Loe raamatut: «Die Krone der Schöpfung», lehekülg 2

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AMAZON

»Irgendein Projekt hat sich bisher immer ergeben«, sagte ich zum Mann. Der Mann hatte sich beklagt, dass die Abbuchungen zurückgingen. Und für jede zurückgegangene Abbuchung wollte die Bank zehn Euro haben.

»Aber wieso wollen die zehn Euro haben für eine Abbuchung, die nicht abgebucht werden kann?« Zum Glück klingelte dann mein Telefon, also es klingelte nicht, es brummte, weil ich habe mein Telefon eigentlich immer auf stumm. Eine Frau war dran und während ich noch überlegte, woher wir uns kannten, fragte sie mich schon, was ich von einem virtuellen Writer's Room für eine Amazon-Serie halten würde. Ich machte dem Mann ein Zeichen, das so was bedeuten sollte wie, dass der Anruf ganz wichtig wäre, und sagte dann ins Telefon, dass ich gerade an meiner Dissertation arbeite, aber prinzipiell nicht abgeneigt sei. Das mit der Doktorarbeit war mir irgendwie so rausgerutscht, hat die am Telefon aber auch nicht weiter interessiert. Die Frau am Telefon ging so selbstverständlich davon aus, dass ich wüsste, worum es ging, dass ich auch nicht noch mal nachfragen konnte. Möglicherweise waren da auch zwei Frauen am Telefon, aber auch das habe ich nicht gefragt, was ich im Nachhinein etwas bereue. Sie haben dann gesagt, dass sie meine Idee ziemlich interessant fänden, und dass ich auch erst mal nur einen Entwurf schicken könnte, und ich habe nur »Mhm« gesagt. Wahrscheinlich hatte ich die Frau oder Frauen an dem Abend, an den ich mich nicht mehr so gut erinnern konnte, getroffen und ihnen irgendeiner Idee erzählt. Ich fragte dann immerhin doch, welche von den Ideen sie eigentlich meinten, so als hätte ich ganz viele Ideen, und sie sagten: »Die Zombieidee.« Ich hatte keine Ahnung, was das sein sollte, die »Zombieidee«, sagte aber: »Ok, ja klar«, und wir verabschiedeten uns nett und legten auf. Es würde mir schon wieder einfallen.

Nachts ist es ganz still im Dorf, also richtig nachts, wenn man schon ein paar Stunden geschlafen hat und dann wieder wach ist. Es sei denn, man hat eine Nachtigall in einem Baum vor dem Fenster sitzen. Ich musste die Frauen von Amazon mit meiner Idee zu irgendetwas inspiriert haben. Wahrscheinlich dachten sie, dass bald schon niemand mehr vor die Tür gehen würde und dass alle zu Hause Serien streamen würden, Romanzen oder eben so Zombiezeug. Ich würde schon wieder drauf kommen, aber jetzt musste ich einfach nur die Augen geschlossen halten und durfte gar nichts mehr denken.

HOMEOFFICE

Die Heimarbeit oder das Homeoffice hat eine lange Tradition. Wenn man es genau nimmt, hatten die Menschen anfangs gar keine Vorstellung, etwas anderes zu machen als Homeoffice. Erst mit der Einführung der Lohnarbeit, also dem Konzept, dass einer einen anderen dafür bezahlt, dass er für ihn arbeitet, fing es an, dass die Menschen an einen ihnen zugewiesenen Arbeitsplatz gingen und dort ihre Aufgaben verrichteten. In diesem Zuge gab es dann auch auf einmal die Freizeit, die immer dann war, wenn man nicht an seinem Arbeitsplatz war, und das fühlte sich gut an. So wurde das Zuhause immer mehr mit Freizeit und immer weniger mit Arbeit assoziiert.

