Loe raamatut: «Die Lehren der Zeugen Jehovas»
Die Lehren der Zeugen Jehovas
Punkt für Punkt biblisch widerlegt
Dr. Lothar Gassmann
Impressum
© 1. Auflage 2021 ceBooks.de im Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Dr. Lothar Gassmann
Cover: Caspar Kaufmann
ISBN: 978-3-95893-275-3
Verlags-Seite und Shop: www.ceBooks.de
Kontakt: info@ceBooks.de
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Inhalt
Titelblatt
Impressum
Dank
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Einleitung
Namen
Geschichte
Quellen
1870-1916: Die Ära von Charles Taze Russell
1916-1942: Die Ära von Joseph Franklin Rutherford
1942-1977: Die Ära von Nathan Homer Knorr
1977-1992: Die Ära von Frederick William Franz
1992-2000: Die Ära von Milton G. Henschel
Weitere Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft
Abspaltungen
Bibel
Entstehung und Auslegung
Neue-Welt-Übersetzung
Gott
Der Name Jehova
Dreieinigkeit – ja oder nein?
Mensch
Engel und Dämonen
Der vollkommene Mensch
Seele und Ganztod
Die Hölle – ein Ort der Ruhe?
Heil
Überblick
„Sünde – eine Disharmonie“
„Christus –der Erzengel Michael“
„Das Loskaufopfer“ – Hilfe zur Selbsthilfe?
Kreuz oder Marterpfahl?
Auferstehung oder Neuerschaffung?
Gemeinde
„Jehovas Reich auf Erden“
„Wahre Religion“ contra „Babylon“
Das Zwei-Klassen-System
Leben und Dienst der Zeugen Jehovas
Taufe und Gedächtnismahl
Gemeinschaftsentzug
Blutgenuss und Bluttransfusion
Letzte Dinge
Chronologie und Endzeitdaten
Der Ablauf der Endzeit-Ereignisse
Mission
A. Mission von Seiten der Zeugen Jehovas
B. Mission an Zeugen Jehovas
C. »Austritt«
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
A. Wachtturm-Literatur
B. Weitere Literatur
Letzte Seite
Einleitung
Die Zeugen Jehovas erlebten in den letzten Jahrzehnten – trotz einiger Rückschläge – weltweit ein starkes Wachstum. Zählten sie 1945 141.606 aktive Verkündiger, so waren es 1975 ca. 2 Millionen, 1985 ca. 3 Millionen und 1995 bereits mehr als 4 Millionen. 2018 zählte man rund 8,5 Millionen aktive Zeugen Jehovas weltweit.
Ihre Zeitschrift „Wachtturm“ wurde 1995 in 120 Sprachen gedruckt und in ca. 16 Millionen Exemplaren in vielen Ländern der Erde verteilt. Anfang 1996 betrug die Auflage bereits 18,9 Millionen Exemplare. Im Jahr 2019 hat der „Wachtturm“ sage und schreibe eine weltweite Auflage von 83 Millionen Exemplaren erreicht und wird in 353 Sprachen verbreitet (laut Wikipedia). Der „Wachtturm“ ist damit die auflagenstärkste religiöse Zeitschrift der Welt.
In Deutschland gibt es zurzeit über 170.000 getaufte Zeugen Jehovas. Die Zahl der Sympathisanten und Interessenten liegt jedoch mindestens doppelt so hoch. Nach der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ betreiben die Zeugen Jehovas vor allem in den osteuropäischen und asiatischen Staaten eine rege „Mission“. Sie bemühten sich, von ihrem „Sektenimage“ wegzukommen und z. B. in Deutschland die Anerkennung als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ zu erlangen, was ihnen die Tür zu Funk und Fernsehen, Kirchensteuern und Religionsunterricht an staatlichen Schulen öffnet. Die Anerkennung als KdöR haben sie inzwischen in Deutschland erreicht.
In dieser Situation und angesichts dessen, dass fast jeder schon einmal mit Zeugen Jehovas zu tun gehabt hat, ist eine Darstellung und Beurteilung ihrer Geschichte und Lehre eine dringende Notwendigkeit. Wie ist die Wachtturm-Gesellschaft entstanden? Wie ist ihre Entwicklung verlaufen? Welche grundlegenden Lehren vertritt sie? Stehen diese in Einklang mit der Bibel? Wie missionieren die Zeugen Jehovas – und wie können überzeugte Christen ihnen missionarisch begegnen? Auf solche Fragen möchte dieses Buch antworten.
