Loe raamatut: «Läufers Fall»
Lothar Koopmann
Läufers Fall
Für Christa, Katrin und Anna
Lothar Koopmann
LÄUFERS FALL
Ich empfand plötzlich das Bedürfnis,
ein neues Buch von mir zu lesen.
Also habe ich eines geschrieben.
Marguerite Duras
Redaktion: Brigitte Caspary
Covergestaltung und Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG
1. Auflage November 2013
© Sportwelt Verlag®
Inh. Nicole Luzar
Am Wasserstein 3
D-91282 Betzenstein
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ISBN 978-3-941297-29-6
Weitere Titel im Internet unter www.sportweltverlag.de
Sachdienlicher Hinweis
Die folgende Geschichte ist nicht wahr. Das heißt nicht, dass sie nicht wahr sein könnte. Im Gegenteil, sie könnte sehr wohl wahr sein.
Mit allen Beteiligten, den Läufern und Detektiven, den Walkern und den anderen Menschen, die als Hauptpersonen agieren oder nur verschämt und kurz am Rande vorkommen, könnte sie wahr sein. Und dann in Duisburg spielen. Oder vielleicht anderswo.
Obwohl sie wahr sein könnte, ist sie erfunden. Von vorne bis hinten. Und außergewöhnlich. Zumindest für die Region, in der sie spielt. Sie enthält groteske Szenen und Hassattacken, springt vor und zurück und fließt dennoch ruhig wie die Ruhr, die der Geschichte ihre Heimat gibt.
Sie soll bezaubern und belustigen und an schöne Erlebnisse erinnern, sie schildert unangenehme Dinge, die besser immer nur anderen widerfahren sollten, und ist für Kinder fast ungeeignet, obwohl sie Horror und Grauen meidet und an mancher Stelle fast märchenhafte Züge aufweist.
Und eventuell beobachtete oder vermutete Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und deren Angehörigen, ihren Vorlieben, Stärken und Schwächen, Träumen und Wünschen wären reiner Zufall und sind nicht gewollt.
Prolog I
Er hatte es sich leichter vorgestellt. Okay, dass es nicht einfach werden würde, war ihm klar gewesen, aber schwer? Den linken Arm konnte er kaum noch ausstrecken, die Muskulatur rund um die Schultern und sein linker Ellenbogen verweigerten die Mitarbeit. Der rechte Zeigefinger zeigte deutliche Ermüdungserscheinungen, überhaupt war die rechte Hand fast steif, das Handgelenk ließ sich nur unter Schmerzen bewegen.
War es eine gute Idee gewesen? Wer hatte überhaupt den perversen Vorschlag gemacht? Gab es jüngere Menschen als ihn, die das Ganze ohne Schwierigkeiten aushalten konnten? Er wusste es nicht.
Ein letztes Mal für diesen Tag baute er Spannung auf und sah sich um. Wohin damit? Er hatte alle benutzt. Mit wechselndem Erfolg. Meistens mit wenig. Vor seinen Augen schwankte das Grün, wechselte zu Braun und gelblich Weiß. Wann sollte er loslassen? Sollte er überhaupt? Die Müdigkeit des Oberkörpers war erschreckend, da half es auch nicht, die Füße fester in den Boden zu rammen, um Halt zu finden. Er suchte trotzdem einen sichereren Stand, indem er seine Beine weiter auseinander schob, die Schuhe in den feuchten Boden grub.
Ein letztes Mal für heute. Dann war Schluss.
Prolog II
Er hatte es sich leichter vorgestellt. Okay, dass es nicht einfach werden würde, war ihm klar gewesen, aber schwer? Ein Anruf, ein Treffen und alles wäre erledigt gewesen. Eine lange Reise, ein Gespräch, eine zweite Verabredung hätten reichen sollen. Da war er sich sicher gewesen. Zu sicher, wie er nun wusste.
Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern, er fühlte kein Bedauern und keine Schuld. Was getan werden musste, musste getan werden, das hatte er gelernt. Aber nun schien es, als würde die Vergangenheit Einfluss auf die Zukunft nehmen, als rächten sich seine Taten in den alten Tagen, als hingen sie wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf und drohten, ihn zu töten.
Aber das würde er zu verhindern wissen. Der letzte Abend war ein erster Schritt in die richtige Richtung gewesen. Er sah die Wirkung deutlich vor sich und war sicher, dass sein neuer Plan gelingen würde.