Die Idee, dass die Schreibtischarbeiter auch außerhalb des Gebäudes des Arbeitgebers arbeiten könnten, nämlich von da aus, wo sie eben Lust hatten, keimte in den 70er-Jahren wieder auf, wurde aber erst viel später mit dem schnellen Internet wirklich machbar. Das Homeoffice kollidierte dann aber mit dem Konzept Freizeit/Familie, das sich in der Zwischenzeit untrennbar mit dem Zuhause verbunden hatte. Genau genommen könnte der Arbeitnehmer im Homeoffice viel mehr arbeiten, denn er sparte die Hin- und Rückfahrt zum Arbeitsplatz, und wenn er die Arbeit geschickt in seinen Tagesablauf integrierte, hätte er die Chance, jede freie Lücke zu nutzen. Allerdings empfand der Arbeitgeber einen gewissen Kontrollverlust, und er würde erst lernen müssen, dass das moderne Beschäftigungsverhältnis mehr auf Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein basierte. Als das Coronavirus ausbrach, war die Heimarbeit schnell die einzige Alternative, und jeder, der es sich leisten konnte, verzog sich in sein Homeoffice. Auch die Kinder.

DIE RUHE VOR DEM STURM

Die Ruhe vor dem Sturm bezeichnet die letzten Momente vor der Katastrophe. Damit die sonst geschäftigen Orte sich leeren, muss ein Großteil der Menschen der kommenden Gefahr gewahr sein und sich bereits in Sicherheit gebracht haben, oder sich gerade in Sicherheit bringen. Die Ruhe vor dem Sturm wird selten als friedlich empfunden, obwohl durchaus Potenzial für Momente der Besinnung vorhanden wäre. In der Ruhe vor dem Sturm lässt sich schlecht etwas Neues anfangen.

Hier auf dem Dorf war die Ruhe vor dem Sturm nur schwer von der ganz normalen Ruhe zu unterscheiden. Nur aus dem Internet wusste man, dass das hier jetzt die Ruhe vor dem Sturm war. Immer mehr Bilder von leeren Plätzen, die sonst niemals leer waren, wurden gezeigt, und Kurven mit Zahlen, die Anstalten machten, hochzuschnellen. Bald kamen einem alle Menschen, die sich noch nicht in Sicherheit gebracht hatten, unverantwortlich, ja fast lebensmüde vor. Komischerweise fiel mir da der Titel für die Zombieserie ein: Honka. Oder besser: Honka, Bar des Vergessens. Ich hatte erst vor ein paar Tagen von einer Bar mit diesem komischen Namen geträumt. Es war ein seltsamer Traum, deshalb habe ich ihn auch nicht gleich wieder vergessen wie andere Träume. Ich betrieb die Bar zusammen mit einigen Schulfreunden, mit denen ich schon längst nichts mehr zu tun hatte, und die neuen Nachbarn kamen als Gäste. Die Familie mit den zwei Kindern war erst vor Kurzem gegenüber eingezogen. Sie verwirklichten ihren Traum vom Leben auf dem Land und ich hatte sehr stark daran mitgewirkt, sie davon zu überzeugen, dass genau hier der richtige Ort dafür wäre. Aber jetzt, da ich sie in die Bar kommen sah, hatte ich so eine Vorahnung, dass sie über mich etwas herausfinden würden, was sie vielleicht vom Gegenteil überzeugen könnte. Aber genau konnte ich mich eigentlich nur an den Schriftzug mit dem Namen dieser Bar erinnern, der mit schwarzer Farbe über die Eingangstür gesprüht war.

KLEINER LEBEREGEL

Zuerst lebt der Kleine Leberegel in der Atemhöhle der Schnecke. Von dort wird er als Schneckenschleim ausgehustet, für den sich besonders die Ameise interessiert. Nachdem die Ameise den Schleim zu sich genommen hat, klettert sie nachts auf einen Grashalm und wartet darauf, dass ein Schaf sie frisst. Wenn kein Schaf sie bis zum Morgengrauen gefressen hat, klettert sie wieder herunter und geht zurück zu den anderen Ameisen in ihren Bau. Der Erreger bringt die infizierte Ameise aber dazu, jede Nacht aufs Neue an die Spitzen der Grashalme zu klettern, bis sie endlich von einem Schaf gefressen wird. Durch diesen Trick, die Ameise in eine Kamikazeameise zu verwandeln, gelangt der Erreger in das Schaf, dessen Gallengänge der erwachsene Kleine Leberegel sein Zuhause nennt.