Das Thema „Zeugen Jehovas“ ist sehr umfassend – nicht nur wegen der fast uferlosen Literatur, welche die Wachtturm-Gesellschaft seit ihrer Gründung im Jahre 1881 herausgebracht hat, sondern auch wegen der Vielzahl der Themen, die in diesen Veröffentlichungen angesprochen werden. Ich musste mich auf die wichtigsten Schwerpunkte beschränken. Themen wie z. B. Festtage (Weihnachten, Ostern, Geburtstage etc.), Evolution, Wachtturm-Gesellschaft und Finanzen, Zeugen Jehovas unter totalitären Systemen, Zeugen Jehovas in psychologischer und soziologischer Sicht konnten aus Platzgründen leider keine oder nur geringe Berücksichtigung finden.
Angesichts der Vielfalt der dennoch verbleibenden Aspekte bin ich folgenden Persönlichkeiten zum Dank verpflichtet, die das Manuskript der 1. Auflage ganz oder teilweise gelesen und wertvolle Hinweise zu Einzelaspekten gegeben haben, wobei die Verantwortung für die Endfassung allein bei mir liegt: dem Wiener Kirchengeschichtler Dr. Franz Graf-Stuhlhofer; dem Vorsitzenden der „Christliche Dienste e. V.-Verein für Aufklärung und Information über Zeugen Jehovas“, Herrn Dipl.-Theol. Klaus-Dieter Pape; dem Leiter des „Bruderdienstes“, Pfarrer Hans-Jürgen Twisselmann; sowie meinen früheren Kollegen an der Freien Theologischen Akademie Gießen, vor allem dem Neutestamentler Dr. Armin Daniel Baum. Herr Thorsten Brenscheidt hat sich beim Korrekturlesen und der Erstellung des Registers verdient gemacht.
Die beiden ersten Auflagen dieses Buchs erschienen unter dem Titel „Zeugen Jehovas. Geschichte – Lehre – Beurteilung“ in den Jahren 1996 und 2000 im Hänssler-Verlag. 2006 veröffentlichte ich auch ein „Kleines Zeugen-Jehovas-Handbuch“ als Nachschlagewerk im Mabo-Verlag im Rahmen einer Lexikon-Reihe (darauf beziehen sich manche Verweise mit dem Zeichen > im Text). Ich bin dem GOTT dem HERRN dankbar, dass er mir im Jahr 2019 Zeit und Kraft für eine aktualisierte Neuauflage des ursprünglichen umfassenden Buchs im Selbstverlag geschenkt hat. Der Text wurde (außer in einzelnen Zitaten) behutsam an die neue Rechtschreibung angepasst.
Das vorliegende Buch möchte interessierte Leserinnen und Leser über Geschichte und Lehre der Zeugen Jehovas informieren. Es möchte aber auch Zeugen Jehovas selber zum Gespräch einladen. Gerne bin ich bereit, auf sachlich begründete Gegenargumente zu meiner Darstellung einzugehen und diese in etwaigen weiteren Auflagen zu berücksichtigen. Die Grundlage meiner Beurteilung ist die Heilige Schrift in ihrem unverfälschten Wortsinn und Gesamtzusammenhang – das einzigartige Wort Gottes.
Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen (Hebr 4,12 f.).
Dr. Lothar Gassmann, Pforzheim, im Juli 2019
Namen
„Zeugen Jehovas“ ist nicht der ursprüngliche Name der Gruppierung. Ursprünglich trug sie gar keine Bezeichnung. Die ersten Anhänger Charles Taze Russells (s.u.) nannten sich einfach „Christen“, „Urchristen“ und ähnliches. Bald schon kam die Selbsttitulierung Millennial Dawnists („Anhänger der Morgenröte des Tausendjährigen Reiches“) auf. Der Volksmund machte daraus „Millenniumtagesanbruchleute“. Seit 1913 gab sich die Gruppierung den Namen International Bible Students Association („Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher“). 1931 schließlich erfolgte die Umbenennung in Jehovah`s Witnesses („Zeugen Jehovas“). In späteren Jahren wurden Bezeichnungen wie New World Society („Neue-Welt-Gesellschaft“) oder Theokratische Gesellschaft immer mehr gebräuchlich. Namen wie „Russelliten“ oder „Rutherfordianer“ bezogen sich auf die ersten beiden Hauptrepräsentanten oder Präsidenten dieser Vereinigung und werden heute nicht mehr von deren Anhängern verwendet.
