MärchenLust

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Luisa Grimaldi

MärchenLust


Die Autorin:

Luisa Grimaldi ist ein Kind der Siebziger, das sobald es lesen konnte Märchen verschlang wie andere Süßigkeiten. Mit der Taschenlampe lag sie unter der Decke und riskierte jede Menge Ärger, um noch herausfinden zu können, ob Schneeweißchen und Rosenrot den grässlichen Zwerg denn besiegen würden. Da sie laut „Hierher“ gerufen hatte, als Fantasie in den Genpool geschüttet wurde, griff sie nicht viel später selbst zum Stift und begann eigene Geschichten zu schreiben. Zu Hause in einer Region Deutschlands, die auch als das Grünland bezeichnet wird, arbeitet sie heute als freie Autorin und schreibt in unterschiedlichen Genres.

Als ewige Liebhaberin der Märchen und Autorin u. a. erotischer Literatur schreibt Luisa Grimaldi mit dem gebührenden Respekt vor den Werken der großen Erzähler dort weiter, wo diese keine Worte mehr finden wollten oder durften. Sie malt die Geschichten aus, variiert sie auch und lässt sie lieben, die Prinzen und Prinzessinnen – hingebungsvoll, begierig und verrückt aufeinander.

Luisa Grimaldi
Märchen Lust


www.Elysion-Books.com ELYSION-BOOKS TASCHENBUCH BAND 4067 Auflage: August 2013

VOLLSTÄNDIGE TASCHENBUCHAUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2012 BY ELYSION BOOKS GMBH, GELSENKIRCHEN

ALL RIGHTS RESERVED

UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleinert

www.dreamaddiction.de

FOTO: © Fotolia/ Maksim Toome

FRONTISPIZ: Hanspeter Ludwig

www.imaginary-world.de

ISBN 978-3-942602-46-4

eISBN 978-3-942602-68-6

www.Elysion-Books.com

Inhalt

Dornröschen

König Drosselbart

Schneewittchen

Aschenputtel

Der Froschkönig

Rapunzel

Dornröschen

Fünf Paar Schuhe standen dort. Die Zofen hatten sie eben gebracht und das Zimmer kichernd wieder verlassen. »Nimm die Grünen«, hatte eine gesagt. »Denn grün ist die Hoffnung.« Die andere hatte den Kopf noch einmal zur Tür hereingesteckt und ihr zu den Hellblauen geraten. »Weil Blau die Treue ist«, hatte sie mit einem verschmitzten Grinsen angefügt.

Grübelnd stand die Prinzessin nun vor den Schuhen. Natürlich passten sie alle, denn der Schuhmacher kannte die Form ihrer Füße und deren Maße wohl noch im Schlaf, und ohne Zweifel wollte sie alle behalten und irgendwann tragen. Doch welches Paar sollte sie für den Abend auswählen und welches der fünf Kleider, die schon am Morgen gebracht worden waren? Das frühlingsfrische, unschuldige Grüne? Das feierliche, aufwendig verzierte Hellblaue? Auch die Ensembles in Hellrot und Gelb waren sehr hübsch – sie würden Prinz Edward am besten gefallen. Sie sollte Prinz Edward gefallen wollen.

Doch da war noch das Fünfte, auf dessen nachtblaue Seide zahllose silberne Sternchen aufgenäht waren. Sein Dekolleté war tiefer als das der anderen, das Korsett schmaler. Es gab keine Rüschen, keinen anderen Schnickschnack. Es war beinahe schlicht, und als sie es anprobiert hatte, hatte sie nur an einen denken können. An den, dem sie tatsächlich gefallen wollte. Doch nicht durfte.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ein zweites Mal in die nachtblauen Schuhe schlüpfte, vor den Spiegel trat und das Gewand raffte. Noch trug sie eines ihrer gewöhnlichen Kleider, dessen schlichter Stoff und das Beige nicht zu diesem atemberaubend schönen tiefen Blau passten, doch das Augenmerk der Prinzessin lag allein auf den Schuhen.

Sie würde tanzen an diesem Abend, sagte sie sich im Stillen und wartete auf ein Gefühl der Vorfreude. Den ganzen Abend würde sie tanzen und die ganze Nacht, durch den Ballsaal, durch das Schloss, vielleicht sogar über die Terrassen und durch den Garten. Die Vorfreude blieb aus.

