Loe raamatut: «Auch eine Rosine hat noch Saft»
Zeitzeugen
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Auch eine Rosine
hat noch Saft
von
Luise Lunow
oder
80 Jahre zwischen Ost und West, Bomben und Theater
»Einmal am Tag freut man sich,
dass man am Leben ist und noch nicht tot.
Das ist ein unwahrscheinliches Kapital.«
Thomas Bernhard
Inhalt
Kopfüber ins Leben
Es wird dunkel in unserer Stadt
Die Russen kommen
Frieden
Familie
Erna – ein Leben ohne Beine
Der gelbe Stern
Geborgenheit
Ein Spatz, ein Dorf und andere Begebenheiten
Vater
Meine Mutter
Gestörte Träume
Verliebt
Ein Paar rosa Spitzenschuhe
Schock
Kunst im Doppelpack
Pendeln zwischen Ost und West
Riskante Begegnung
Endlich Schauspielerin
Theaterleben
Nach Schwerin ans Staatstheater
Schwierige Zeiten und Neustart
Die Mauer
Gekreuzte Lebenspläne
Neue Erfahrungen
Maxim-Gorki-Theater
Atmosphären
Blick nach drüben
Kontrollierter Urlaub
Fahrrad-Klau in Westberlin
Ferien
Auschwitz
Stahnsdorf
Katzen
Kurioses
Traumwohnung – mit Schönheitsfehler
Leben
Manche Seefahrt, die ist lustig
Harter Entschluss
Abschied
Westberlin
Ankunft
»Wahnsinn«
Neustart
Lehrstunde: Paris
Theater – Theater
Praxis mit Vergangenheit
Publikumsrenner
Kater Moritz
Unheilbar deutsch
Die im Dunkeln sieht man nicht
Drei Fragezeichen und ein Enkelschreck
Fazit
Kopfüber ins Leben
Immer, wenn ich als Kind den Hasensprung durchquerte, einen schmalen Weg, der zwei edle Wohngegenden in Berlin-Grunewald miteinander verbindet, habe ich auf die prachtvollen, parkähnlichen Gärten der Villen rechts und links geschaut, die, durch hohe Zäune gesichert, kaum einen Blick auf die dahinterliegenden Seen freigaben. Ich lief mehrmals wöchentlich nach kurzer S-Bahn-Fahrt zu meiner Tante Alice, die nicht in einem dieser wunderschönen Häuser rund um die Seen wohnte, sondern in einem der kleinen einfachen Siedlungshäuser in der Reinerzstraße, wo es sich in den Gärten voller Apfel- und Kirschbäume, Sträuchern mit Johannisbeeren und vielen bunten Blumen so wunderbar spielen ließ. Mitten im Hasensprung überspannte eine kleine Brücke ein schmales Fließ zwischen Königs- und Dianasee, auf der zwei springende Hasen rechts und links dem Weg seinen Namen gaben.
Nie hätte ich geglaubt, dass ich einmal in einem dieser Häuser am See wohnen würde, und wenn ich heute an meinem Fenster stehe und an sonnigen Tagen die Schwäne auf dem Königssee beobachte, ist dieser Blick fast kitschig schön, beinahe unwirklich und macht mich traurig und glücklich zugleich. In der Großstadt Berlin, nur einen Kilometer vom Ku'damm entfernt, mit so einem Ausblick wohnen zu dürfen, halte ich für ein ganz besonderes Geschenk in meinem Leben, das mir keineswegs in die Wiege gelegt wurde.
Aber – ich bin ein Sonntagskind. Allerdings war es ein Sonntag, der 13., als ich geboren wurde, und so geht es in meinem Leben stets zu, wie auf einer Achterbahn, mal rauf, mal runter und um äußerst gefährliche Kurven. Eben stehe ich noch glücklich in der Sonne, platsch, liege ich in der Pfütze und versuche verzweifelt zu schwimmen. Meine Mutter hat sich während ihrer Schwangerschaft mit mir fast nur von Apfelsinen ernährt und so wurde ich ein Apfelsinenkind, voll südlicher Sonne, heiter, optimistisch und mit großer Lebensfreude. Auch ein bisschen von der kindlichen Naivität ist mir durch all die Jahre erhalten geblieben und der unerschütterliche Glaube an das Unerwartete, das Schöne, das Besondere, das im Leben immer noch kommen könnte …
Schon als Baby im Kinderwagen war ich neugierig auf die Welt und beobachtete mit großen Augen alles, was um mich herum geschah.
Kaum konnte ich laufen, bestand ich darauf, allein zum Bäcker zu gehen und die morgendlichen Schrippen zu holen. Begegnete ich dabei Nachbars Schäferhund, bot ich ihm ein frisches Brötchen aus meiner Tüte an, doch er leckte es nur ab und ließ es fallen, sodass ich es enttäuscht wieder aufhob und zum Frühstück nach Hause brachte.
