Loe raamatut: «Mord oder Absicht?»

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Für Jutta und Martin

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Handlungen und Charaktere sind frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen haben ihre Zustimmung erteilt.

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eISBN 978-3-8271-8412-2

Lothar Schöne

Mord

oder

Absicht?

Ein Rhein-Main-Krimi


Das ist ja die verkehrte Welt,

Wir gehen auf den Köpfen!

Die Jäger werden dutzendweis

Erschossen von den Schnepfen.

(Aus „Verkehrte Welt“ von Heinrich Heine)

1 Herr Tod, ich bin enttäuscht!

„Ich bin nicht normal“, murmelte er und lehnte sich erschöpft an ein Bäumchen im Kurpark, „ich bin überhaupt nicht normal.“ Er streckte sich zu voller Länge, umgriff den Stamm mit beiden Händen und flehte das Bäumchen an: „Sag du mir, ob ich noch normal bin!“

Der Mann war umhergeirrt, als wüsste er nicht, wo er sich befand. Jetzt stieß er sich von dem Stamm ab, und das sah gerade so aus, als wolle er einen lästigen Zeugen, der die Antwort verweigerte, abschütteln. Der groß gewachsene Mittdreißiger sah nach oben in den Himmel, der nachtschwarz über ihm lastete. Nur ein trüber Halbmond gab etwas Licht.

„Ich muss krank sein“, kam es dann leise über seine Lippen, und er lauschte, doch der Himmel schwieg, und noch nicht einmal ein Sternlein blinkte auf.

Er machte einige tapsende Schritte in Richtung zum nahe gelegenen Weiher, und ihm ging durch den Kopf, dass er nicht krank, sondern schwer krank, ja tödlich krank sein müsse. Oder war er schon tot? Tappte er im Jenseits herum und hatte es nicht gemerkt? Hätte ihm der Baum vielleicht sagen sollen, dass er unter den Toten wandelte?, überlegte er weiter. Doch es handelte sich offenbar um einen vornehmen, einen feinsinnigen Baum, der deshalb nicht zu mir sprach, weil ich vermutlich nicht als Toter, sondern als Untoter über die Erde krauche. Gewissermaßen ein vampirisches Leben führen muss …

Solche Überlegungen hielten den Burschen nicht davon ab, sich zum Weiher zu bücken, um sich mit der rechten Hand Wasser ins Gesicht zu schaufeln. Wasser ist schließlich ein Lebenselement, aber zählte auch das Wasser dieses Weihers dazu? Selbst in der Düsternis der Nacht, nur streifenhaft erhellt durch die Laternen der nahe gelegenen Wilhelmstraße, konnte man den Kot der Enten im Weiher entdecken.

Unser unnormaler Nachtgänger schreckte zurück. Vermutlich hatte er sich mit seinen Wasserspritzern den endgültigen Todesstoß versetzt, einen erbarmungslosen Stoß ins Reich der Toten oder vielmehr Untoten.

Sogleich hielt er inne, und ein anderer Gedanke kam ihm in den Sinn. Vielleicht war er betrunken – das war gut möglich. Denn normalerweise düngte er seine inneren Organe lediglich mit gesunden Tees. Ein Schluck Alkohol konnte Verheerendes bewirken. Er musste Alkoholisches zu sich genommen haben. Aber wo? Und mit wem? Schließlich war er kein Alleintrinker, kein einsamer Zecher, der sich in Kaschemmen herumtrieb, um sich auf Teufel komm raus Hochprozentiges in den Schlund zu schütten.

Der Mann erhob sich, verabschiedete sich mit einer Verbeugung vom Weiher, dessen Wasser zwar nicht das gesündeste Getränk, aber immerhin doch ein Labsal war, und ging stockend in Richtung der großen Straße. Stockend? Einmal taumelte er sogar, und als er schließlich auf dem Fußweg der Wilhelmstraße angelangt war, überlegte er, wie er heimfinden würde. Oder sollte er zu Carola? Carola – ja, die gab es, er erinnerte sich an sie. Gleich verwarf er den Gedanken wieder. Seine Freundin würde sein Leiden vermutlich verschlimmern, ihn zum Nachtdienst einer Klinik schaffen, wo man vermutlich seinen baldigen Tod feststellen würde. Wenn er nicht in der Klinik selbst verendete, an Apparaturen festgezurrt, und im Hinübergleiten in die jenseitige Welt würde er noch die geflüsterte Diagnose des Arztes hören: Nichts mehr zu machen, dieser Mann war nicht zu retten.