Bis ans Ende der Welt würde sie tanzen wollen, wenn der eine sie um diesen Tanz bat, doch es war Edward, der sie aufzufordern gedachte. Eine Tatsache, die sie mit so viel Traurigkeit und auch Bedauern erfüllte, dass ihr Herz schier in ihrer Brust zerspringen wollte. Noch vor dem Spiegel stehend, beobachtete sie, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, die das sonst dunkle Blau verklärten. Als die ersten über ihre Wangen kullerten, wischte sie sie weg und raffte das blonde Haar, um über eine Frisur nachzudenken. Sie wollte es mit einer Spange locker aufgesteckt haben oder doch lieber mit vielen, kleineren Klemmen …

Lustlos ließ sie die Arme sinken, und die blonden Wellen fielen zurück über ihre Schultern. Sie wollte ihr Haar offen tragen – so wie er es am liebsten mochte.

Bis zum Beginn des Balls blieben noch einige Stunden. Ob dies eine zu lange oder zu kurze Zeit war, konnte die Prinzessin nicht sagen, doch ganz sicher wusste sie, dass sie wahnsinnig werden würde in ihren Gemächern. Kurzentschlossen ging sie zur Tür und trat auf den Gang, dessen Innenseite zum Hof hin offen und von hohen Säulen flankiert war. Im Hof wie überall im Schloss war man mit der Vorbereitung des Festes beschäftigt. Mägde trugen Körbe mit Gemüse aus dem Garten in die Küche, Kinder hingen Girlanden auf und alberten dabei herum. Der Duft von gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot mischte sich mit der würzigen Luft des Sommertages, und spitzte man die Ohren, konnte man die Musiker ihre Instrumente stimmen hören.

Jeder war ausgelassen und auf den Abend gespannt, dem man so lange entgegengeblickt hatte.

Sie hastete den Gang entlang, um zur Treppe zu gelangen und beeilte sich noch mehr, als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, doch die Königin hatte sie schon entdeckt. »Rosa, wohin willst du jetzt noch?«

Die Prinzessin unterdrückte ein Schnauben und wandte sich um. »Spazieren im Garten. Die Zeit will nicht vergehen. Mir ist langweilig.«

Im Näherkommen warf die Königin einen Blick auf die Füße ihrer Tochter. »Für das Dunkelblaue hast du dich also entschieden?«

Auf Rosas Nicken runzelte sie die Stirn. »Du willst die Schuhe doch nicht auf einem Spaziergang tragen?«

»Ich trampele ja nicht durch Pfützen«, versuchte Rosa ihre Mutter zu beschwichtigen. »Ich gebe schon acht, dass sie nicht schmutzig werden und will sie außerdem einlaufen, damit ich heute Abend keine Blasen darin bekomme.«

»Nun denn«, lenkte die Königin ein. »Aber bleib nicht zu lange und halte dich vom Turm fern!«

Rosa versprach es. »Natürlich. Wie immer.«

Darauf setzte sie eine fröhliche Miene auf, gab ihrer Mutter einen Kuss und eilte die Turmstufen hinab, über den Hof und durch weitere Gänge, die in den Garten führten. Sie passierte den Brunnen und die vielen Rabatten, mit denen auch heute die Schar der königlichen Gärtner beschäftigt war. Es waren Dahlien und Lilien, die sie pflegten und gossen, Löwenmäulchen und Stiefmütterchen, Margeriten, Nelken und Orchideen, doch keine Rose. Im ganzen Schloss, im weiten Garten und nirgends im Königreich wuchs auch nur eine einzige Rose.

Am zweiten Brunnen, der sich etwas versteckt im hinteren Bereich des Gartens befand, machte Rosa halt. Sie zog die Schuhe aus, raffte den Rock und stieg ins Wasser, das ihre Waden kühl umspülte. Nach ein paar Runden setzte sie sich auf den Rand und ließ den Blick über das dichte Grün hinter der Schlossmauer schweifen. Irgendwo dort stand er, der verbotene Turm. Nie war sie dort gewesen. Ihr Leben lang hatte man sie davor gewarnt, sich ihm zu nähern. Wie man sie auch vor Rosen ihr Leben lang gewarnt hatte.

Rosa schloss die Augen. Das sanfte Plätschern des Wassers wurde von Vogelzwitschern untermalt. Irgendwo im Gras zirpte eine Grille und eine Hummel brummte ganz in der Nähe auf ihrem Flug von Blüte zu Blüte. Die Hände auf dem steinernen Brunnenrand abstützend, lehnte sie sich weiter zurück und ließ ihre Gedanken treiben. An Edward dachte sie – ein wenig.