Geschichte
Quellen
Abgesehen von vielen Einzeldaten in verstreuten Quellen (z. B. in alten Ausgaben des „Wachtturms“) existieren nur wenige zusammenhängende Darstellungen einer Geschichte der Zeugen Jehovas und ihrer Vorgänger-Gruppierungen. Als Standardwerk von „Wachtturm“-Seite darf heute das 749 Seiten umfassende und reich illustrierte Buch Jehovas Zeugen – Verkündiger des Königreiches Gottes aus dem Jahre 1993 gelten (im Folgenden abgekürzt zitiert als „JZ“). Es erwähnt in erstaunlicher Offenheit auch dunkle Seiten der Wachtturm-Geschichte, z. B. das Nichteintreffen der Voraussagen Russells (S. 62 f.) und die harten Machtkämpfe zwischen Rutherford und seinen Gegnern (S. 66ff.), doch nur, um diese Geschehnisse dann herunterzuspielen. Frühere Darstellungen aus der Feder von Zeugen Jehovas (z. B. Qualified to Be Ministers, 1955, S. 297-360; Macmillan 1957; Jehovah`s Witnesses in the Divine Purpose, 1959) oder diesen nahestehenden Autoren (z. B. Cole 1956; White 1967) können dadurch weitgehend als überholt betrachtet werden.
Die meines Wissens ausführlichste deutsche, aber leider nur in wenigen maschinenschriftlich verfassten und kopierten Exemplaren über wissenschaftliche Bibliotheken erhältliche Arbeit aus kritisch-theologischer Sicht ist die Dissertation von Dietrich Hellmund mit dem Titel Geschichte der Zeugen Jehovas (in der Zeit von 1870 bis 1920) (abgekürzt: Hellmund 1971). Leider behandelt Hellmund nur die Frühzeit der Wachtturm-Gesellschaft ausführlicher und hat – welch großes formales Manko! – seine Dissertation ohne Seitenzahlen abgeliefert, die folglich auch in meinen Zitaten daraus leider fehlen müssen.
Viele neue Erkenntnisse über die Geschichte und Struktur der Wachtturm-Bewegung vermittelt das Buch Der Gewissenskonflikt (amerik. 1983, deutsch 1988) von Raymond Franz. Als ein Mann, der alle Ebenen der Wachtturm-Hierarchie durchlaufen hat und die letzten neun Jahre vor seinem Ausschluss Mitglied ihres Führungsgremiums, der „Leitenden Körperschaft“, war, hat er Zugang zu Insider-Informationen, die bisher nur wenigen bekannt gewesen sind.
In seiner 1994 veröffentlichten Biographie Charles T. Russell – der unbelehrbare Prophetbeschäftigt sich Franz Graf-Stuhlhofer ausführlich mit der Frühzeit der heutigen Zeugen Jehovas, nämlich mit der Person ihres Gründers. Als Historiker interessiert er sich darüber hinaus aber auch für die Voraussagen der Wachtturm-Gesellschaft über Russells Zeit hinaus – bis 1975 und danach – und unterzieht sie einer kritischen Prüfung.
1995 erschien das Werk Der Wachtturm-Konzern der Zeugen Jehovas – Anspruch und Wirklichkeit von Hans-Jürgen Twisselmann. Hier wird das Schwergewicht auf die Entstehung, die Entwicklung und das Geschäftsverhalten der Wachtturm-Gesellschaft gelegt. In diesem Rahmen findet sich eine Reihe aufschlussreicher Enthüllungen über die Wachtturm-Präsidenten C. T. Russell, J. F. Rutherford, N. H. Knorr, F. W. Franz und M. G. Henschel.