Er hatte die Risiken damals nicht auf sich genommen, um Jahre später kläglich zu scheitern – nein, das konnte und durfte nicht sein. Er würde bedingungslos kämpfen und bekommen, was er wollte. Das konnte keiner verhindern, schon gar nicht ein bedeutungsloser Angestellter in diesem verdammten Kaff.
Er startete den Motor.
Prolog III
Das Telefon klingelt. Ich nehme ab und melde mich: „Lothar Koopmann, ja bitte?“ Unter Krächzen höre ich eine männliche Stimme: „Hallo, hier ist Kai-Uwe Gaukel – nun sei doch mal still, ich mach’ das schon – kann ich Sie kurz stören?“
„Tun Sie ja schon“, antworte ich unwirsch. „Aber warum soll ich ruhig sein, und seit wann duzen wir uns?“ Ich höre ein Zögern. „Nein, ich habe ja nicht Sie gemeint, meine Frau Edeltraud quatscht mir immer dazwischen.“ „Um was geht es, ich kaufe nichts am Telefon!“ „Ja, hören Sie, wir beide sind Fans Ihres Buches ,Mission Marathon’. Was haben wir da gelacht! Wir sind schließlich auch Läufer, und Ihre Erlebnisse kamen uns so verdammt bekannt vor. Wir haben uns vor Lachen fast in die Hose gemacht. Und darum wollen wir, dass Ihr nächstes Buch wieder von einem Lauftreff handelt.“ „Von welchem Lauftreff bitte?“ „Na, unserem in Meiderich, mit mir und Edeltraud und unserem Trainer Günni und den anderen. Dass Sie aufschreiben, was uns so Lustiges passiert beim Laufen und so.“ „Und wozu soll das gut sein?“ „Mann, das wird ein Bestseller, wo es doch so viele Läufer im Land gibt. Und dann handelt das Buch ja von uns und nicht nur von Ihnen. Top-Thema, glauben wir.“ „Ich kann es mir ja mal überlegen, mein neues Buch fange ich nächste Woche an, am Montag um acht.“ „Schön, dann überlegen Sie mal. Würde uns freuen. Und halten Sie uns auf dem Laufenden, hahaha.“ Aufgelegt.
1
Ambrosius Läufer seufzt. Und holt tief Luft. Schon wieder kein Fall. Seit über einer Woche kein neuer Fall. Es ist zum Mäusemelken, denkt er resigniert. Da sitzt er nun am Schreibtisch eines vollkommen frisch renovierten Büros, stapelt Aktenberge und Schnellhefter von rechts nach links und kommt nicht weiter: kein neuer Kunde in Sicht, noch nicht einmal ein klitzekleiner Auftrag zeichnet sich am Horizont ab.
Plötzlich muss er grinsen. Wo kam bloß dieser Ausdruck mit dem Mäusemelken her? Abgesehen davon, dass er in seinem Leben bisher wenig bis gar keine Mäuse zu Gesicht bekommen hat, warum zum Teufel soll man diese kleinen süßen Tierchen melken wollen? Und wie können?
Er reckt sich ausgiebig und steht auf. Kaffee wäre jetzt gut, Espresso noch besser, ein nachtschwarzer Espresso mit zwei Teelöffeln Zucker. Wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Besser wäre es, als Maßeinheit für den Zucker einen Espresso-Löffel zu nehmen oder zumindest einen Kaffeelöffel. Er öffnet eine Schublade in der kleinen Küche, die das Büro im rechten Winkel um einige Quadratmeter verlängert. Auch wieder so ein Mysterium: Sein Chef hatte den Raum ausdrücklich als Teeküche renovieren lassen. Wie soll er hier Espresso zubereiten? Trotz vorhandener Maschine. Ein Blick in die offene Schublade unter der Arbeitsplatte bestätigt, was er vermutet hat: Neben Messern, Gabeln und Esslöffeln liegen in den schmalen Fächern außer einigen kleinen Kuchengabeln nur Teelöffel. Es ist zum Mäusemelken …
Vielleicht funktioniert die neue Türklingel nicht mehr, und die Kunden verlassen das Treppenhaus scharenweise unverrichteter Dinge, je nach Temperament enttäuscht oder wütend, weil angeblich geschlossen ist. So würde sich ja nie ein neuer Fall ergeben, da könnte er lange warten.