Aber warum, warum nur bin ich dem Tod geweiht?, ächzte der Unbekannte auf, ich bin doch erst sechsunddreißig, das ist doch kein Alter für den Tod! Da hat er doch gar keine Freude. Und im letzten Fall habe ich den Tod schließlich persönlich kennengelernt. Nicht nur kennen-, gewissermaßen auch schätzen gelernt. Als Regisseur hatte der was drauf. Gar kein unangenehmer Geselle. Wenn er es auf mich abgesehen hätte, könnte er doch auch jetzt erscheinen. Damals hat er mir als Hase aufgelauert, jetzt könnte er mich als Ente im Kurpark überraschen. Schließlich ist der Tod erfindungsreich, dem sind keine Varianten fremd, und seien sie auch noch so tierisch.

Kommissar Vlassopolous Spyridakis, denn um keinen anderen handelte es sich, schaute in den Park zurück. War da eine Ente, die sich auffällig benahm und sich als der Herr Tod entpuppen würde? Er machte ein paar Schritte in den Kurpark. Doch er sah nur schlafendes Federvieh, sodass er schließlich ausrief: „Herr Tod, ich bin enttäuscht! Wenn man Sie braucht, sind Sie nicht da. Immer kommen Sie zur unrechten Zeit. Jetzt, wo ich einen Rat vertragen könnte, haben Sie sich offenbar aufs Ohr gelegt!“

Keine der schlummernden Enten am Weiher fühlte sich durch seine Rede genötigt aufzuwachen. Es blieb alles ruhig. So drehte sich Vlassi um und ging zurück zur Straße. Heim musste er, nichts als heim, überlegte er. Aber wo wohnte er noch mal? War ihm seine Behausung etwa auch abhandengekommen? Mein Gedächtnis hat gelitten, kam es ihm in den Sinn. Todkrank bin ich, vielleicht schon tot, und obendrein ohne Gedächtnis. Wenn ich endgültig ins Jenseits schwebe, werde ich es nicht einmal bemerken. Aber was mach’ ich mir Sorgen, im Grunde ist es gar nicht so übel, den eigenen Tod nicht mitzukriegen.

Dann kam ihm in den Sinn, dass etwas Fürchterliches passiert sein musste. Ein Verbrechen? Ihm flatterten die Vokabeln Mord oder Absicht durchs Hirn. Blödsinn, dachte er im selben Moment, das passt doch gar nicht zusammen, das ist doch gaga. Mord ohne Absicht, das ginge, aber Mord oder Absicht … Bald sehe ich mich wahrscheinlich doppelt, und auf meinen Köpfen wachsen Glühbirnen, die leider nicht glühen.

Vermutlich leide ich nur an vorzeitiger Vergreisung, beruhigte er sich. Mich hat die Demenz überfallen, das kann ja in jedem Alter passieren. Die fehlende Erinnerung wird bei mir ergänzt durch sinnlose Vokabeln, Mord oder Absicht ... grotesk. Er machte ein paar Schritte, es war weit nach Mitternacht, und auf der Wilhelmstraße fuhr ein Taxi langsam an ihm vorbei, stoppte aber plötzlich, der Fahrer ließ das Fenster herunter und fragte: „Brauchen Sie ein Taxi?“ Der Chauffeur hatte offenbar erkannt, dass Vlassopolous Spyridakis einen fahrbaren Untersatz nötig hatte.

Vlassi nickte und erwiderte stockend: „Brauchen schon, aber ich … also … ich könnte Ihnen nicht sagen, wo wir hinmüssen.“

„Verstehe“, erwiderte der Fahrer lächelnd, der einen Mann vor sich wähnte, der zu tief ins Glas geschaut hatte, und gab dann einen Rat, der Vlassi einleuchtete: „Denken Sie scharf nach, dann fällt’s Ihnen bestimmt ein. Ich komm noch mal vorbei.“

Nachdenken, das muss ich tun, sagte sich Vlassi, als das Taxi entschwunden war. Aber scharf nachdenken – bin ich dazu in der Lage? Wenn man das Gedächtnis verloren hat und die Demenz einsetzt – dann fehlt neben dem Denken auch jede Schärfe und das Hirn verludert zu einem Unsinnskasten.

Wo bin ich eigentlich?, fragte er sich im nächsten Augenblick. Er lehnte sich an den Zaun eines Gartens und schaute auf. Ah, das Literaturhaus, das Wiesbadener Literaturhaus. War das nicht ein guter Ausgangspunkt, um irgendwohin zu finden – und sei es zum eigenen Zuhause.