Der Kleine Leberegel hat lange gebraucht, um den besten Weg von Schaf zu Schaf herauszufinden. Menschen, die sich genauer mit dem Kleinen Leberegel beschäftigen, vermuten, der Kleine Leberegel habe diese Strategie erfinden müssen, weil er in der Ameise in eine Sackgasse geraten war: Er war in sie hineingekommen, kam aber nicht mehr aus ihr heraus. Natürlich war nicht nur ein Kleiner Leberegel in diese Sackgasse geraten, sondern Abertausende, und es brauchte Millionen von Jahren, bis einer von ihnen herausgefunden hatte, wie er in das Gehirn der Ameise vordringen und die Ameise dazu bringen konnte, sich für ihn zu opfern.

HELDENREISE

Nach einem amerikanischen Professor der Mythologie aus dem Staat New York sind die allermeisten Geschichten der Menschheit, also zumindest die, die sich gut verkaufen, ihrer Struktur nach Heldenreisen. In der Heldenreise gerät der Held, der eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat, in eine schwierige Situation, die nur durch das besondere Geschick des Helden zu lösen ist. Dabei erhält der Held meist von unerwarteter Seite Unterstützung oder zumindest den entscheidenden Tipp, der ihn dann vor dem Untergang rettet. Es ist also nur verständlich, dass in einer Situation, in der das Virus unaufhaltsam jeden Einzelnen bedroht, jeder Einzelne begierig alle verfügbaren Informationen aufsaugt, die ihm eine bessere Überlebenschance im Falle der entscheidenden Auseinandersetzung ermöglichen. Jede noch so kleine Randnotiz, etwa, dass Ibuprofen die Wahrscheinlichkeit zu erkranken verstärkt, ist jetzt von allergrößtem Interesse. Ich habe in der Schublade im Badezimmer nachgesehen, ob ich überhaupt Ibuprofen habe, und zum Glück keins gefunden.

Das größte Problem der Krankheit ist, habe ich gelesen, die Heftigkeit der eigenen Immunabwehr. Also sind diejenigen mit einer schwächer ausgeprägten Abwehr im Vorteil. Dann müsste es wohl am besten sein, wenn man gar keine Abwehr hat, wäre das nicht logisch? Für mich macht das alles keinen Sinn und ich muss sofort aufhören, weiter zu recherchieren. Ich muss mich von der Hoffnung verabschieden, im entscheidenden Moment durch zusätzliche Informationen bessere Überlebenschancen zu haben, und von der Idee, mein Schicksal in der eigenen Hand zu halten, am besten gleich mit.

LIVETICKER

Liveticker oder Newsticker oder Nachrichtenticker nennt man die Technik, die es einem ermöglicht, immer alle Nachrichten sofort zu haben. Früher, und daher kommt auch der Name »Ticker«, verwendete man, um immer auf dem Laufenden zu sein, Fernschreiber, und die machten ein tickendes Geräusch. Wenn man die Liveticker verschiedener Nachrichtenmagazine zusammennahm und überall den News-Alarm aktiviert hatte, konnte man minütlich auf dem Laufenden gehalten werden. Es war auf jeden Fall sehr wichtig, dass man nichts versäumte und alle Informationen, die es gab, parat hatte. Ohne die Nachrichten hätte hier auf dem Dorf sicherlich niemand etwas mitbekommen von der Krise und auch nichts von dem Virus. Um sicherzugehen, dass man auch nichts verpasst hatte, konnte man sich die Zusammenfassung zweimal täglich über Mail zukommen lassen, oder doch gleich jede neue Nachricht als Pushnachricht aufs Telefon. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich das eigentlich wollte, als ich diese Funktion aktivierte, aber als ich sie dann wieder ausschaltete, kam mir alles noch viel gefährlicher und unheimlicher vor. Trotzdem schaltete ich ab da auch das Brummen auf meinem Telefon lieber aus und es machte einfach gar kein Geräusch mehr.