Rosa kannte ihn seit ihrer Kindheit. Seine Eltern regierten das benachbarte Königreich, das dem ihrer Eltern stets in Freundschaft und Achtung verbunden gewesen war. Gewiss konnte man das nicht von allen Nachbarländern behaupten.

In früheren Jahren waren sie Spielgefährten gewesen. Manches Mal hatten sie die Burgen ihrer Eltern gemeinsam erkundet, wobei sie mutig bis in die dunkelsten Winkel vorgedrungen waren. Sie hatten in den Bibliotheken gestöbert und vorm Kamin sitzend in alten Büchern geblättert. An sonnigen Tagen waren sie in Weihern geschwommen oder durch Kornfelder getobt – wohl behütet von Rosas Zofen, die darauf achteten, dass sie auch im Nachbarland nie einer Rose zu nahe kam. Wurde ein Strauch entdeckt, so waren stets Wachen in der Nähe, die das vermeintlich bösartige Gewächs mit ein paar Hieben und Stichen vernichteten und seine Überreste anzündeten.

Dachte Rosa an Edward, so verspürte sie eine tiefe Zuneigung. Er war immer in ihrem Leben gewesen und würde dies auf ewig bleiben, doch lauschte sie in sich hinein, dann wusste sie, dass er nie den Platz einnehmen konnte, den er nun einnehmen sollte. Dabei war er ein so lieber Mensch, aufrichtig und offenherzig. Außerdem war er eine wirkliche Augenweide, groß, blond und mit engelsgleichem Gesicht. Nicht zuletzt war er ein Ehrenmann, der zu seinem Wort stand und seine Prinzipien pflegte. Hatte er sie als Junge so manches Mal gefoppt, an den Zöpfen gezogen oder gestänkert, so legte er seit einiger Zeit eine übertriebene Zurückhaltung an den Tag. Ein einziges Mal war es über ihn gekommen, und da hatte er sie geküsst. Rosa war so überrascht gewesen, dass sie sich zuerst nicht hatte rühren können, doch kaum hatte sie die Arme um ihn schlingen wollen, um den Kuss zu vertiefen, ihn praktisch zu erforschen, da hatte Edward sich von ihr gelöst und sich unter nicht enden wollenden Entschuldigungen Schritt für Schritt entfernt. Ihre Beteuerung, sie nicht gekränkt zu haben, hatte ihn keineswegs getröstet.

 

Lange hatte sie über sein Verhalten nachgedacht und auch über den Kuss. Schmetterlinge hätten in ihr flattern sollen, als sich seine Lippen auf ihre legten. Herzklopfen hätte sie haben sollen, als seine Hände ihre Taille umschlossen. Doch nichts von dem hatte sich eingestellt.

Rosa liebte Edward, das tat sie. Doch es war die Liebe, wie man sie für einen Bruder empfand. Dass Edward ebenso fühlte, daran hatte sie keinen Zweifel. Seine beständige Verbundenheit zu ihr und sein Verantwortungsbewusstsein waren es, die ihn an diesem Abend um ihre Hand anhalten lassen würden. Es würde nicht aus wahrer Liebe geschehen.

Dass Edward Rosa noch vor ihrem 20. Geburtstag im Spätsommer zu seiner Gemahlin nehmen wollte, ließ den ganzen Hof und Staat aufatmen. Rosa selbst belächelte den Aberglauben, der sie bereits ihr ganzes Leben begleitete und der von nicht mehr als den Worten einer in ihrer Ehre gekränkten Frau ausgelöst worden war.

Zu ihrer Taufe waren zwölf der dreizehn Schwestern ihrer Mutter eingeladen worden. Von der dreizehnten hatte man angenommen, sie sei in dunkle Machenschaften verstrickt, weshalb sie nicht zur Feier gebeten worden war. Den Schilderungen zufolge war sie dennoch erschienen und hatte der gerade geborenen Prinzessin statt, wie üblich, Glück, Freude oder einer guten Eigenschaft den Tod durch den Dorn einer Rose gewünscht. Unter den entsetzten Ausrufen des Königspaars und der Gäste war sie aus dem Saal gerauscht und bis zum jetzigen Tag nicht mehr gesehen worden. Die zwölfte Schwester, die ihren Wunsch für die Prinzessin noch nicht ausgesprochen hatte, wollte die bösen Worte mit ihren eigenen mildern und wünschte, dass sie lediglich tief schlafen und durch den Kuss der wahren Liebe zu wecken sein sollte. Auch sollte die Gefahr durch den Rosendorn nicht ein Leben lang bestehen, sondern nur bis zu ihrem 20. Geburtstag – vorausgesetzt, sie sei bis dahin vermählt.

