpost und seltene Gespräche am Telefon. Die Geschwister waren früh auseinandergedriftet, die grosse Schwester ging nach Davos, zur Kur, später als Dienstmädchen in fremde Haushalte. Und auch Alois, der Bruder, wurde schnell ein Abwesender. Ein Hilfsarbeiter, der sich zunehmend an Arbeitslosigkeit und Alkohol aufrieb. In diesen Leben hatte eine kleine Schwester wenig Platz. Und die von Pauline behauptete Liebe des Vaters scheint erst recht ein Wunsch der Sehnsucht zu sein. Im Burghölzli-Gutachten jedenfalls wird der Vater ausschliesslich in der Rolle eines Anklägers zitiert, der sich bitter über die widerborstige Tochter beschwert, die ihm schon früh Schmach und Schande beschert habe, mit Lug und Trug und Alkohol, so sehr, dass er sein Städtchen St. Margrethen fast hätte verlassen müssen. Zweifelsfrei ist Pauline, die Jüngste, familiär auf sich alleine gestellt, der Tod der Mutter dürfte sie heftig erschüttert haben. Und liess die Minderjährige wohl sehr einsam zurück.
Erste Diebereien
Pauline bleibt nach dem Tod ihrer Mutter dem Rheintal fern. Tritt im thurgauischen Weinfelden eine neue Stelle an. In einer Brauerei mit Gastwirtschaft. Als Mädchen für alles. Mit einem Wochenlohn um die elf Franken, bei Kost und Logis. Ein niedriges Gehalt, auch im kollegialen Vergleich, das für wenig reicht, und schon gar nicht für kleine Träumereien. Pauline mag sich damit nicht abfinden. Sie entschliesst sich zur Nachbesserung, versucht sich ein erstes Mal als kleine Diebin. Zwei Mal greift sie in den Geldbeutel der Kollegin, tappt zudem in die vom Wirt ausgelegte Falle mit der herumliegenden Zwanzigernote als Köder. Sie wird angezeigt, kommt in Untersuchungshaft, wird im Herbst 1938 vom Bezirksgericht Weinfelden wegen Diebstahl und Fundunterschlagung verurteilt: 14 Tage Gefängnis, Gerichtskosten von neunzig Franken, Rückzahlung der gestohlenen Gelder. Der Schuldenberg ist umgerechnet 16 Wochenlöhne hoch. Eine schlechte Bilanz für ihren Selbsthilfeversuch. Die Löhne selbst aber, die niedrigen Dienstmädchengehalte, sind für die Richter kein Thema, jetzt nicht, und sie werden auch später in Paulines Akten nie in den Fokus der sonst umfassenden Tatanalysen gerückt. Nicht von der Strafjustiz, nicht von den Behörden und auch nicht von den Psychiatern. Im Gegenteil, die Weinfelder Richter verstehen ihr Urteil als gemässigt, betonen die strafmildernden Faktoren, dass es Paulines erste Verfehlung sei und ihr Leumund nicht ungünstig laute. Und fügen deshalb ihrem Urteil doch noch etwas Würze bei, zum Schutz und Wohle der Bürger, in Form eines nicht unbedeutenden Nachsatzes: Marie Pauline Schwarz ist als unerwünschte Ausländerin für zehn Jahre aus dem Kanton Thurgau auszuschaffen.
Mittellos und wohl ebenso widerwillig schlüpft sie für kurze Zeit bei ihrem Vater in St. Margrethen unter. Dieser ist bereits über sechzig, arbeitet noch immer, als Taglöhner, auf dem Bau und als Fuhrknecht, lebt von Zuweisungen der Krisenhilfe, stellt Gesuche um Steuerreduktionen. Altersrenten gibt es keine. Mittlerweile ist er als Quartalssäufer bekannt. Später dann, nach 1949 – Deutschland ist wieder im Aufbau –, wird er von seinem Heimatland eine kleine Pension bekommen, ausbezahlt von der Deutschen Interessenvertretung in Zürich, der späteren Botschaft. Im Herbst 1954 stirbt Alois Schwarz, der einst aus Ochsenhausen Zugewanderte, seinen Ausländerstatus und die Armut nimmt er mit ins Grab.
Pauline kann und will nicht lange bei diesem Vater in Dauerkrise bleiben, er kann ihr nicht helfen, selbst wenn er auch wollte. Aber der Alltag kostet, und die Schulden des ersten Urteils drängen auf Zahlung. Unterstützung ist keine in Sicht, sie muss sich selbst aus dem Sumpf ziehen. Erneut wird sie delinquent. Diesmal versucht sie es nicht mehr als Diebin, sondern erschwindelt sich die benötigte Ware. Erprobt zum ersten Mal ihre kleinen Inszenierungen in der Erfindung akuter Not. Sie setzt dabei auf ihre Ortskenntnisse, auf ihre narrative Inspiration und ihr Talent zu ein bisschen Schauspielerei. Gibt sich in den Läden als eine andere aus, wird zu «Leni Müller», einer Dienstmagd in Stellung, die in der Bäckerei Süssigkeiten für die Herrschaften abzuholen hat – die Frau des Hauses wird nachkommen und bezahlen. Oder zur Botengängerin von «Fräulein Kehl zur Drahtseilbahn», die in der Handlung Beeler zwei Stränge Wolle und Stricknadeln abholen soll; sie probiert im Modegeschäft Zeindler einen Mantel mit Pelzkragen an, wählt einen passenden Blusenstoff, erzählt von ihrem Vater, der bei der Bahn arbeite, und dass die Familie vor Kurzem nach St. Margrethen zugezogen sei, in ein neues Häuschen. Und auch, dass sie den schönen Mantel zu gerne ihrer Mutter zur Prüfung zeigen möchte, bevor sie abends zum Bezahlen zurückkommen werde. Im Wäschegeschäft Dornbierer gleich nebenan tritt sie erneut als Leni Müller auf, diesmal aus reichem Haus, die zu viel Geld ausgegeben hat und sich auf Kredit zwei Hemden, zwei Barchentleintücher und eine Berufsschürze geben lässt. Doch Kaufmann Dornbierer wird misstrauisch, fährt Pauline hinterher und steckt seine Ware wieder ein. Die Ertappte bringt auch dem Herr Zeindler seinen Mantel wieder zurück und läuft dann mit leerem Magen nach Fahr zur Metzgerei, um sich dort ein Würstchen zu erschwindeln.