AUFBRUCH

Der Winter war passé, und auch, wenn sonst alles herunterfuhr, begann die Natur zu erwachen. Nichts und niemand konnte sie aufhalten, so wie sie bis jetzt noch jedes Jahr nichts und niemand hatte aufhalten können. Kraniche zogen in Keilformationen über den Himmel, Buschwindröschen blühten auf den jetzt noch lichtdurchfluteten Böden der Laubwälder und wie immer begab sich die Krötenschar mitten in einer Nacht zu ihrem Laichgewässer. Ich weiß das, weil das Laichgewässer der Kröten in Hörweite meines Schlafzimmerfensters liegt. Sie brechen zu einer Zeit auf, zu der ich zwar schon im Bett liege, aber noch etwas Wichtiges zu überdenken habe, und wenn sie angekommen sind im Tümpel, dann feiern sie mit lautem Quaken den Neubeginn.

Die Tage wurden eindeutig wieder länger, was die Zirbeldrüsen in Mensch und Tier dazu veranlasste, weniger Schlafhormone auszuschütten und Gefühle der Leichtigkeit zu vermitteln. Doch in diesem Frühling waren die Menschen von der um sie herum sprießenden Natur eher irritiert. Sie hatten das Gefühl, dass sie diesmal nicht dabei sein durften.

HOMESCHOOL

Es kam mir vor, als ob es schon wochenlang so gegangen wäre, dabei sollte erst morgen der Ernstfall eintreten und die Schulen geschlossen werden. Gestern hatte ich mich mit den Nachbareltern getroffen, um zu beratschlagen, ob wir zusammen eine Homeschool aufmachen sollten, damit unsere Kinder zumindest die Vormittage über irgendetwas Vernünftiges machten. Ein bisschen Struktur schien uns hilfreich in den endlosen Tagen, die vor uns lagen.

Die Nachbarn aus dem Traum mit der Bar, die jetzt gegenüber wohnten, hatten noch eine andere Familie nach sich gezogen, für die auch noch Platz im Haus der Nachbarn war. Jeder, der mit dem Traum vom Landleben angesteckt worden war, steckte damit für gewöhnlich noch andere an, und so waren wir mittlerweile schon eine kleine Gruppe ehemaliger Stadtmenschen, die jetzt Landmenschen sein wollten und in der Dorfmitte lebten. Um die Idee mit der Homeschool zu besprechen, setzten wir uns in einen Kreis, wie das wenige Tage oder Wochen zuvor noch ganz normal gewesen war. Der eine ganz neue Nachbar, der in gewaltfreier Kommunikation ausgebildet war, hat uns erklärt, dass es am besten wäre, erst mal eine Gesprächsrunde abzuhalten, bei der jeder sagt, wie es ihm oder ihr geht und was er oder sie alles denkt. Sprechen darf dabei immer nur der, der den Gesprächsstab hat. Als Stab nahmen wir den Zollstock, den der Mann in der Hosentasche hatte. Der Nachbar mit der gewaltfreien Kommunikation, also der ganz neue Nachbar, bekam den Zollstock als Erstes. Er war ziemlich aufgebracht. Nicht, dass er direkt an eine Verschwörung glaubte, aber die Art, wie die Medien Angst schürten und verbreiteten, und wie die Menschen diese Angst bereitwillig annähmen, brachte ihn auf und er hatte den Wunsch, in unsere Homeschool etwas mehr Freiheit und Freude reinzubringen. Ich bekam als Nächste den Zollstock und sagte, dass der Ansatz des ganz neuen Nachbarn mir gut gefiele, weil ich mich ohnehin schon so angeschlagen fühlte und der Meinung war, dass unser brandenburgisches Dorf an sich schon genügend Abschottung bedeutete.