Kürzere geschichtliche Darstellungen enthalten zahlreiche Schriften von Wachtturm- und gegnerischer Seite. Als neuere kritische Darstellungen von Originalität und Gewicht seien noch erwähnt: Hutten 1982, S. 80-135; Martin 1985, S. 38-51; Obst o. J., S. 262-298; Stevenson 1968 u.a. (siehe das Literatur-Verzeichnis). – Viele der folgenden Daten sind – neben Originalquellen – den genannten Werken entnommen.
1870-1916: Die Ära von Charles Taze Russell
Die Anfänge
Am Anfang der Bewegung steht Charles Taze Russell. Er wurde am 16. Februar 1852 in Allegheny/Pennsylvanien geboren. Seine Eltern Joseph L. und Anna Eliza Russell, geb. Birney, gehörten der Presbyterianischen Kirche an. Als Charles neun Jahre alt war, starb seine Mutter. Er wurde zunächst von Privatlehrern unterrichtet, dann besuchte er eine öffentliche Schule am Ort.
Für die spätere Gründung der Wachtturm-Gesellschaft ist es von Bedeutung, dass Charles Taze Russell bereits als Elfjähriger Teilhaber der väterlichen Firma, eines immer mehr expandierenden Textilunternehmens, wurde (so die meisten Quellen; andere, z. B. Hoekema 1972, S. 9, sagen: als Fünfzehnjähriger). Große Kapitalmengen für die religiöse Wirksamkeit waren vorhanden.
Die Presbyterianische Kirche, der Charles zunächst angehörte, zeichnete sich durch ihre calvinistische Prägung, insbesondere im Blick auf die doppelte Vorherbestimmung (Prädestination) von erwählten und verworfenen Menschen sowie die Leitung durch Älteste aus. Dem jungen Charles gefiel beides nicht – und so trat er 1866 mit 14 Jahren der Kongregationalistischen Kirche bei. In dieser begegneten ihm ein demokratisches Gemeindeverständnis und das Kollegialitätsprinzip von der einzelnen Gemeinde bis hinauf zur Synode. Allerdings fand sich auch hier die Lehre von buchstäblich aufgefassten ewigen Höllenstrafen. Zugleich war damals die Bibelkritik in diese Kreise eingedrungen, was den jungen Charles in seinem Glaubensleben tief verunsicherte. So wandte er sich mit 17 Jahren auch von der Kongregationalistischen Kirche ab.
Seine Suche brachte ihn 1870 mit einer Splittergruppe aus der adventistischen Bewegung, den Second Adventists („Zweite Adventisten“), in Berührung, welche die ewigen Höllenstrafen nicht lehrte und sich der Bibelkritik gegenüber ablehnend verhielt. Durch diesen Kreis um den freien Prediger Jonas Wendell wurde Russells Denken in apokalyptische (endzeitliche) Bahnen gelenkt. Der Begründer der Adventisten, William Miller, hatte die Wiederkunft Jesu Christi auf das Jahr 1844 festgelegt. Als diese Erwartung sich nicht erfüllt hatte, gab es zahlreiche Abspaltungen im adventistischen Lager mit unterschiedlichen Deutungsversuchen. Eine dieser Gruppen war der Kreis um Jonas Wendell.
Eine weitere Etappe war die Bekanntschaft Russells mit dem Herausgeber der adventistischen Zeitschrift „The Herald of the Morning“, Nelson H. Barbour, im Jahre 1876. Barbour behauptete, dass Christus seit 1874 unsichtbar auf der Erde anwesend sei. Weiter meinte er, die wahren Adventgläubigen würden gesammelt und 1878 entrückt werden. Russell schloss sich Barbour an und nannte sich seit 1876 „Pastor“. Diesen Titel trug er ohne jegliche theologische Ausbildung und Ordination. Im Folgenden betrachten wir die drei maßgeblichen Gruppen der Anfangszeit etwas näher.
Die „Second Adventists“ hießen auch Age-to-Come-Adventists („Adventisten des kommenden Zeitalters“). Jonas Wendell, der Prediger dieser nur wenige Dutzend Leute umfassenden Gruppe, hatte die Jahreswende 1872/73 (später 1874) als den Zeitpunkt bezeichnet, an dem die Welt verbrennen sollte. Nach seiner Berechnung würden dann sechstausend Jahre seit Adam enden. Solche Berechnungen, die für Russell prägend werden sollten (siehe hierzu den Teil „Letzte Dinge“), gehen von den sieben Wochentagen aus, welche jeweils mit tausend Jahren gleichgesetzt werden. Nach sechs Tagen im Sinne von sechstausend Jahren tritt der siebte Tag, das siebte Jahrtausend (Millennium) ein, in welchem Christus regiert. Dieses Millennium oder Tausendjährige Reich sollte nach Wendells Berechnungen 1873 oder 1874 beginnen.