2 Ein totes Problem auf zwei Beinen

Anderntags ging es schon auf halb elf zu, und Hauptkommissarin Julia Wunder hatte bereits zweimal auf die Uhr geschaut. Wollte Kommissar Spyridakis heute nicht zum Dienst erscheinen?

Sie hörte auf dem Gang draußen schlurfende Schritte. Das hörte sich keinesfalls nach Spyridakis an. Doch im nächsten Moment ging die Tür auf, und ein Mann trat ein, der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihm besaß. Allerdings war da nichts von jugendlicher Frische zu erkennen, Vlassi schleppte sich voran, und sein Gesicht sah grau und eingefallen aus. Er ließ sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch fallen, es hatte geradezu den Anschein, als sei er froh, es bis dahin geschafft zu haben. Die ihm gegenübersitzende Julia musterte ihn.

„Guten Morgen, Herr Spyridakis“, sagte sie schließlich.

Vlassi warf einen müden Blick zu ihr: „Ich glaube nicht, dass er gut ist, der Morgen.“

„Na, Sie haben es, wenn auch mit Verspätung, in unser Dienstzimmer geschafft. Das ist doch schon ein Anfang.“

Vlassi nickte ergeben, blieb aber stumm.

„Darf man fragen, was Ihnen geschehen ist? Sie kommen mir etwas eingefallen vor“, fragte seine Chefin.

Vlassi richtete sich auf und antwortete mit klarer Stimme: „Ich bin nicht eingefallen. Ich bin tot.“

„Aha. Sehr interessant“, erwiderte Julia, „aber gehört zum Tot-Sein nicht auch ein Leichenschein? Wenn Sie den nicht vorweisen können, sollten wir schleunigst Frau Doktor Hauswaldt aufsuchen.“

Vlassi nickte, erwiderte jedoch: „Die Hauswaldt können wir uns sparen. Mein Zustand übersteigt ihre Fähigkeiten.“

„Aber unsere Rechtsmedizinerin kennt sich mit Leichen aus“, teilte Julia mit.

„Mit mir nicht“, widersprach Vlassi, „ich bin eine besondere Leiche.“

„Könnte man sagen, Sie sind eine lebende Leiche“, fasste Julia zusammen, „und es fehlt Ihnen nur das Grab?“

Vlassi stimmte müde zu: „Ja, das Grab fehlt mir noch, dann wäre es endgültig.“

„Also endgültig ist Ihr Leichen-Dasein noch nicht?“, wollte Julia wissen.

„Ich bin noch nicht lange tot“, erläuterte Vlassi.

„Verstehe“, nickte Julia, „auf jeden Fall kann ich Ihnen jetzt schon versichern, dass ich Ihr Grab besuchen werde. Und vielleicht könnte ich sogar Kriminalrat Feuer zu einem gemeinsamen Kondolenzbesuch überreden.“

„Kommen Sie mir nicht mit Feuer, dem ist mein Zustand so fremd wie der Hauswaldt.“ Vlassi stöhnte auf: „Sie wissen nicht, was passiert ist.“

„Aber doch“, widersprach Julia, „es ist etwas passiert, das Ihren Tod verursacht hat.“

Sie hielt einen Moment inne: „Nur müssen Sie mir sagen, was genau passiert ist.“

Vlassi schüttelte den Kopf: „Tote können nicht reden.“

„Im Allgemeinen stimmt das, aber Sie sind eine Ausnahmeerscheinung, gewissermaßen ein Ausnahme-Toter, und außerdem noch halb im Leben.“

Vlassi gefiel das Kompliment von ihr. Er war eine Ausnahmeerscheinung, ja, ja – allerdings eine ziemlich unlebendige, der nur das Grab fehlte.

Er blickte zu ihr: „Wenn ich doch reden könnte … alles, alles würde ich Ihnen erzählen … aber zu meinem Tot-Sein kommt noch Gedächtnisverlust hinzu. Ich bin ein Toter ohne Erinnerung.“

„Sie entpuppen sich als schwieriger Fall“, murmelte Julia.

Vlassi stimmte zu: „Normalerweise liebe ich schwierige Fälle, wie Sie wissen. Aber diesmal bin ich selbst einer.“

„Und jetzt reden Sie sogar vernünftig, was gar nicht zu Ihnen passt“, teilte Julia mit, „es scheint also wirklich problematisch um Sie zu stehen.“

„Sage ich doch“, bestätigte Vlassi, „ich bin ein totes Problem auf zwei Beinen, und nicht mal die Enten im Kurpark konnten mir helfen.“

„Sie waren im Kurpark, daran erinnern Sie sich?“, fragte Julia.