»Solange jetzt nicht die ganzen Städter rauskommen und sich in ihr Landhaus flüchten«, sagte meine Stuhlkreisnachbarin ganz richtig. Ich sagte besser erst mal nichts, denn dummerweise hatte ich den Fluchteltern bereits gesimst, dass wir eine Homeschool machen würden und sie ihre Fluchtkinder gerne dazustecken könnten. Als der andere Nachbar, also ihr Mann, den Zollstock bekam, stand er zum Reden auf, verschränkte die Arme und war ganz entschieden der Meinung, dass wir, als Teil der Gesellschaft, die wir ja nun mal wären, die Aufgabe hätten, das Risiko möglichst gering und damit den Kreis unserer Homeschool so klein wie möglich zu halten. Dann sah er mich direkt an und sagte, wenn er eine Mutter zu Hause hätte, die bald achtzig wäre, würde er sowieso niemals zulassen, dass irgendein Fremder das Haus betritt. Ich weiß schon, dass der Nachbar das bestimmt nicht so böse ausdrücken wollte, aber getroffen hat es mich dann doch. Ich habe ihm gesagt, dass meine Mutter sich nicht einsperren lässt, dass ich es sogar schon versucht habe, aber wenn jetzt die Tage immer wärmer werden und alles zu sprießen beginnt, könnte ich meine Mutter unmöglich vom Garten fernhalten. Lieber stirbt sie, hat sie gesagt.

SOCIAL DISTANCING

Social Distancing ist eine sehr effektive Methode, um die Weitergabe von Tröpfchen von einem Individuum zum anderen zu verlangsamen. Erst war der Begriff noch sehr neu und niemand wusste, wie lange er sich halten würde. Manche kamen sich toll vor, wenn sie ihn verwendeten, und andere setzten ihn eher ironisch ein. Aber bald schon war klar, dass Social Distancing in unserer Gesellschaft angekommen und ein neuer feststehender Begriff geworden war. Irgendjemand hatte auch schon einen Wikipedia-Artikel erstellt, dem dann viele weitere noch etwas hinzufügten. Überhaupt gab es bald viele neue Redewendungen, von denen man vorher noch nie gehört hatte. »Flatten the Curve« oder »Protect the Elderly« etwa. Oder Begriffe, die man zwar schon irgendwie kannte, aber kaum oder selten verwendet hatte, wie »Herdenimmunität«, »Durchseuchung« oder »Pandemie«.

Da keiner wusste, ob er den oder das Virus schon hatte, oder ob der vor ihm in der Schlange es schon hatte, oder die Bäckereiverkäuferin, und weil die Tests, mit denen man das hätte testen können, irgendwie nicht zur Verfügung standen, musste man sehr bald einsehen, dass es wohl das Beste war, sich einfach erst mal voneinander fernzuhalten und einen Mindestabstand zu wahren. Anfangs setzten sich noch ein paar darüber hinweg und empfanden sich dabei als lässig und unaufgeregt, aber es dauerte nicht lang und keiner kam sich mehr cool vor.

Innerhalb von Herden ist Nähe ein Ausdruck von Zugehörigkeit und Verbundenheit zu seiner Spezies, weswegen Gefühle der Einsamkeit nicht ausblieben, aber die meisten gewöhnten sich irgendwie daran.

FLEDERMAUS II

Sobald es dunkel wird, also in der späten Dämmerung, flattern bei uns die Fledermäuse lautlos ums Haus herum. Man muss nur ein paar Sekunden warten, bis sie wiederkommen, auf einer Bahn, die der vorherigen recht ähnlich ist. Ich fragte mich schon, ob sich das für die Fledermaus überhaupt lohnt, für die paar Mücken oder Motten, die sie dort erwischen kann, oder ob diese Flüge vielleicht doch noch einen ganz anderen Sinn haben.

In der Stadt bekommt man die Fledermaus nur selten zu Gesicht. Sie stößt hochfrequente, für uns nicht hörbare Rufe aus, und überhaupt nimmt man sie mehr als Schatten wahr, als dass man sie konkret ausmachen könnte. Am Tag schläft sie, aufgehängt mit den Füßen nach oben, und im Winter sowieso. Fledermäuse sind nach dem Menschen die am häufigsten vorkommenden Säugetiere auf der Erde. Es gibt sie überall, bis auf die Antarktis. Ihr Immunsystem ist so stark wie kaum ein anderes. Während unser Immunsystem je nach Bedarf hoch- und runterfährt, um Kraft zu sparen, leistet sich die Fledermaus die ganze Zeit über die volle Abwehr. Ihr Immunsystem läuft ständig auf Hochtouren. Der schwarze Flughund und der Nilflughund sind besonders resistent. Ein Virus, das es aus der Fledermaus wieder heraus geschafft hat, ist gewappnet für die große, weite Welt, ein Mensch ist für ihn ein Kinderspiel.