Die zweite zu betrachtende Gruppierung ist der Kreis um Charles Taze Russell selber. Dieser Kreis traf sich in Pittsburgh und Allegheny seit etwa 1870. Bis 1873 konnte dieser Kreis als ein Ableger der Wendellschen Gemeinde gelten. Später nahm Russell eine eigene Entwicklung.
Die dritte Gruppe war der Kreis um N. H. Barbour. Zwischen Barbour und den Second Adventists bestand ein wesentlicher Lehrunterschied. Dieser betraf nicht den Zeitpunkt der Wiederkunft Jesu Christi, sondern die Art seines Kommens. Im Unterschied zu Wendell erwartete Barbour die Wiederkunft Christi nicht sichtbar nach dem Weltenbrand 1873/74, sondern als eine unsichtbare Gegenwart. Hier berührte sich Barbour übrigens mit der Ansicht der „Prophetin“ der „Siebenten-Tags-Adventisten“, Ellen G. White. Auch diese behauptete (erstmals fast 30 Jahre vor Barbour und Russell!), Christus sei unsichtbar wiedergekommen – allerdings schon 1844, im von W. Miller berechneten Jahr – und habe mit der „Reinigung des Heiligtums im Himmel“ begonnen. White schreibt in ihrem Buch „Der große Konflikt“:
„Wie die Sünden des Volkes vor alters durch den Glauben auf das Sündopfer gelegt und bildlich durch dessen Blut auf das irdische Heiligtum übertragen wurden, so werden im neuen Bund die Sünden der Bußfertigen durch den Glauben auf Christum gelegt und tatsächlich auf das himmlische Heiligtum übertragen. Und wie die vorbildliche Reinigung des irdischen durch das Wegschaffen der Sünden, durch die es befleckt worden war, vollbracht wurde, so soll in der Tat die Reinigung des himmlischen durch das Wegschaffen oder Austilgen der daselbst aufgezeichneten Sünden bewerkstelligt werden … Auf diese Weise erkannten die, welche dem Licht des prophetischen Wortes folgten, dass Christus, anstatt am Ende der 2.300 Tage im Jahre 1844 auf die Erde zu kommen, damals in das Allerheiligste des himmlischen Heiligtums einging, um das Schlußwerk der Versöhnung, die Vorbereitung auf sein Kommen, zu vollziehen“ (White 1888, S. 395 f.).
Barbour und Russell vertraten die Lehre von der unsichtbaren Wiederkunft Christi (öffentlich) erst nach 1874. Im Jahre 1877 erschien ihr gemeinsames Werk Three Worlds, and the Harvest of This World (anderer Titel: Three Worlds or Plan of Redemption), in dem sie ihre Ansicht niederlegten. Sie schrieben, dass die Ankunft Christi 1874 angefangen habe und nun die Erntezeit, die Sammlung der Heilsgemeinde, eingeleitet sei, die 1914 zu ihrem Ende gelange. Die Erntezeit betrage also 40 Jahre. 1914 werde das Weltende erreicht sein. Außerdem fanden sich in diesem frühen Werk bereits die Lehren vom „Ganztod“ des Menschen, von Jesus als dem „Erzengel Michael“ und vom „Loskaufopfer“. Die Realität der Hölle als „Strafort der Verdammten“ wurde geleugnet.
Nach einiger Zeit kam es zu Streitigkeiten zwischen Russell und Barbour, und zwar vor allem in zwei Punkten. Zum ersten: Barbour erwartete, dass die lebenden Gläubigen oder Heiligen 1878 leiblich entrückt würden. Nachdem diese Erwartung nicht eingetroffen war und sich unter den Anhängern Russells Enttäuschung breitmachte, stellte dieser die Lehre auf, diejenigen, die nach 1878 noch lebten, würden in ihrer Todesstunde sofort verwandelt und müssten nicht bewusstlos im Grab liegen. Gegenüber späteren Lehren der Zeugen Jehovas finden sich in der Frühzeit Russells noch mancherlei Unterschiede, so auch in diesem Punkt.