„Letzte Nacht, ja, und ich habe gehofft, dass mir eine Ente Bescheid sagt. Wissen Sie, der Tod ist ein guter Ratgeber und verkleidet sich mitunter als Ente … “

„Als Ente, ah ja“, nickte Julia und dachte, dass es ihren Vlassi doch heftiger als gedacht getroffen hatte.

„Immerhin wissen Sie noch, dass Sie im Kurpark mit den Enten gesprochen haben.“

„Die haben aber keine Antwort gegeben, die Biester. Ich war sehr enttäuscht.“

„Nun ja“, meinte Julia, „wir sollten nicht zu sehr enttäuscht sein, wenn Enten sich nicht auf ein Gespräch mit uns einlassen.“

Vlassi wollte etwas entgegnen, kam aber nicht dazu, denn die Tür wurde aufgerissen, und Kriminalrat Robert Feuer stürzte herein.

„Guten Morgen, die Herrschaften, ich grüße Sie aufs Allerherzlichste!“

Julia Wunder erwiderte seinen Gruß, fragte aber misstrauisch: „Sie haben offenbar einen neuen Fall für uns?“

„Keineswegs, es gibt nur läppische Dinge, mit denen wir uns nicht beschäftigen müssen. Ich komme gerade von der Lektüre eines Artikels im Wiesbadener Kurier …“

Feuer hielt inne, denn sein Blick war auf Vlassi gefallen, der stumm dasaß und nach wie vor derangiert aussah.

„Was ist denn mit Ihnen los, Herr Spyridakis?“

Vlassi hob den Kopf: „Ich bin tot.“

„Hat man Sie erschossen oder vergiftet?“

Kriminalrat Feuer lachte bärig los, um dann weiterzusprechen: „Na, so wie ich Sie kenne, wird man Sie ertränkt haben. Vermutlich haben Sie sich selbst ertränkt. In einer Badewanne, der es an Wasser mangelte.“

„Ach, das wäre schön“, murmelte Vlassi.

Julia griff ein und teilte mit: „Herr Spyridakis weiß nicht mehr, wie er ums Leben gekommen ist.“

Jetzt machte Feuer auf fürsorglich: „Aber so etwas kann man doch herausfinden. Vor allem, wenn man noch am Leben ist.“

Vlassi schaute zu ihm: „Meinen Sie?“

„Ja sicher meine ich das. So kleine Lücken hat doch jeder mal. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, ob ich vorgestern Morgen zum Frühstück ein Ei gegessen habe …“

„Bei mir geht es doch nicht um ein Ei“, stöhnte Vlassi auf.

„Es geht immer ums Ei, Herr Kollege“, teilte Feuer energisch mit, „Sie haben offenbar nur vergessen, ob es sich um ein Hühner- oder Straußenei handelt.“

„Was Großes war’s schon“, stimmte Vlassi leise zu.

„Na sehen Sie, das ist doch schon mal ein Anhaltspunkt“, erklärte Kriminalrat Feuer, als habe er das Tot-Sein Vlassis auf den Punkt gebracht.

Julia fragte nüchtern: „Aber wie hilft ihm sein Straußenei?“

„Ein Anhaltspunkt, wie ich schon sagte“, stellte Feuer fest, „von hier muss man weiterforschen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass ein so fähiger, wenn auch verquerer Beamter wie Kommissar Spyridakis bald herausfindet, wie das Straußenei zu seinem Gedächtnisschwund führte.“

Vlassi sah ihn verdattert an, während Julia nickte und mit Ironie in der Stimme anmerkte: „Ja, ja, er wird bestimmt schnell entdecken, wie ein Ei seine Erinnerung blockiert.“

Feuer warf einen missmutigen Blick zu ihr, doch da er heute offenbar mit guter Laune in den Tag gestartet war, sagte er generös in Richtung Vlassi: „Wissen Sie, Herr Spyridakis, nehmen Sie sich den Tag frei, gehen Sie in den Kurpark spazieren, da kommen Sie auf andere Gedanken, und alles fällt Ihnen wieder ein.“

Er ging zur Tür, öffnete sie, drehte sich noch einmal herum und teilte Vlassi jovial mit: „Morgen sind Sie ein neuer Mensch.“

Kaum war er draußen, wandte sich Vlassi an Julia: „Morgen bin ich vielleicht doppelt tot.“

„Das ist gut möglich“, erwiderte sie, „aber Herr Feuer hat mich auf eine Idee gebracht, er ist, ohne es zu wissen, mitunter ganz hilfreich.“

„Eine Idee …“, murmelte Vlassi.