AMERIKA

Das großartigste Land der Welt brauchte sich wirklich nicht vor einem Schnupfen zu fürchten. So ein kleiner, feiger, unsichtbarer Virusfeind würde den Vereinigten Staaten von Amerika nichts anhaben können, sagte der Präsident.

Einen halben Tag lang musste sein Berater auf ihn einreden, bis er sich breitschlagen ließ, der Depesche zuzustimmen, dass der Virus ein gefährlicher Gegner wäre, den man ernst nehmen konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren. Na gut, Gottes eigenes Land vor einem gemeinen ausländischen Virus zu schützen, das würde auf jeden Fall eine würdige Aufgabe sein, und ab da war der amerikanische Präsident voll drin in der Erzählung. Wenn er es geschickt anstellte, würde er als Held daraus hervorgehen können. Als Erstes taufte er das ausländische Virus auf den Namen China-Virus. Man muss den Leuten immer ein Bild liefern und so ließen sich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. »Fighting the China Virus«, das war schon mal nicht schlecht. Die von der Weltgesundheitsorganisation vorgeschlagenen Namen SARS-CoV-2 für das Virus und CoViD-19 für die Krankheit, waren auch einfach nur öde und schwer zu merken. Und was sollte CoViD denn bitte heißen? Das bedeutete ja einfach gar nichts.

VIREN II

Vor Hunderten von Millionen von Jahren hat das Urvirus den Körper eines Lebewesens verlassen und schwebt seitdem auf der Suche nach neuen Körpern frei herum. Der Mann hat das irgendwo gelesen, weiß aber nicht mehr, wo. Das Urvirus soll aus der DNA eines anderen Lebewesens hervorgegangen sein, möglicherweise aus der eines Dinosauriers. Es hatte während der Zellteilung einen Fehler gegeben und ein einzelner kleiner Schnipsel schaffte es, der DNA zu entkommen und sich fortan, so unvollständig wie er war, in das Zentrum des Kopierens zu stellen. Das war dann Virus i und er ließ sich immer wieder und wieder kopieren. Im Internet konnte ich nichts zu dieser Theorie finden. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob ich den Mann richtig verstanden hatte. Er wirft mir so etwas beim Mittagessen hin, geht danach einfach wieder auf seine Baustelle und denkt, ich könnte dann noch weiter arbeiten.

Dieser kleine Schnipsel, der seiner Zelle entkommen ist, liebt die Veränderung, und mit jeder fehlerhaften Kopie hat er die Chance, neues Unheil anzurichten. So schweben die Viren in Tausenden von Variationen unaufhaltsam durch die Welt. Sie sind maximal frei, lassen sich treiben und lieben das Chaos. Aber noch mehr lieben sie es, in scheinbar geordnete Systeme einzudringen. Das System hat keine Vorstellung davon, was es tut, wenn es diese Information, also den Bauplan aus dem Virus, wohlwollend aufnimmt. Die Hüllen von Virus und Zelle verschmelzen und die Erbinformationen werden übertragen. Dann wird das Virus von der gekaperten Wirtszelle kopiert und weiterkopiert. Solange das Virus von der Wirtszelle beherbergt wird, geht es ihm gut und alle sind zufrieden. Aber natürlich vernachlässigt die Wirtszelle dabei ihre normalen Aufgaben, und allzu lange kann man seine normalen Aufgaben nicht vernachlässigen, zumindest nicht, ohne dass es jemand merkt. Spätestens dann, wenn das Immunsystem mitbekommt, dass da etwas nicht nach Plan läuft, beginnt der Kampf. Das Immunsystem erstellt über die individuelle Eiweißkennzeichnung ein Fahndungsbild und die Soldaten des Immunsystems können losziehen und alles und jeden, der zu dem Bild passt, kurz und klein schreddern. Wenn das Immunsystem das Virus bereits kennt, ist das eine Sache von Tagen. Wenn das Immunsystem das Virus aber noch nicht kennt, muss erst ein neues Fahndungsbild erarbeitet werden. Der Virus gewinnt Zeit und der Körper gehört ihm.

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