Der zweite Unterschied und Grund für die Trennung war die Lehre vom Loskaufopfer. Damit war der Kreuzestod Jesu Christi gemeint. Barbour achtete diesen sehr gering. Russell hingegen sah in ihm ein zentrales Ereignis, obwohl er die Lehre von der Dreieinigkeit (Trinität) Gottes ablehnte. In der „Herald“-Ausgabe vom August 1878 hatte Barbour geschrieben, dass „unseres Herrn Tod nicht mehr nützen könnte zur Bezahlung der Strafe für die Sünden der Menschen als das Durchstechen einer Fliege mit einer Nadel“. Dies war eine bibelkritisch geprägte „Linksabweichung“ von Russell, der dem Kreuzesopfer Jesu immerhin eine Wirkung zugestand, nämlich den Ausgleich der von Adams Versagen her ausgehenden Sünden. Wegen dieser Lehrdifferenzen kam es schließlich zur Trennung zwischen Barbour und Russell.
Endzeit-Berechnungen
Nun werfen wir einen Blick auf die Berechnung von Jahreszahlen hinsichtlich der Wiederkunft Jesu Christi. Bereits jüdische Rabbiner im ersten Jahrhundert nach Christus wandten – etwa unter Hinweis auf Zahlen im biblischen Buch Daniel – die Regel an: ein Tag für ein Jahr. Sie versuchten, dadurch das Kommen des Messias zu berechnen. Auch Joachim von Fiore hat im Mittelalter Berechnungen angestellt. So zählte er zum Beispiel die 1260 Tage in Offenbarung 11, 3 und 12, 6 zum Geburtsjahr Jesu Christi hinzu und gelangte dadurch zum Jahr 1260, in welchem das Zeitalter des Geistes beginnen sollte. Manches weitere Beispiel aus der (Kirchen-)Geschichte für Termin-Berechnungen könnte genannt werden (etwa der württembergische Prälat Johann Albrecht Bengel, der die Wiederkunft Christi auf das Jahr 1836 datierte).
Von welchem Grunddatum gehen solche Berechnungen aus? Mindestens drei Möglichkeiten sollen Erwähnung finden. Das erste Ausgangsdatum ist die Erschaffung der Welt oder auch des ersten Menschenpaares. Die Datierung dieser Ereignisse ist natürlich sehr ungewiss. Ein zweites wesentliches Datum ist das Geburtsjahr Jesu Christi, das sich allerdings infolge der Veränderung des Kalenders und aus anderen Gründen auch nicht genau bestimmen lässt. Ein dritter häufig verwendeter Termin ist die Zerstörung Jerusalems durch den babylonischen Herrscher Nebukadnezar, welche nach Aussage der archäologischen und theologischen Forschung auf das Jahr 587 v. Chr. fällt. Neben diesen Datierungen finden sich zahlreiche weitere, die unterschiedliche Berechnungen bedingen. Im Kapitel über die „Letzten Dinge“ (Eschatologie) werde ich ausführlicher auf solche Fragen eingehen.
Wie schon erwähnt, erregte im 19. Jahrhundert vor allem die Voraussage der Wiederkunft Jesu Christi für das Jahr 1844 durch William Miller großes Aufsehen. Vor Miller, der diese „Entdeckung“ lange Zeit für sich behielt und erst 1831 damit an die Öffentlichkeit ging, hatte allerdings der Engländer John Aquila Brown diese Jahreszahl öffentlich vertreten, und zwar in einer bereits 1823 publizierten Schrift (vgl. Franz 1991, S. 140 f.). Brown (und nicht Miller, auch nicht Russell) dürfte nach den Forschungen von Franz (ebd.) als der wahre Urheber der Deutung der sieben Zeiten in Daniel 4 auf 2520 Jahre gelten. Die 2300 Tage aus Daniel 12 sollten laut Brown 1844 enden, die 2520 Jahre oder sieben Zeiten aus Daniel 4 im Jahre 1917 (ausgehend von der fälschlich auf das Jahr 604 v. Chr. datierten Zerstörung Jerusalems). Barbour verschob diesen Termin (ebenso unzutreffend) auf 606 v. Chr. und gelangte dadurch auf (ungefähr) 1914. Diese Berechnung hat schließlich Russell übernommen. Heute geht die Wachtturm-Gesellschaft vom Jahr 607 v. Chr. aus, weil Russell fälschlich ein Jahr 0 gezählt hatte.