In der Folge wurden sämtliche Rosenbüsche im Schlossgarten ausgerissen und ein Gesetz erlassen, das jedem Bürger des Landes die Zucht dieser Pflanzen untersagte. Allerdings gab es einen Ort im Königreich, an dem die Rosen wohl ungehindert wuchsen und wucherten: Den verbotenen Turm. Man hatte sogar versucht, das Gebäude einzureißen, doch die Pflanzen schienen es zu beschützen und verhinderten, dass man das Gemäuer erreichte. Einige Menschen munkelten deshalb, die dreizehnte Schwester der Königin lebe in diesem Turm.

Die Bewohner des Landes schätzten ihren König und ihre Königin, und sie mochten die kleine Prinzessin sehr, weshalb sie den Aufwand gern betrieben und sich sogar als Liebhaber von ihren Rosen trennten. Nichtsdestotrotz prägte der Volksmund Rosas Kosenamen, Dornröschen. Sprach man ihn auch nie mit böser Zunge aus, so wurde er von Rosas Eltern wenig geschätzt und in ihrer Gegenwart besser nicht verwendet. Nicht nur sahen sie in ihrer Tochter keine Rose mit Dornen, sie befürchteten außerdem, dass der Fluch von dieser Bezeichnung gewissermaßen genährt wurde.

Prinz Edward kannte die Prophezeiung natürlich. Ebenso gut kannte er die in ihn gesetzte Hoffnung. Er würde niemanden enttäuschen wollen, dem er sich verbunden fühlte. Vor allem nicht Rosa.

Mit einem Seufzen legte sie sich auf den Brunnenrand und ließ einen Fuß im Wasser baumeln, während ihre Finger Bahnen über die Oberfläche zogen. Ob Edward sich tief in seinem Inneren so elend fühlte wie sie, überlegte sie, oder ob ihm sein Pflichtbewusstsein derlei Gedanken von vornherein verbot. Mehrfach hatte sie darüber nachgegrübelt, warum er sie nicht schon eher gebeten hatte, seine Gemahlin zu werden, sondern es kurz vor Ablauf der Frist tat, welche die zwölfte Fee mit ihrem Wunsch gesetzt hatte.

Sie wollte nicht, dass er um ihre Hand anhielt, weil man es von ihm erwartete. Diese Bürde sollte er nicht tragen. Anders wäre es, wäre da wahre Liebe.

Aus wahrer Liebe zu Edward würde Rosa am Abend das hellrote oder gelbe Kleid tragen. Doch sie wollte das nachtblaue anziehen. So gern. So unbedingt. Aus wahrer Liebe zu Gabriel.

»Ich wette, Ihr findet diese Veranstaltung so amüsant wie ich.«

Das waren Gabriels erste Worte an sie gewesen. Rosa hatte sich nicht sofort umgewandt, sondern seine Stimme in ihr nachhallen lassen. Sie klang so gut, so warm und klar. Nicht neckend, gar nicht albern. Und sie weckte ihre Hoffnung, dass jener Abend noch nicht verloren und bis zu seinem Ende der Langeweile verschrieben war. Den zur Stimme gehörenden Mann stellte sie sich blendend schön vor – so schön wie Edward. Groß, schlank, erhaben, stattlich.

Groß, schlank, erhaben und stattlich – das war er. Blendend schön, das war er nicht. Dennoch hatte ihr Herz beim ersten Blick auf ihn einen aufgeregten Galopp eingeschlagen, und es schlug nur wilder, je länger sie ihn ansah. Sein Haar war dunkel und viel kürzer als es gerade modern war. Eine seiner Brauen war von einer Narbe geteilt, eine zweite Narbe saß auf seiner linken Wange, eine dritte verlief quer über sein Nasenbein. In seiner anderen Wange befand sich ein Grübchen, das tiefer geworden war, als er gelächelt hatte. Seine Augen waren schmal und grün, prinzipiell nicht ungewöhnlich. Erst sein Blick war es gewesen, der sie ungewöhnlich machte: Neugierig, aber auch herausfordernd, aufgeschlossen, aber auch abwartend. Nicht nur ihre Reaktion auf seine Vermutung schien er abgewartet zu haben, sondern vielmehr, ob sich eine andere, viel umfassendere Ahnung bestätigte.