Er schlurft zur Eingangstür, öffnet sie (nicht, ohne den Türriegel von innen nach außen zu drehen, um ein Zuschnappen zu verhindern) und drückt energisch auf die Klingel neben dem Lichtschalter für die Treppenhausbeleuchtung. Ein gepflegtes „Dingdong, dingdong, dingdong“ zeigt ihm an, dass alles in Ordnung ist; und dann wird ja wohl auch die Klingel im Erdgeschoss funktionieren.
Im Umdrehen fällt sein Blick auf das neue Werbeschild, das sein Chef im Zuge der Bürorenovierung neben der Tür hatte anbringen lassen und das gleichlautend jetzt auch draußen die Eingangstür im Erdgeschoss ziert:
ALTER-NATE
Detektei
Nachforschungen aller Art
Bürozeiten
Mo. – Fr. 10.14 – 18 Uhr
Di., Do., Fr. nur 14.14 – 17.35 Uhr
und nach Vereinbarung
Sa., So. geschlossen
Er war nicht besonders glücklich mit der Beschreibung der Öffnungszeiten gewesen, aber sein Chef Achim Alter meinte bei der Planung, es wäre doch für den Kunden schön und hilfreich, wenn er selbst auch etwas nachzuforschen hätte und auf diese Weise am eigenen Leib erführe, dass der Beruf des Detektivs ein schwerer sei, wenn schon die Ermittlung von Öffnungszeiten so kompliziert sein könnte. Wie schwierig müsse es dann erst sein, komplexe Fälle zu lösen …
Auf dem Weg zurück zur Teeküche blickt er in den mannshohen Spiegel neben den Garderobenhaken. Ihm gefällt, was er sieht: einen dunkelhaarigen Mann Mitte vierzig (na ja, genaugenommen wird er im nächsten Monat 47, aber es kommt schließlich auf die Wirkung an, und er findet, er könnte gut und gerne für 43 oder 43,7 durchgehen), mit 85 Kilogramm bei 1,88 Meter Körpergröße nicht unbedingt schlank, aber auch nicht schwammig, sondern eher angenehm wohlgenährt; das längere Haar der letzten Wochen steht ihm gut. Die wenigen grauen Strähnchen stören nicht, sie geben dem Gesamteindruck vielmehr etwas Seriöses, Glaubwürdiges – ganz wichtig für seinen Beruf –, über den munteren Dreitagebart wollte er demnächst noch einmal nachdenken, ihn aber bis dahin behalten.
Er zieht den Bauch in der Jeans etwas ein, der Gürtel entspannt sich kurzzeitig, und er denkt: Das Laufen hat mir gut getan. Mit über 100 Kilogramm kurz nach Weihnachten fühlte er sich doch etwas pummelig, nun sitzen alle Hosen wieder fast wie angegossen oder sind sogar zu weit. Und auch die Damenwelt schien seiner Erschlankung wohlwollend gegenüber zu stehen, wie er beim Flanieren über die Königstraße einigen bewundernden Blicken entgegenkommender Frauen entnehmen zu können gemeint hatte.
Ambrosius ist froh, nach Jahren der sportlichen Enthaltsamkeit und einigen Versuchen, seine Körpergröße als Zuspieler beim Basketball einzusetzen, über eine Rückbesinnung auf den Nachnamen seiner Vorfahren unter die Jogger gegangen zu sein, was seit zehn Monaten nicht nur eine schöne Verringerung des Körpergewichts mit sich gebracht hatte, sondern auch von dem schrecklichen Unfall ablenkte.
Während er den Kaffeebehälter der Espressomaschine auf Leerstand überprüft und neues Wasser nachfüllt, denkt er kurz an seinen Chef. Achim Alter war am Freitag für eine Woche mit seiner Frau Heidelinde nach Sylt gefahren („Auch die Oktobertage können am Meer ganz würzig sein, und man gönnt sich ja sonst nichts ...“), so dass er nun ganz allein die Stellung hält. Eine Sekretärin wollte Achim Alter sich nicht leisten („Das bisschen Schreibkram schaffen wir beide auch noch selbst.“). Agentur-Mitbegründer Norbert Nate war vor 15 Jahren plötzlich gestorben („Das Herz, lieber Ambrosius, das Herz hat nicht mehr mitgemacht, mitten im Urlaub“, mehr Erklärung hatte Achim Alter für ihn nicht parat), und so saßen sie meist nur zu zweit im Büro, Chef Alter und er.