Wegen des großen Einflusses von Barbour auf Russell sei nachfolgend die Version Russells von deren Begegnung wiedergegeben. Dabei liegt Russell viel daran, seine Eigenständigkeit zu betonen. Ich zitiere ausführlich aus dem „Wachtturm“ vom April 1907:
„Im Januar 1876 wurde meine Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf den Gegenstand der prophetischen Zeit gelenkt, und wie sehr sie mit diesen Lehren und Hoffnungen verknüpft ist. Es kam dies so: Ich erhielt ein Blatt genannt ´Der Herold des Morgens`, von seinem Verfasser, Mr. N. H. Barbour, zugesandt. Sofort beim Öffnen sah ich am Titelbilde, dass es von adventistischer Seite kam, und ich prüfte den Inhalt mit etwas Neugierde, um zu sehen, was nun die von ihnen für das Verbrennen der Welt bestimmte Zeit sein würde. Aber welch eine Überraschung und Befriedigung für mich, aus dem Inhalte zu sehen, dass des Verfassers Augen anfingen aufgetan zu werden hinsichtlich derselben Gegenstände, die unsre Herzen in Allegheny seit einigen Jahren so hoch erfreut hatten – dass der Zweck der Wiederkunft des Herrn nicht Zerstörung ist, sondern die Segnung aller Geschlechter auf Erden, und dass Sein Kommen gleich dem Diebe sein würde, nicht im Fleische, sondern als ein Geistwesen, den Menschen unsichtbar: und dass das Versammeltwerden Seiner Kirche und die Trennung des ´Weizens` von der ´Spreu` am Ende dieses Zeitalters stattfinden würde, ohne dass die Welt es gewahr werden würde. Ich war erfreut, zu sehen, dass andere gleich uns, Fortschritte gemacht hatten, staunte aber, die in sehr vorsichtiger Form gehaltene Behauptung zu finden, dass der Verfasser annahm, der Herr sei den Prophezeiungen nach schon in der Welt gegenwärtig (ungesehen und unsichtbar), und dass das Erntewerk des Einsammelns des Weizens schon an der Zeit sei, – und dass diese Ansicht durch die Zeit-Prophezeiungen bestätigt werde, die er erst vor wenigen Monaten als nicht zugetroffen angesehen hatte.
Hier war ein neuer Gedanke: Konnte es sein, dass die Zeit-Prophezeiungen, die ich wegen ihres Missbrauchs durch die Adventisten so lange verachtet hatte, wirklich gegeben waren, um anzuzeigen, wann der Herr unsichtbar gegenwärtig sein würde um sein Reich aufzurichten…?“
Und Russell fährt fort:
„Ich erinnerte mich gewisser Beweisführungen, deren sich mein Freund Jonas Wendell und andere Adventisten bedient hatten, um darzutun, dass das Jahr 1873 der Zeitpunkt des Verbrennens der Welt usw. sein würde – indem die Chronologie der Welt zeigte, dass die sechstausend Jahre seit Adam mit Anfang des Jahres 1873 endeten – sowie anderer Beweisführungen, die der Schrift entnommen waren und das Gleiche bestätigen sollten. Konnte es sein, dass diese Beweisführungen in Bezug auf die Zeit, die ich als der Beachtung nicht wert übergangen hatte, wirklich eine wichtige Wahrheit enthielten, die sie falsch angewendet hatten?