In ihrem Gespräch war Rosa bewusst geworden, dass er Prinz Gabriel und somit der Sohn eines wenig geschätzten Nachbarregenten ihrer Eltern war. Seit mehr als einem Jahrhundert gab es Fehden zwischen den Staaten, die zumeist verbal ausgetragen wurden. Beließ man es aktuell gar bei einer gewissen Ignoranz des ungeliebten Nachbarn, so hatte man sich in früheren Jahrzehnten gelegentlich doch auch die Köpfe eingeschlagen. Für einen Moment hatte Rosa gezögert, doch dann beschlossen, Gabriel trotzdem kennen zu lernen.

Er hatte dieselbe Absicht.

Immer wieder war Gabriel an diesem Abend an Rosas Seite aufgetaucht, um ihr kleine Fragen zu stellen und ihre kleinen Fragen im Gegenzug zu beantworten, was sich zu einem prickelnden Spiel entwickelt hatte. Ob sie den Tag schöner fände als die Nacht. Ob sie lieber Kuchen esse oder Braten. Ob sie roten Trauben den Vorzug vor weißen gäbe. Ob sie gern Ausflüge zu Wasser oder doch eher zu Land unternähme. Also hatte sie ihn wissen lassen, dass sie die Nacht liebte, weil sie so gern in den Sternenhimmel schaute. Dass sie lieber Braten aß und Zucker nichts abgewinnen konnte. Dass sie die weißen Trauben wie auch den weißen Wein bevorzugte. Dass mit der richtigen Person an ihrer Seite Ausflüge sowohl zu Wasser als auch zu Land unvergesslich schön sein würden. Hingegen hatte er ihr auf ihre Erkundigungen gestanden, dass er lieber ein Buch las, als dass er sich ein Theaterstück anschaute. Dass er keine Farbe so sehr mochte, wie das der blauen Stunde, der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Nacht. Dass er einen Bergsee sehr viel inspirierender fand als einen Ozean. Bei Letzterem hatte sie mit der anderen Antwort gerechnet und nachgehakt.

»Stille Wasser sind tief«, hatte er daraufhin gesagt und mit einem Zwinkern »… und schmutzig«, angefügt. Mit einem wissenden Schmunzeln auf den Lippen hatte er ihre Hand genommen, einen Kuss darauf gehaucht und sich verabschiedet, nicht jedoch, ohne ihr anzukündigen, dass er sie wiedersehen würde.

Er hatte nicht darum gebeten, es zu dürfen, nicht sichergestellt, dass sie dies überhaupt wolle. Er hatte es einfach für sie beide beschlossen … und sie wiedergesehen. Dies nur drei Tage später.

Ihre Zofe hatte er bestochen, damit sie ihm seine Nachricht überbrachte.

Wie ein Dieb war Rosa, drei Tage lang von Unruhe geplagt, aus dem Schloss geschlichen und zu einem nahen Weiher geeilt, an dessen Ufer ein Pavillon stand. Gar nicht schnell genug hatten ihre Füße laufen können, und sobald sie ihn auf den Stufen des Pavillons hatte sitzen sehen, war sie von unbändiger Freude und einem sonderbaren Glücksgefühl ergriffen worden. Er war aufgestanden, um ihr entgegenzukommen, woraufhin sich dieses Gefühl mit der Geschwindigkeit eines Orkans in ihr ausgebreitet und sie zu noch mehr Eile angetrieben hatte. Eigentlich hätten sie gegeneinander prallen müssen, doch sie waren dicht voreinander stehen geblieben; jäh und als habe ein unsichtbarer Wall sie gestoppt. Wie eine letzte Hürde, vielleicht auch eine in diesem Moment bedachte Warnung, dass mit der ersten Berührung alles anders werden würde. Rosa war von seinem Blick gefangen genommen geworden, vom Lauf noch schwer atmend und von den immer aufgeregter durch ihre Brust flatternden Schmetterlingen völlig aus dem Konzept gebracht. Sie hatte Prinz Gabriel angesehen und festgestellt, dass ihr Verstand völlig verrückt spielte. Der hatte ihr nämlich weismachen wollen, dass der Mann ein Fremder war und noch dazu einer, der nicht gern an ihrem Hof gesehen werden würde. Doch Rosas Herz, ihr Geist und ihre Seele hatten in ihm den Menschen erkannt, der denselben wachen Verstand und den gleichen Anspruch an Fantasie besaß wie sie. Er war jemand, der nicht an Oberflächlichem Gefallen fand, sondern die schönsten Dinge des Lebens in scheinbaren Belanglosigkeiten entdeckte. Er besaß das gleiche Feingefühl für Sprache, würzte sie gern mit Ironie und Zweideutigkeiten, die viele andere nicht verstanden.