Julia gab keine Auskunft, griff stattdessen zum Telefonhörer und wählte eine Nummer.

Schon nach dem ersten Klingeln meldete sich auf der Gegenseite eine männliche Stimme, Vlassi konnte nicht hören, welche es war, erkannte aber rasch, um wen es sich handelte.

Seine Chefin sprach mit ihrem Vater Wolfgang Hillberger, teilte ihm in kurzen Worten mit, dass sie einen schwierigen Fall vor sich habe, worauf Hillberger sie unterbrach: „Das kann nur der Spyridakis sein! Der ist doch die Schwierigkeit in Person.“

Julia bejahte seine Feststellung nicht, wollte stattdessen wissen, ob ihr Vater einen Psychiater kenne, der mit Gedächtnisschwund umgehen könne.

„Das kann jeder, das ist ihr Beruf!“, schnarrte Hillberger, während Vlassi auf der anderen Seite des Schreibtischs aufstöhnte: „Zum Nervenarzt soll ich? Ich bin doch nur tot und nicht plemplem.“

Wolfgang Hillberger hatte Vlassis Stöhnrede nicht gehört, stellte aber ebenfalls fest: „Ist der Spyridakis jetzt vollständig abgedreht, ganz von der Rolle?“

Julia antwortete: „Das ist sein Wesen, Papa. Damit muss man klarkommen.“

„Mein Wesen“, griff Vlassi wieder ein, „mein Wesen ist das Tot-Sein. Erklären Sie das Ihrem Vater mal. Damit muss ich klarkommen.“

„Und vor allem ich“, teilte Julia ihm über den Schreibtisch hinweg mit.

Hillberger erklärte seiner Tochter: „Also einen Psychiater braucht er. Es gibt ja bei der Polizei auch welche. Von denen rate ich ab. Ein alter Studienfreund von mir praktiziert nach wie vor. Ein sehr einfühlsamer Mann ist das. Der ist was ganz Besonderes, er ist nämlich psychologischer Psychotherapeut. Er wohnt in Geisenheim, da müsste der Spyridakis hin.“

„Wie heißt er denn, und weißt du zufällig auch die Straße, wo er praktiziert?“, fragte Julia.

„Niebergall heißt er, Doktor Niebergall. Ich will ihn zu meinem neuen Kaffeebruder machen, nachdem der alte ja einen mörderischen Abflug gemacht hat …“

„Du sprichst von Konrad Neumann und unserem letzten Fall“, schob Julia ein.

„Ja, natürlich. Der Niebergall wäre ein prima Ersatz für den Neumann, der es ja nicht ins Eis geschafft hat.“ Wolfgang Hillberger machte eine kleine Pause: „Also der Niebergall hat seine Praxis in Geisenheim in der Haasenstraße, die schreibt sich mit zwei a. Ich glaube, die Nummer ist 24. Das muss der Spyridakis recherchieren.“

„Danke, Papa“, murmelte Julia und legte auf.

Vlassi hatte versucht, möglichst viel von ihrem Telefonat mitzukriegen, jetzt schaute er seine Chefin von seiner Schreibtischseite streng an: „Ich soll wohl zu einem Seelenklempner, den noch dazu Ihr Vater empfiehlt?“

„Mein Vater empfiehlt nur Wertvolles, das sollten Sie längst wissen. Und da Sie ohne Gedächtnis hier nur wertlos herumsitzen, sollten wir seine Empfehlung annehmen.“

Vlassi richtete sich in seinem Stuhl auf: „Ich muss protestieren! Sogar als erinnerungsloser Toter besitze ich einen gewissen Wert.“

„Aber natürlich, Herr Spyridakis“, stimmte Julia zu und fuhr mit warmer Stimme fort: „Aber den Wert können wir steigern, wir wollen doch wieder einen vollwertigen Kommissar Spyridakis in unserer Mitte haben.“

„Ich weiß nicht“, murrte Vlassi, „ob der Ratschlag von Kriminalrat Feuer meinem toten Wesen nicht angenehmer ist. Lieber einen Tag freinehmen und spazieren gehen.“

„Auf keinen Fall“, entgegnete Julia, „gerade Tote ohne Erinnerung lieben es, verarztet zu werden, noch dazu von einem Mann mit einem so klangvollen Namen wie Niebergall und so einer wunderbaren Berufsbezeichnung wie psychologischer Psychotherapeut.“

3 Sind Sie außer Gefahr?

Vlassi saß in seinem opulenten Dienstwagen, dem Opel Corsa, und fuhr eben durch Eltville. Da er kein Navi besaß, hatte er sich vorher auf der Karte kundig gemacht, wo er hinsollte. Irgendwie, überlegte er, während er an der MM-Sektmanufaktur vorbeifuhr, hatte Julia Wunder vielleicht doch recht. Er musste seine Gedächtnisschwäche überwinden, und sei es mit Hilfe eines Seelenklempners.