Alter und Nate hatten als junge Männer die Detektei mitten in den späten achtziger Jahren gegründet; in den Zeiten vor PC, Internet und Smartphone war es ihnen überhaupt nicht in den Sinn gekommen, der Agentur einen anderen Namen als ihre eigenen zu geben – in alphabetischer Reihenfolge. Erst viel später, bei immer mehr Anglizismen in der deutschen Sprache, stellte sich der Doppelname als Problem heraus: „Alternate“, also wechselnd, vertauscht oder ein Ersatzmann und Stellvertreter wollten die beiden gar nicht sein – aber da war es für eine Umbenennung schon zu spät und diese auch zu teuer („Mein Gott, Ambrosius, was hätten wir alles ändern müssen, um ,Alter-Nate’ zu entfernen. Das wäre unser Ruin gewesen. Außerdem ist uns keine Alternative eingefallen, hahaha.“).
Die Missverständnisse hatten sich in den neunziger Jahren und vor allem im 21. Jahrhundert gehäuft („Wie, Sie arbeiten gar nicht für die Grünen oder Greenpeace, warum geben Sie sich dann einen solchen Namen, absolut verwirrend. Alternate ist schließlich alternate, da sollte man schon zu stehen, Sie Betrüger, Sie.“).
Er war seit 14 Jahren dabei, nach 24 Semestern Jurastudium ohne Abschluss, aber mit Abbruch, und dem Bummeln in einigen Sackgassen zunächst für sechs Monate als kostenloser Praktikant in der Firma, dann nach einer speziellen Eignungsprüfung als fest angestellter Junior-Assistent, wegen des Todes von Norbert Nate als wichtigster (weil einziger) Mitarbeiter der kleinen Detektei, in der zuletzt doch Heidelinde Alter als gelegentliche Hilfskraft aushalf („Ambrosius, sie muss uns helfen, wir kommen mit dem ganzen Schreibkram nicht mehr nach.“).
Ambrosius Läufer mag Heidelinde. Sie ist zwar ein wenig älter, als er aussieht, aber für ihre 44 Jahre hat sie sich prima gehalten und kann gut und gerne für Ende 30 durchgehen: schlank und drahtig die Figur, dabei sehr weiblich, das lange blonde Haar meist zu einem witzigen Pferdeschwanz zusammengebunden, auch die Kleidung stets apart und chic. Sie erinnert mich immer an Eva, denkt er, und fühlt langsam Tränen aufsteigen („Verdammte Hacke, als dein Chef sage ich dir: Tu was gegen diese verdammte Weinerlichkeit, wenn jemand den Namen Eva erwähnt, das ist ja nicht zum Aushalten.“).
Mehrfach in der Woche treibt Heidelinde Alter Sport, geht oft zur Gymnastik und ist begeisterte Nordic-Walkerin in einem Mülheimer Klub. Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann: Achim Alter, 55, klein, stiernackig und kompakt, hält es mehr mit Winston Churchill und genehmigt sich abends gerne einmal ein Zigärrchen nach dem zweiten Verdauungsschnaps („Das muss sein, lieber Ambrosius, man gönnt sich ja sonst nichts ...“).
Er schmunzelt, als er die Espressomaschine einschaltet und an die spezielle Eignungsprüfung vor über 13 Jahren denkt. „ALTER-NATE“ erhielt einen Auftrag von einer aufgebrachten Ehefrau aus Mülheim: Ihr Mann würde sie ständig betrügen und sie sollten entweder dauerhaft entkräften, dass da etwas dran sei, oder eben beweisen, dass ihre Vermutung stimmte.
Jeden Freitagnachmittag habe er ihr etwas von langwierigen Teamsitzungen seiner Abteilung zur Vorbereitung eines Börsengangs erzählt und sei nie vor 22 Uhr nach Hause gekommen. Mehrfach habe sie ihn im Büro telefonisch nicht erreichen können, weil keiner abgenommen habe, und sie habe außerdem den Verdacht, verschiedene Male einen leichten fremden Parfümduft an seinem Hals gespürt zu haben, wenn er sie beim späten Willkommen umarmt habe („Und das war gar nicht mehr so zärtlich wie früher. Wissen Sie, als wir vor 25 Jahren geheiratet haben, da war das ganz anders. Jeden Abend hat er mir einen Strauß rote Rosen mitgebracht, und anschließend sind wir immer ...“). Hier stockte sie, errötete und murmelte etwas wie „Sie wissen schon, was ich meine, so jung verheiratet wie wir waren, da ist man noch ganz wild aufeinander.“ Ambrosius war bei dem Gespräch mit Achim Alter anwesend und hatte spontan gedacht: „Aufeinander ist gut, das würde heute wohl Schwierigkeiten mit sich bringen, je nachdem, wer oben liegt.“
Da er als spezielle Eignungsprüfung den Auftrag erhielt, den Ehemann zu überwachen, verzieh er der Mandantin ihre ausufernde Körperfülle und machte sich an die Arbeit. Es stellte sich schnell heraus, dass der ebenfalls sehr dicke Ehemann vollständig treu war: Er liebte sein Schnuckelchen, wie er sie nannte, immer noch sehr („Ich hänge an jedem Kilo von ihr, wir sind zusammen groß geworden, und dabei haben wir beide eben ein wenig zugelegt“, sagte er Ambrosius im Vertrauen.).