Dass solche Dinge wie Ehre und Pflichtgefühl für ihn einen ähnlichen Stellenwert besaßen wie für Edward, davon war Rosa nicht ausgegangen. Ein Teil von ihr hatte schon damals befürchtet, dass sein Mangel an diesen Eigenschaften ihr ein Verhängnis werden könnte – doch für diesen Moment und für viele weitere spielte das keine Rolle.

Als habe jemand mit dem Finger geschnippt, war jener unsichtbare Wall zwischen ihr und Gabriel verschwunden. Tatsächlich waren sie gegeneinander geprallt. Er hatte sie in seine Arme gezogen und sie ihn in ihre. Ihr Kuss war hart gewesen und von Beginn an tief, doch genau so hatte es sich richtig angefühlt.

Der Gedanke, Gabriel zu küssen, sandte noch jetzt ein Prickeln über Rosas Lippen. Sie hob die Hand aus dem Wasser und strich über ihren Mund. Sie wollte ihn wieder und wieder küssen. Kaum etwas anderes war je so gut gewesen wie sein Kuss. Kaum etwas … außer … Die Erinnerung an die Sache, die sogar noch besser gewesen war, sorgte nicht nur für ein Prickeln auf ihren Lippen, sondern versetzte ihren ganzen Körper in Aufruhr. Die Bilder in ihrem Kopf waren so lebendig und bunt, seine Worte in ihrem Ohr so klar und deutlich, als geschähe es alles gerade wieder. Dabei sollte es doch nie mehr geschehen.

Sie hatten am Weiher gelegen. Gabriel hatte ihren Zopf gelöst und, über sie gestützt, ihr blondes Haar wie Strahlen um ihren Kopf ausgebreitet. Zufrieden mit seinem Werk hatte er sie betrachtet und ihr gesagt, dass sie seine Sonne sei, weil sie Licht in jeden noch so düsteren Winkel seines Ichs sandte. Darauf war er neben ihr ins Gras gesunken, um mit ihr Luftschlösser zu bauen, in die nur sie beide einziehen würden. In fremde Städte wollten sie reisen und deren regennasse Straßen bei Nacht erkunden. In einer Hütte am Meer wollten sie einen Sommer verbringen und sich in einem Boot dahin treiben lassen, wohin das Wasser sie trug. In einem Garten wollten sie Obstbäume pflanzen und darin tanzen, wenn die Triebe ihre Blüten verloren. Sie träumten und lachten und manchmal diskutierten sie auch, und als sich Rosa auf die Seite drehte, um ihn anzuschauen, berührten sich ihre Hände. Sie legten ihre Fingerspitzen aneinander und konnten sie spüren, die Magie, die zwischen ihnen ausgetauscht wurde. Wie eine Welle breitete sie sich aus und überrollte sie einfach.

Rosa konnte nicht sagen, wie viele Male sie ihn über die Dauer von vier Jahreszeiten getroffen hatte, doch die Einzelheiten zu jedem einzelnen Mal würde sie nie vergessen. Bestimmte Worte, Blicke, ein Lächeln, ein Kuss, eine Berührung. Auf ewig waren diese Bilder in ihr eingebrannt.

 

Im Weiher bei strömendem Regen. In frisch gefallenem Herbstlaub. In ihre Mäntel eingehüllt im Pavillon, um den herum Schneeflocken tanzten. Verborgen in hohen Gräsern, deren Spitzen vor der Kulisse des azurblauen Himmels wippten. Aus ihrer Hülle hatte er sie geschält, sie verführt und gespürt, gekostet und erkundet. Für sich beansprucht, verwöhnt, berauscht und besessen.