Er fuhr am Rhein entlang, kam nach Erbach und Hattenheim, ließ Oestrich-Winkel hinter sich, und jetzt musste Geisenheim doch bald auftauchen. Tatsächlich sah er ein Hinweisschild, der Ort lag nicht direkt am Rhein, entbehrte also gewissermaßen der Schifffahrt und frischen Brise des Flusses – aber das sollte ihn nicht stören.

Vlassi parkte seinen Corsa am Eingang des Ortes, anderes war auch nicht möglich, da Geisenheim offenbar Durchgangsverkehr verschmähte. Zu Fuß machte er sich auf zur Haasenstraße und war überrascht. Nämlich von der Schönheit des Ortes. Einen wunderbaren Marktplatz besaß Geisenheim und sogar einen Dom, wie er feststellte. Und die vielen Cafés und Restaurants hatte er auch nicht erwartet. Hier herrschte ja geradezu griechische Atmosphäre. Aber das Beste, stellte er fest, war wohl eine Buchhandlung namens Untiedt. Die war opulenter als jene, die er so gern aufsuchte, nämlich die von Andreas Dieterle in Schierstein. Es ist nicht verkehrt, ging es ihm durch den Kopf, dass ich diesem Niebergall einen Besuch abstatte, vermutlich wäre ich sonst nie in diesem Geisenheim gelandet, das ist ja ein wahres Kleinod des Rheingaus. Eigentlich bin ich ja ein Wiesbaden-Fan, aber hier könnte ich auch Mördern nachjagen. Und ein weiterer edler Gedanke strich ihm durchs Hirn: Sollte ich nicht mal mit Carola nach Geisenheim fahren und sie eventuell zum Essen einladen?

Er überlegte, ob er der Buchhandlung Untiedt einen Besuch abstatten und vielleicht sogar in ein Café einkehren sollte, es war für die Jahreszeit warm, sogar die Sonne zeigte sich, er könnte draußen einen Gartenplatz finden, den Nachmittag genießen und über sein erinnerungsloses Dasein grübeln.

Vlassi riss sich am Riemen. Nein, nein, nein! Dieser Niebergall ging vor. Nicht, weil er seiner Chefin einen Gefallen tun wollte, er musste sich selbst diesen Gefallen tun. Sollte er denn ewig ohne Gedächtnis vor sich hinvegetieren? Carola eventuell beichten, dass er nicht mehr ganz unter den Lebenden weilte? Er musste sein Tot-Sein überwinden, und dieser Dr. Niebergall war vermutlich die richtige Adresse dafür.

Die Haasenstraße hatte er bald gefunden. Allerdings praktizierte Dr. Niebergall nicht in der Nummer 24, sondern 27. Schon nach dem ersten Klingeln öffnete ihm ein kleiner glatzköpfiger Mann die Tür. Er war korpulent, aber nicht dick und wirkte wie ein ehemaliger Preisringer. Auf die siebzig musste er zugehen, schätzte Vlassi, was ihm gefiel. Junge Ärzte konnte er seit dem Pharma-Fall, wo er mit Vergiftungssymptomen in eine Mainzer Klinik eingeliefert wurde, nicht ausstehen. Dieser Niebergall schien Erfahrung zu besitzen.

„Sie sind Herr Spyridakis?“, begrüßte ihn der korpu­lente Herr.

„In Person“, bejahte Vlassi.

„Kommen Sie herein, ich bin Doktor Niebergall, und Ihr Besuch wurde mir von meinem alten Freund Hillberger angekündigt.“

„Er hat Sie mir dringend empfohlen“, teilte Vlassi mit.

Dr. Niebergall führte ihn in sein Behandlungszimmer, einen Raum mit einem großen Schreibtisch, hinter dem ein opulenter Ledersessel stand, einer Bücherwand bis zur Decke und einem Besuchersessel. Nun ja, vielleicht sollte man eher von einem Sesselchen sprechen.

„Nehmen Sie Platz“, forderte ihn der Psychotherapeut auf.

Vlassi setzte sich zögernd, das Sesselchen wippte auf und nieder und schien nicht sehr stabil zu sein.

„Fühlen Sie sich wohl?“, eröffnete Dr. Niebergall das Gespräch.