Begierig zu lernen, von woher es auch sei, was irgend Gott zu lehren haben würde, schrieb ich sofort an Mr. Barbour, teilte ihm meine Harmonie über andere Punkte mit und wünschte besonders zu wissen, warum, und auf Grund welcher Schriftbeweise er glaubte, dass Christi Gegenwart und die Erntezeit des Evangeliumszeitalters im Herbst 1874 seinen Anfang genommen habe. Die Antwort zeigte, dass meine Vermutung richtig gewesen war, dass nämlich die Beweisgründe für die Zeit, die Chronologie usw. die gleichen waren, die die Adventisten im Jahre 1873 gebraucht hatten, und dass Mr. Barbour und Mr. J. H. Paton zu Michigan, sein Mitarbeiter, bis dahin voll und ganz Adventisten gewesen waren; als jedoch das Jahr 1874 vorüberging, ohne dass die Welt im Brande vernichtet wurde, und ohne dass sie Christum im Fleische sahen, waren sie für eine Zeitlang wie verstummt.“
Russell berichtet dann, wie das Verstummtsein endete und er selber den entscheidenden Impuls für das Jahr 1874 empfing:
„Es scheint, dass nicht lange nach ihrer Enttäuschung im Jahre 1874 ein Leser des ´Herold des Morgens`, der die Diaglott-Übersetzung besaß, darin etwas bemerkte, das ihm merkwürdig vorkam -, dass in Matthäus 24, 27. 37 und 39 das in der gewöhnlichen Übersetzung mit ´Kommen` wiedergegebene Wort mit ´Gegenwart` übersetzt worden war. Das war der Leitfaden; und indem sie ihm gefolgt waren, wurden sie durch die prophetische Zeit zu richtigen Ansichten hinsichtlich des Zweckes und der Art und Weise der Wiederkunft des Herrn geleitet. Ich, im Gegenteil, wurde zuerst zu richtigen Ansichten über den Zweck und die Art und Weise der Wiederkunft des Herrn geleitet, und danach zu der Prüfung der Zeit für diese Dinge, nach den Anhaltspunkten, die Gottes Wort dafür bot. So führt Gott seine Kinder oft von verschiedenen Ausgangspunkten zur Wahrheit.“
Ob diese Prophezeiungen wirklich der Wahrheit entsprechen sollten – mit dieser Frage werden wir uns später (im Teil „Letzte Dinge“) beschäftigen. Aber schon an dieser Stelle soll gesagt werden, dass man gegen eine unsichtbare Gegenwart schwer argumentieren, geschweige denn sie widerlegen kann. Freilich lässt sie sich auch nicht schlüssig beweisen.
Aufgrund der ihm bei Barbour und anderen begegnenden Berechnungen entwickelte Russell seine Ansicht von den Jahren 1874 und 1914. 1874 sei Christus unsichtbar wiedergekommen, um die Erntezeit einzuleiten und seine Gemeinde zu sammeln – und 1914 gehe diese Erntezeit zuende. Diese frühe Sicht bei dem Gründer der sich später „Zeugen Jehovas“ nennenden Gruppierung unterscheidet sich wesentlich von den späteren Berechnungen nach Russells Tod. Doch betrachten wir zunächst, welche Ereignisse Russell für das Jahr 1914 voraussagte. Ich zitiere aus seinem erstmals 1889 veröffentlichten Buch The Time Is At Hand (Die Zeit ist herbeigekommen), deutsche Ausgabe von 1913, S. 73 f.:
„In diesem Kapitel liefern wir den biblischen Nachweis, dass das völlige Ende der Zeiten der Heiden (Nationen), d.i. das volle Ende ihrer Herrschaft, mit dem Jahre 1914 erreicht sein wird; und dass dieses Datum die äußerste Grenze der Herrschaft unvollkommener Menschen sein wird…
Erstens, dass dann das Königreich Gottes, für welches unser Herr uns beten lehrte: ´Dein Reich komme`, volle und universelle, weltenweite, Herrschaft erreicht haben und ´aufgerichtet`, oder auf Erden festgegründet, sein wird.
Zweitens beweist es, dass er, dem das Recht, diese Herrschaft an sich zu nehmen, gebührt, dann als der neue Herrscher der Erde gegenwärtig sein wird; und nicht nur dies, sondern auch, dass er einen beträchtlichen Zeitraum vor jenem Datum gegenwärtig sein wird, weil der Umsturz dieser nationalen Obrigkeiten direkt darauf zurückzuführen ist, dass er ´wie Töpfergeschirr sie zerschmettern` (Psa. 2:9; Offb. 2:27), und an ihrer Statt sein eigenes, gerechtes Regiment aufrichten wird.