Eine Träne kullerte über Rosas Wange, über ihren Hals und in ihren Nacken. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, weil sie das Gefühl hatte, ihr Herz würde anderenfalls vor Sehnsucht herausspringen. Es war, als hätten seine Hände Spuren auf ihrer Haut hinterlassen, die niemals verblassen würden; so intensiv konnte Rosa sie noch nachempfinden. Berührt hatte er sie – in vielerlei Hinsicht und an Stellen, die vor ihm nie für eine Berührung in Frage gekommen wären. Seine Lippen waren auf ihren Brüsten gewesen; spielerisch, neckend und liebevoll. Seine Zähne an ihrem Ohrläppchen, an ihrem Hals. Seine Hände, so stark und doch sanft, ganz wie er wollte. Durch ihr Haar waren sie besonders gern gefahren, ihren Körper hatten sie erkundet und manchmal hatte er ihr den Mund damit verschlossen, um ihr Keuchen, ihre heiseren Schreie zu dämpfen. Sein Griff, so fest und bestimmend, so fordernd, so gar nicht genug von ihr bekommend. Sein Mund und seine Zunge und seine Finger in ihrer Spalte; schmeckend und sie an den Rand des Wahnsinns treibend. Wie auch sie ihn in den Wahnsinn getrieben hatte, mit ihren Händen und ihrem Mund. Nur zu genau wusste sie noch, wie sich die Wölbungen seiner Muskeln und seine warme Haut anfühlten. Gleichermaßen präsent war sein Geschmack auf ihrer Zunge, ihrem Gaumen; das Salz seines verschwitzten Körpers und die Süße seines Saftes, den sie getrunken hatte.

Sie hatten nicht experimentieren müssen, nicht probieren, sich nicht antasten, sondern vom ersten Mal an zueinander und ineinander gepasst. Als seien ihre Körper füreinander geformt worden, als seien sie dazu bestimmt, mit jeder Vereinigung ein bisschen mehr zu einer Einheit zu verschmelzen. Tief in ihr war er gewesen – auch dies auf mehr als nur eine Weise.

Drei Wochen war es her, dass Rosa von Edwards Plänen erfahren hatte. Nachdem der Schreck verklungen war, hatte sie sich Gabriel offenbart. Nein, von Edwards bevorstehendem Antrag hatte sie ihm ebenso wenig erzählt, wie von dem Fluch, der angeblich auf ihr lastete.

Möglicherweise gehörte es sich nicht für eine Frau, diese Worte als erstes auszusprechen, erst recht nicht für eine ihres Standes, doch solch allgemeingültige Werte und Regeln waren für sie und Gabriel nie von Bedeutung gewesen. Beim Geständnis ihrer Liebe war sie sich sicher gewesen, er würde es erwidern, doch während seine Mimik, sein Verhalten, wie er mit ihr sprach, sie berührte und sie ansah ein ganzes Jahr lang Bände gesprochen hatten, schafften es die dazugehörigen Worte im entscheidenden Moment schlichtweg nicht über seine Lippen. Im Gegenteil. Gabriel wurde zornig, verstrickte sich in Ausflüchten und vagen Formulierungen, warf ihr am Ende sogar vor, den Zauber ihres Zusammenseins zunichte gemacht zu haben.

Gleichermaßen aufgebracht hatte Rosa ihn aufgefordert, kein Feigling zu sein und zu seinen Gefühlen zu stehen.

»Wenn du nichts fühlst, wer bin ich dann für dich?« Ihre Stimme hatte gebebt bei dieser Formulierung. »Eine Hure?«

Kurze Zeit hatte er betroffen gewirkt, jedoch gleich wieder verärgert reagiert. »Sag das nie wieder! Du weißt genau, was ich an dir schätze …«

Was er an ihr schätzte!? Das war es nicht, was sie hatte hören wollen, also war sie vor ihn getreten, hatte die Schultern gestrafft und ihm in die Augen geblickt. »Wenn es denn so ist und du nichts von dem fühlst, was ich fühle, dann sag es mir!«, hatte sie ihn aufgefordert, »Sag mir, dass du mich nicht liebst!«

Ohne ihrem Blick auszuweichen, hatte er die Knöpfe seines Hemdes geschlossen. Mit zunehmender Furcht hatte sie beobachtet, wie das Grün seiner Augen kühler wurde. Da war ein Zucken um seinen Mund gewesen, als wolle er sprechen, doch er schien sich die Worte noch einmal neu zurechtgelegt zu haben. Bevor er sie aussprach. »Ich liebe dich nicht.«

Rosa war vor ihm zurückgewichen, verwirrt, entsetzt, zutiefst verletzt und angewidert. Seinen Blick festhaltend, hatte sie gewartet, dass er noch etwas sagte, seine Worte zurücknahm, doch er schwieg, und die Distanz zwischen ihnen wurde größer. So viel Überwindung hatte es sie gekostet sich umzuwenden. Losreißen hatte sie sich müssen, aber sobald es geschafft war, war sie losgelaufen. So schnell ihre Füße sie stets zu ihm getragen hatten, so schnell brachten sie sie von ihm fort.