„Ja … eigentlich schon.“

„Das glaube ich nicht“, erwiderte Niebergall und sah ihn ernst an.

„Warum denn?“, wollte Vlassi wissen.

„Sie sagen nicht die Wahrheit“, teilte der Psychiater mit und ließ sich in seinen schweren Sessel fallen.

„Sollte ich mich bei Ihnen eher elend fühlen?“, fragte Vlassi.

„Sie sollen sich bei mir wohl und wohler fühlen. Aber das tun Sie doch im Moment gar nicht.“

Vlassi sah den Mann an, der im Sitzen viel größer wirkte. Seine Glatze schimmerte auf einmal rosa, und seine Knollennase schien jedes Geruchsmolekül einzusaugen. Roch Dr. Niebergall etwa Angst bei ihm?

„Ich habe keine Angst“, erklärte Vlassi.

„Das rieche ich, und das meinte ich auch nicht“, teilte ihm der Psychiater mit.

„Was meinten Sie denn?“, wagte sich Vlassi vor.

„Sind Sie außer Gefahr?“

„Bin ich außer Gefahr?“, wiederholte der Kommissar.

Sein Gegenüber nickte und wiederholte drängend: „Sind Sie außer Gefahr?“

Vlassi griff wegen seines schwankenden Sesselchens zur Schreibtischkante: „Also … ich weiß nicht … ich führe ja generell ein gefahrvolles Leben, im letzten Fall wäre mir beinahe eine Theatertruppe zum Verhängnis …“

Dr. Niebergall unterbrach ihn: „Schon gut, schon gut. Sind Sie im Moment außer Gefahr?“

„Ich glaube schon … oder sind Sie die Gefahr?“

Der Psychotherapeut beugte sich vor: „Glauben Sie, ich wollte Sie umbringen?“

„Ich hoffe doch nicht, Sie wirken nicht wie ein Umbringer. Ich verspreche mir stattdessen etwas von Ihnen, also ich will sagen, ich glaube ans Heil von Ihnen.“

Dr. Niebergall lehnte sich wieder zurück und sagte enttäuscht: „Heil ist ein theologischer Begriff. Den können Sie bei mir weglassen.“ Er machte eine kurze Pause: „Natürlich sind Sie in Gefahr! Haben Sie das nicht gemerkt?“

„Ehrlich gesagt: nein“, teilte Vlassi mit unschuldigem Augenaufschlag mit, „könnten Sie mir sagen, woher mir Gefahr droht?“

Dr. Niebergall wippte wieder nach vorn und sagte mit unheilvoller Stimme: „Ihnen droht Gefahr von dem kleinen Sessel, auf dem Sie sitzen.“

„Von dem?“, erwiderte Vlassi und erhob sich sofort, „ist der vergiftet und dringt das Gift schon in mein Zeugungsorgan und meinen ganzen Unterleib? Wird es mich dahinraffen?“

Auf dem Gesicht des Psychiaters zeigte sich kein noch so winziges Schmunzeln. Mit ernstem Gesicht teilte er mit: „Sie denken viel zu verquer. Von Gift kann keine Rede sein. Aber der Sessel, auf dem Sie sitzen, ist doch wahrlich nicht bequem, Sie müssen sich doch schon am Schreibtisch festhalten.“

Vlassi ächzte beruhigt auf und ließ sich wieder nieder: „Da haben Sie recht, es ist eine unbequeme Sitzgelegenheit, die einen zu Fall bringen könnte.“

„Sie sagen es. Zu Fall bringen! Wer sich auf so einen Stuhl setzt, ist auch generell gefährdet.“ Der psychologische Psychotherapeut sah unseren Kommissar von oben an: „Es ist mein Testsessel. Er sagt mir viel über meine Patienten.“

Vlassi gab ein leises Stöhnen von sich. Es handelte sich natürlich um ein theatralisches Stöhnen, schließlich hatte ihn der letzte Fall gelehrt, dass man mit schauspielerischen Fähigkeiten weit kommen konnte. Dann sagte er mit trostloser Stimme: „Also bin ich generell gefährdet?“

„Der Sessel, auf dem Sie sitzen, sagt es mir.“ Dr. Niebergall stützte sich mit seinen Ellbogen auf den Schreibtisch und legte seine Hände aufs Gesicht, sodass nur noch die Knollennase hervorlugte. Schließlich sprach er: „Darf ich Ihnen noch etwas mitteilen?“

„Unbedingt. Ich bin offen für alles.“

„Dann muss ich Ihnen sagen, Herr Spyridakis, Sie sind etwas begriffsstutzig.“

„Tatsächlich?“, fragte Vlassi neugierig.