Tatsächlich ging er seit zehn Wochen jeden Freitagabend zu einer professionellen Tanzlehrerin, um endlich auf der Feier zur Silberhochzeit einen flotten Walzer mit seiner Liebsten aufs Parkett werfen zu können („Wissen Sie, ich konnte noch nie richtig tanzen, und meine Frau ist eine richtige Tanzbärin, da war ich ihr das Üben einfach schuldig.“).
Als klar war, dass der Ehemann jungfräulich unschuldig war, passte Ambrosius ihn vor dem Tanzstudio ab, lud den Überraschten zu einem Drink im benachbarten Pub ein und schilderte die Auftragssituation. Ein ungewöhnliches Vorgehen für einen Detektiv, der vor allem und überhaupt seinem Auftraggeber verpflichtet zu sein hat, aber Ambrosius’ spontane Aktion erwies sich als vollkommen richtig und zielführend: Der Gattin konnte mitgeteilt werden, dass ihr Mann aus den verschiedensten Gründen außerhalb der Ehe keusch gelebt hatte, und der Gatte war in der Lage, vorsichtiger vorzugehen, um zwei Wochen später bei der Silberhochzeit einen triumphalen Auftritt als Walzerkönig hinzulegen.
Der ihm allerdings wegen einer plötzlichen ungeschickten Drehung im Rausch der Musik einen doppelten Bänderriss im Knie einbrachte, worauf die Ehefrau „ALTER-NATE“ beauftragte herauszufinden, ob der Wirt der gebuchten Kneipe das Parkett vielleicht zu stark gewachst hatte, so dass sie ihn anzeigen konnte („Wissen Sie, mein Mann ist so ein begnadeter Tänzer, auf einem normalen Parkett wäre ihm das mit dem Bänderriss nie passiert. Den Wirt werden wir verklagen. Auf Schadensersatz. Für die Verletzung. Und das Kleid und die Schande – mein lieber Mann hat doch im Fallen den kompletten Rücken meines Chiffon-Kleides weggerissen, so dass ich im schwarzen Korsett dastand – wie peinlich! Ich hätte in den Boden versinken können, wenn da ein Loch gewesen wäre.“).
Ambrosius dachte damals, bei der Größe des benötigten Loches hätte kein Boden der Welt statisch länger als eine Minute überlebt, behielt sein Wissen aber für sich. Die Sache verlief dann im Sande, da dem Wirt nichts nachzuweisen war. Der Praktikant aber hatte seine Prüfung bestanden, erhielt am nächsten Tag seine Ernennungsurkunde zum „Junior Assistant“ und war fest angestellt. Mit Gehalt und Provision.
Er betrachtet den großen blauen Bilderrahmen an der gegenüberliegenden Wand. Ein Farbfoto zeigt Achim Alter und Norbert Nate lachend vor einem Brunnen (in London?) kurz vor der Firmengründung: links schlank und blond in Jeans und einem bunten Shirt Norbert Nate („Mein Freund Norbert war begeisterter Läufer mit einer Bestzeit von 35 Minuten über 10 Kilometer und beinahe westdeutscher Meister im Bogenschießen, eine echte Sportskanone. Aber wenn das Herz nicht mitmacht …“), daneben Achim Alter mit seinem Stiernacken einen guten Kopf kleiner, schon damals eingezwängt in eines seiner großzügig karierten Sakkos, die später sein Markenzeichen werden sollten.