Rosa hatte die Zeit am Brunnen vergessen, war recht spät zurück ins Schloss gekommen und musste die Vorbereitungen nun mit Eile erledigen. Ihre Zofe schimpfte, weil sie wegen ihrer Bummelei ihr Haar vielleicht nicht schön genug würde frisieren können, doch Rosa winkte ab. »Ich werde es offen tragen.«

Die Zofe warf ihr einen verwunderten Blick zu, doch wagte sie nichts entgegenzusetzen. Zur Wahl des Kleides konnte sie allerdings nicht still sein. »Aber wir haben Prinz Edward doch ausrichten lassen, dass Ihr das Zitronengelbe tragt«, sorgte sie sich.

»Na und?« Rosa holte das nachtblaue Kleid selbst und hielt es der Zofe hin, damit sie ihr hineinhalf. »Es ist nicht davon auszugehen, dass Edward deshalb in Zitronengelb erscheinen wird.«

Die Zofe kniff die Lippen zusammen, schwieg und hübschte die Prinzessin für den Ball auf, zu dem zahlreiche Könige, Fürsten und Herzoge geladen waren.

Da Rosas Vater neuerdings friedliche Interaktionen mit Gabriels Vater anstrebte, war auch eine Einladung an den doch so wenig geschätzten Nachbarn versendet worden, die dieser angenommen hatte. Dass Gabriel an diesem Abend anwesend sein würde, hatte Rosa zuerst mit Furcht erfüllt, später jedoch eine leise, eine nur ganz winzige Hoffnung in ihr aufkeimen lassen.

Dass sie zu ihm gehörte, daran würde sie ihn durch das Tragen seiner Lieblingsfarbe erinnern, ihn so aber außerdem wissen lassen, dass sie stärker war als er, denn sie lebte ihre Gefühle. Für sie war es etwas Gutes, dass sie da waren, denn was sie und ihn verbunden hatte, wäre niemals so grandios und so voller Erfüllung gewesen. Ohne Gefühle.

Dieser Abend war Gabriels letzte Chance, sich zu besinnen und zu dem zu stehen, was er in sich spürte. Wollte er allerdings den Feigling, der ihn bisher davon abhielt, weiter hinter der Maske des Eisklotzes verstecken, würde Rosa Edwards Antrag annehmen – mit endgültig gebrochenem Herzen zwar, doch dann würde es an der Zeit sein, dass sie die Heilung beginnen ließ und Gabriel vergaß.

Er hätte ihren perfekten Tanzpartner abgegeben, denn sein Umhang und Wams waren von derselben Farbe wie ihr Kleid, schwarz die Hose und Stiefel, weiß das Hemd. Dies alles ohne Absprache. Allein diese Tatsache sollte ihn zum Nachdenken bringen, doch er wirkte weder sonderlich nachdenklich, noch anderweitig gerührt und, von der steif ausgefallenen Begrüßung abgesehen, ignorierte er sie. Das schmerzte.

Wie konnte er nur … Wie konnte er nur …, war alles, was Rosa zu denken imstande war, und so musste sie sich Mühe geben, nicht zu weinen, als Edward sie zum ersten Menuette aufforderte. Er hatte keine Tränen verdient, sondern das Lächeln, das er von ihr gewohnt war. Ihre Mundwinkel nach oben zwingend, begleitete sie ihn zwischen andere Paare auf die Tanzfläche.

Er hatte sich für ein dunkelrotes Ensemble entschieden, das ihm zwar hervorragend stand, zu dem Rosas hellrotes Kleid allerdings um einiges besser gepasst hätte. Das nachtblaue harmonierte leider gar nicht damit, und manch verwunderter Blick glitt über sie beide. Einige Gäste steckten die Köpfe zusammen, tuschelten und fragten sich, wieso keine Absprache stattgefunden hatte. Edward bemerkte es ebenfalls, doch er machte ihr keinen Vorwurf, sondern ein Kompliment an ihren Liebreiz.

Beim dritten Paartanz entdeckte Rosa Gabriel und eine ihr unbekannte Hofdame. Sie drehten sich über das Parkett und lachten ausgelassen – als hätte er nicht die geringste Sorge, als verspüre er nicht den kleinsten Schmerz, sie gehen gelassen zu haben. Die in Rosa aufwallende Eifersucht war nicht niederzukämpfen, und am liebsten wollte sie hinüberlaufen, um diese scheußlich rothaarige Frau von ihm fortzustoßen.