Niebergall nahm die Hände von seinem Gesicht: „Wie lange Sie gebraucht haben, die Funktion des Sessels unter Ihnen zu erkennen!“

Vlassi stimmte dem Psychiater zu dessen Erstaunen zu: „Da haben Sie irgendwie recht. Ich würde allerdings nicht von begriffsstutzig sprechen, sondern von intuitiver Vorsicht. Ich wollte Sie zuerst kommen lassen.“

Der Doktor sah ihn verdutzt an. Jetzt lächelte er. Offenbar gefiel ihm die Reprise seines Patienten.

„Ich merke“, sagte er anerkennend, „dass Ihre Fähigkeiten versteckt gehalten werden …“

„Ja, ja“, nickte Vlassi, „und wissen Sie auch, von wem?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern gab dem Psychiater sogleich Aufklärung: „Von meinem unterirdischen Ich! Da werden sie unter Verschluss gehalten bis zu ihrem Ausbruch.“

„Aha, intuitive Vorsicht.“, beugte sich Dr. Niebergall vor.

Vlassi lehnte sich auf seinem schwankenden Sesselchen zurück und bewegte sein Haupt bejahend von oben nach unten.

Der Psychotherapeut schmunzelte, legte seine Hände auf die Brust und wollte mit entspannter Stimme wissen: „Was ist denn nun der Grund Ihres Besuchs?“

„Ja also … ich bin tot, ich fühle mich mausetot …“

Dr. Niebergall fiel ihm ins Wort: „Das Leben besteht aus Momentaufnahmen. Klick – und schon vorbei. Noch ein Klick, und wir sind tot. Im Grunde sind wir alle tot, wissen es nur nicht.“

Vlassi ließ sich nicht beirren: „Außerdem habe ich mein Gedächtnis verloren. Ich bin ein Toter ohne Gedächtnis …“

„Ohne Gedächtnis sind Sie“, unterbrach ihn Niebergall.

„Ja, furchtbar“, stimmte Vlassi zu.

Der Therapeut lehnte sich zurück und erklärte dann dozierend: „Gedächtnisschwund kann die Folge einer frühkindlichen Konstellation sein.“

„Frühkindlich?“, fragte Vlassi erstaunt, „das wäre ja dann schon lange her.“

Niebergall legte den rechten Zeigefinger auf sein Kinn: „Die Zeit spielt keine Rolle für die Psyche. Auch nach vielen Jahren kann eine frühkindliche traumatische Situation wieder aufbrechen. Gewissermaßen sich aus dem Unterbewusstsein ins Bewusstsein schieben.“

„Tatsächlich? Das wusste ich nicht“, murmelte Vlassi.

„Man kann nicht alles wissen, deshalb gibt es mich ja“, belehrte ihn der Psychiater.

„Aber wieso schiebt sich das jetzt vor, dieser Schwund meines Gedächtnisses?“

„Darauf kann ich Ihnen eine eindeutige Antwort geben. Schuld an dem frühkindlichen Trauma sind durchweg die Eltern.“ Dr. Niebergall hob seine Hände in Kopfhöhe und spreizte die Finger. Es sah aus, als wolle er sich mit ihnen gleich auf Vlassi stürzen, um ihn mit seinen Fingerklauen erwürgen.

Der erwiderte gelassen: „Da müsste ich ja direkt in meine Kindheit zurück und meine Eltern knallhart befragen. Was habt ihr mir angetan, dass ich jetzt als Toter ohne Gedächtnis herumlaufe?“

Der Psychotherapeut ließ die Hände sinken: „Nicht befragen, schon gar nicht knallhart. Die Eltern wissen ja nichts von ihrem Fehlverhalten, von ihrer Fehlbildung, möchte ich sagen …“

„Aber doofe Eltern habe ich nicht“, fiel ihm Vlassi ins Wort, „vielleicht nur ein wenig ungebildete.“

Dr. Niebergall ging auf seinen Einwand nicht ein, sondern tremolierte: „Plötzlich weiß man nicht mehr, wer man ist. Plötzlich glaubt man, tot zu sein. Plötzlich ist alles sinnlos. Das sind Symptome …“

Wieder fiel ihm Vlassi ins Wort: „Sie meinen, ich bin … geistesgestört.“

„Lieber Herr Spyridakis“, sagte der psychologische Psychotherapeut, „Geistesgestörtheit ist ein Rechtsbegriff, mit dem arbeitet unsereiner nicht.“

„Vielleicht habe ich auch etwas Böses getan?“, murmelte Vlassi.

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