Ambrosius weiß nicht, warum er immer wieder montags so früh ins Büro kommt; die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Auftraggeber direkt nach dem Wochenende und dann schon früh am Morgen meldet, geht gegen Null. Aber seit dem schrecklichen Unfall schien ihm bei schlechtem Wetter der Schreibtisch verlockender zu sein als das kleine Appartement, das er hoch oben in Buchholz gemietet hat.
Das Telefon summt. Summt und summt und wird lauter. Er erschreckt fast und zögert. Ein Anruf? Ein Kunde? Ein Auftrag? Dann streckt er doch dem Arm aus und meldet sich wie gewohnt: „Detektei Alter-Nate, Überwachungen, Ermittlungen, Nachforschungen, Verifizierungen, Security, Sicherheitsdienst und Auskünfte aller Art, guten Tag, mein Name ist Ambrosius Läufer, ich stehe ganz zur Verfügung, was darf ich für Sie tun?“ Er hasst diese Begrüßungsfloskel, aber Achim Alter bestand auf genau dieser Formulierung („Der Kunde will heute von Anfang an ein Wohlfühlpaket angeboten bekommen, das erhöht die Auftragschancen und die langfristige Bindung.“).
„Kann ich Herrn Alter sprechen?“
„Wer ist da bitte?“, fragt Ambrosius ebenso unfreundlich.
„Das tut nichts zur Sache, ich muss Herrn Alter sprechen, dringend.“ Die Stimme wirkt mittelalt und kalt.
„Herr Alter ist für einige Tage im Urlaub, darf ich Ihnen helfen?“
„Nein, dürfen Sie nicht. Wie kann ich ihn erreichen? Es ist, wie gesagt, sehr dringend.“ Die Stimme bleibt kalt und fordernd.
„Ich könnte Ihnen seine Handynummer geben, dann wird er selbst entscheiden, ob Ihr Anruf wichtig ist.“
„Sehr gut, dann mal schnell her damit … “
Kaum hat Ambrosius Läufer aufgelegt, summt das Telefon wieder. Nach seiner Begrüßungsformel hört er: „Hallo Herr Läufer, hier ist Andreas Schirm, Mülheim, ich vermisse meine Frau.“ Die Stimme klingt jung und sympathisch, aber hörbar nervös.
Plötzlich reitet Ambrosius der Teufel. Er hüstelt: „Ich auch.“
„Wie, Sie vermissen meine Frau auch?“
„Nein, meine.“
„Wie, Ihre Frau ist auch verschwunden?“
„Nein, seit einem Jahr tot.“
„Mein Gott, wie ist das denn passiert – sie war doch sicherlich noch nicht alt – oder?“
„Wenn es Sie interessiert: Sie war 44 und hat mit vier Freundinnen zum 25-jährigen Abitur eine lange Südtirol-Reise gemacht. Und dann ist ihnen auf der Passstraße zum Stilfser Joch ein LKW auf der eigenen Spur entgegengekommen. Die fünf waren sofort tot – das stand damals in allen italienischen Zeitungen. Und in der BILD. Der Fahrer des LKW war wohl Deutscher, im Führerhaus steckte ein Schild ,Il Tedesco’, und er beging Fahrerflucht, wie mir die Polizei sagte.“ Er fühlt wieder Tränen aufsteigen. Besonders die Schlagzeilen der BILD hatten ihn lange verfolgt und bis heute nicht wirklich losgelassen: „Tod in Tirol – LKW zermalmt fünf deutsche Frauen.“
„Mamma mia, das ist ja furchtbar, allerherzlichstes Beileid.“
„Danke – aber was darf ich für Sie tun?“
Andreas Schirm wechselt die Stimmlage und flüstert verschwörerisch: „Seit vorgestern ist meine Frau verschwunden. Ich habe schon mit allen Freunden und Verwandten telefoniert – ohne Erfolg. Und ich war auch schon bei der Polizei. Aber die heben ihren Hintern erst nach 48 Stunden, sagen sie.“
Ambrosius kann sich zwar nicht vorstellen, dass Polizeibeamte bei der Beschreibung dienstlicher Tätigkeiten eigene Körperteile erwähnen, nimmt die Nachricht aber trotzdem ernst: „Ja, das ist so. Es gibt zu viele Vermisste, die nach zwei, drei Tagen Komasaufen putzmunter wieder auftauchen, als wäre nichts gewesen. Und die ganze Aufregung war umsonst. Da stellen die erst mal keine Ermittlungen an, sondern sitzen das in aller Ruhe aus.“
Empörung klingt durch die Leitung: „Meine Frau trinkt nichts außer Wasser und Säften, schon mal einen Cappuccino oder einen Latte, aber immer pur, mit nichts – oder ohne alles, ganz wie Sie wollen. Die liegt nicht im Koma, Mann.“
„Das war ja auch nur ein Beispiel. Es gibt viele Gründe für Vermissungen, alte Freunde getroffen, Depressionen, Kaufrausch,…“
Andreas Schirm unterbricht ihn wütend: „Meine Frau trifft weder alte Freunde noch hat sie Depris, und einkaufen gehen wir immer zusammen. Sie ist einfach nur verschwunden!“
„Wann haben Sie sie denn zuletzt gesehen?“
„Am Samstagmittag, nach dem Essen, so gegen 13 Uhr. Ich bin freischaffender Sportjournalist und musste zu einem Bundesligaspiel.“
„Wer gegen wen?“
„Leverkusen gegen Schalke.“
„Habe ich gesehen im Fernsehen, 0:1. Schönes Tor von Farfán.“
„Ja, … Mann Gottes, was reden wir denn über Schalke, meine Frau ist verschwunden!“
„Entschuldigung, aber beim Thema Fußball gehen immer die Pferde mit mir durch.“
„Wie, Pferde?“
Ambrosius seufzt. „Schon gut, was hatte Ihre Frau denn am Nachmittag vor ohne Sie, einkaufen gehen ja wohl nicht, oder?“
Schirm überhört die Ironie: „Nein, natürlich nicht, ich war ja im Stadion. Sie wollte noch etwas nähen und einen Brief schreiben und dann gegen 16 Uhr zum Nordic-Walking in ihren Verein fahren.“
„Wie, Verein? Welcher Verein macht denn Nordic-Walking. Komisch.“
„Was ist daran komisch? Sie Witzbold. Für alles gibt es einen Verein, für Drachenflieger, für Angler, für Sänger, für Briefmarkensammler, sogar für Swinger und Saunafreunde, warum dann nicht auch für Nordic-Walker?“
„Ich mag kein Nordic-Walking, es kommt mir immer vor wie Bergsteigen ohne Berg. Ich jogge lieber ein paar Runden.“
Schirm ereifert sich: „Mann, das sind ja gerade die Vorurteile, die meiner Frau so zu schaffen machen. Dabei ist Nordic-Walking absolut gesund für das Herz-Kreislauf-System, für die verschiedensten Muskelgruppen und für die Gelenke, sagt sie immer.“
Und für Quatschen im Wald, für das Tragen von Riesenflaschen isotonischer Getränke und die Rudelbildung auf schmalen Wegen, denkt Ambrosius grimmig. Doch dann hat er sich wieder im Griff und kontert: „Was regen Sie sich über Vorurteile auf – Ihre Frau wird vermisst!“
„Ja“, dieses Mal weinerlich, „und die Polizei hebt den Hintern nicht! Deswegen brauche ich ja Sie!“
„Und wie kommen Sie auf unsere Firma? Empfehlung?“
„Nein, ich habe im Branchenbuch nachgesehen, und da stehen Sie an erster Stelle, ganz oben.“
Herrje, denkt Ambrosius, ist der nervös und so etwas nennt sich Journalist: An erster Stelle ist ganz oben und umgekehrt. Sachlich fährt er fort: „Ich dachte, Sie wären aus Mülheim, warum dann ein Duisburger Branchenbuch?“
„Erstens konnte ich das Mülheimer in meiner Nervosität nicht sofort finden, zweitens bin ich alter Duisburger, und drittens ist meine Frau wahrscheinlich in Mülheim oder Duisburg verschwunden.“
„Wie heißt sie?“
„Wer?“
„Meine Güte, Ihre Frau, wie heißt sie?“
„Schirm.“
„Ich meine natürlich, wie heißt sie mit Vornamen? Dass sie Schirm heißt, kann man sich ja denken – oder?“
„Sie heißt Eva.“
Eine irre Hitzewelle fliegt quer über Ambrosius’ Rücken, lässt die Halswirbel erstarren und setzt sich als Gänsehaut auf den Armen fest. Eva! Ausgerechnet Eva! Er fühlt Tränen aufsteigen.
„Eva Schirm, genau genommen Eva Henkel-Schirm, aber den Mädchennamen hat sie wegen der Familie eigentlich nicht mehr benutzt.“
„Wegen welcher Familie?“
„Na, sie ist eine entfernte Verwandte dieser Waschmittel-Leute aus Düsseldorf, aber den Namen wollte sie in der Öffentlichkeit vermeiden, obwohl sie bei der Hochzeit vor über zehn Jahren noch ganz stolz war auf die Tassenhalter.“
„Tassenhalter?“
„Ja, Tassenhalter. Das ist ihre Umschreibung für die Familie, wenn sie die Abstammung verschweigen will.“
„Warum verschweigen, gab es Ärger mit den Henkels?“
Andreas Schirm antwortet weinerlich: „Nein, eigentlich nicht. Sie hat von einer verstorbenen Tante mütterlicherseits unsere kleine Schnuckelvilla hier auf der Prinzenhöhe geerbt, und das haben die Tassenhalter ihr nicht gegönnt. Ansonsten haben wir mit denen nichts zu tun.“
Ambrosius atmet tief durch und nimmt die Füße vom Schreibtisch. Eine schwachsinnige Angewohnheit von ihm, beim Telefonieren ein wenig in den Schreibtischstuhl einzusinken und die Schuhe auf den Tisch zu legen. Sie stammt aus den ersten Monaten seines Praktikums bei „ALTER-NATE“, als er dachte, Detektive wie er und Humphrey Bogart müssten mit dieser Haltung unbedingt ihre Lässigkeit im Gespräch beweisen.
Er rückt den Stuhl zurecht und konzentriert sich wieder: „Und jetzt sollen wir Ihre Frau suchen?“
„Ja, ich gebe Ihnen den Auftrag, sie zu finden. Haben Sie Zeit? Und was kostet mich das?“
Ambrosius räuspert sich. Die alte Schule von Achim Alter schlägt durch („Wir sagen keinem Kunden sofort zu, sondern versuchen, im angeblich gefüllten Terminkalender ein klitzekleines Zeitfenster für ihn zu finden. Dann ist er dankbar, vertraut unserer gefragten Kompetenz, und wir können die Preise hoch halten.“).
„Lassen Sie mich sehen.“ Er raschelt in einem Stapel Altpapier, das immer neben dem Telefon liegt, unbeschriebene Rückseiten aussortierter Schriftstücke und Fehldrucke („Lieber Ambrosius, das Altpapier ist unser Kapital, was meinst du, was es kostet, immer neue Schreibblöcke zu kaufen? Und wir drucken hier nur Schwarzweiß, denk dran, Farbe ist etwas für Künstler.“).
„Okay, im Terminkalender haben wir für morgen Nachmittag einen ziemlich großen Auftrag notiert, der ist langwierig bis in die Nacht hinein, das wird dauern. Ich überprüfe für morgens sicherheitshalber noch den Outlook-Planer. Heute sind wir auf jeden Fall bis in den Nachmittag ausgebucht. Einen Moment bitte, ich lege Sie mal hin.“
Er verdeckt die Muschel mit einer Hand und lässt gefühlt eine knappe Minute vergehen („Lieber Ambrosius, den ganzen elektronischen Terminplaner-Mist kannst du vergessen, wir notieren unsere Aufträge mit der Hand, da weiß man, was man hat.“).
„Nein, auch im Planer ist für morgen früh nichts notiert. Ich könnte ein paar Stunden investieren, bis gegen 13 Uhr.“
„Und was kostet mich die ganze Sache?“
„Unser Tagessatz liegt bei 800 Euro plus Mehrwertsteuer und Spesen, egal, ob wir erfolgreich sind oder nicht. Plus vier Tagessätze Erfolgshonorar natürlich. Mindesthonorar ein halber Tagessatz.“
„Wenn Sie meine Frau bis mittags finden, werden also auf jeden Fall 400 Euro fällig, nicht wahr?“
„Ja, plus 19 Prozent Mehrwertsteuer. Das Mindesthonorar bitte vorab zahlen.“
„In Ordnung.“ Andreas Schirm klingt deutlich gefasster als zu Beginn des Gesprächs. „Dann komme ich heute am späten Nachmittag zu Ihnen, und wir besprechen die Einzelheiten. Wäre das okay?“
„Klar, Herr Schirm, unser Auftrag wird gegen 17 Uhr enden, und ich bin dann gerne um 18 Uhr für Sie hier. Sie wissen ja wo. Und bringen Sie ein neues Foto Ihrer Frau mit.“
„Kein Problem. Dann bis heute Abend. Vielen Dank. Und noch einen schönen Tag und viel Erfolg, Herr Läufer.“