Geboren wurde ich in Nowawes. Wo das liegt? Zwischen Potsdam und Berlin und es trägt heute den schönen Namen Babelsberg. Friedrich der Große siedelte dort Mitte des 18. Jahrhunderts böhmische Weber mit der Heimatsprache Tschechisch an und nannte es Nowa wes, also »Neues Dorf«. Als kleiner Vorort – dicht angeschmiegt an Potsdam, unmittelbar neben Berlin – trug er fast 200 Jahre bis 1938 diesen Namen und besitzt neben einem prächtigen Rathaus und vielen alten Weberhäuschen einen wunderbaren naturbelassenen Park mit einem verwunschenen Schloss und das berühmte Filmgelände der ehemaligen UFA.
Wir bewohnten dort fernab von allem Glimmer nur eine schmale Stube mit einer nicht beheizbaren Kammer im oberen Stockwerk eines kleinen, zweistöckigen Hauses in der schmalen Gasse Bäckerstraße Nr. 5. Und in dieser Stube erblickte ich das Licht der Welt. Nun ja, von Licht kann man allerdings kaum reden, denn es bestand nur aus einer schwachen Glühbirne, die meine Geburt beleuchtete. Doch ich kämpfte mich tapfer aus dem warmen Bauch meiner Mutter kopfüber hinaus, begrüßte nach stundenlanger harter Arbeit die Welt mit einem hellen Jubelschrei und wurde ihr in die liebevollen Arme gelegt, von denen ich mich zeitlebens gewärmt und beschützt fühlte. Die ersten vier Jahre verbrachte ich in dieser engen, kalten Wohnung im Dachgeschoss, wollte unbedingt in den Kindergarten gleich nebenan, um mit den vielen Kindern zu spielen, packte dort aber bereits am ersten Nachmittag meine Sachen wieder zusammen, nahm meine Mutter an die Hand und sagte fest entschlossen: »Hier gehe ich nie wieder hin, hier ist es doof, hier müssen alle Kinder stillsitzen!« Ich musste auch nicht, denn meine Mutter war wie mein Vater arbeitslos und freute sich darauf, den Tag mit mir verbringen zu können. Es war die Zeit der großen Arbeitslosigkeit und mein Vater, ein gelernter Lackierer, durfte sich wöchentlich ganze fünfzehn Mark für seine Familie von der Stempelstelle abholen. Zwar versuchte meine Mutter unsere Haushaltskasse etwas aufzustocken und ging so oft wie möglich putzen, aber auch das brachte nur wenige Mark ein und half kaum, unsere beständige Geldnot zu verringern.
Doch trotz allem war ich ein gewünschtes, geliebtes und glückliches Kind. Meine Mutter häkelte mir aus bunten Wollresten hübsche Kleider und verwöhnte mich mit ihrer grenzenlosen Liebe. Ihr Schrecken war groß, als ich einmal ausnahmsweise allein auf dem Hof spielte, ein Schwein aus der benachbarten Schlachterei ausbrach und auf mich los stürmte. Ich lief schreiend davon und brach mir beim Hinfallen den Arm. Obwohl ich erst zwei Jahre alt war, kann ich mich noch gut daran erinnern.
Auch den Besuch meiner Großeltern zu dieser Zeit habe ich nicht vergessen. Die Eltern meines Vaters, »Russland-Oma« und »Russland-Opa«, lebten zu dieser Zeit in Moskau und brachten mir wunderschöne rot-golden bemalte Teller aus Holz und Matrjoschkas mit – das waren kleine, ineinandergesteckte Holzpuppen, die lustige Gesichter hatten und jahrelang zu meinem liebsten Spielzeug gehörten. Mein Großvater war 1930 aus der bedrückenden Arbeitslosigkeit einem Angebot aus der noch jungen Sowjetunion gefolgt, die dringend Facharbeiter suchte, und arbeitete dort als Maschinen-Spezialist. Er hatte seine Frau und das jüngste von ihren fünf Kindern, die 17-jährige Tochter Lotte, mitgenommen, ein hübsches, intelligentes, aufgeschlossenes Mädchen, das schnell mit ihm zusammen die russische Sprache erlernte, Arbeit bekam und sich in Moskau bald sehr wohl fühlte. Meiner Großmutter dagegen fiel das Umgewöhnen schwer; sie sperrte sich gegen die fremde Sprache und das ungewohnte Leben, blieb zu Hause, bekam keinen Kontakt zu Nachbarn oder Kollegen und sehnte sich voller Heimweh immer nur nach Deutschland zurück …
Ein schreckliches Unglück beendete wenige Jahre später schneller als geplant den Aufenthalt meiner Großeltern in Moskau. Sie hatten dort eine für damalige Verhältnisse sehr komfortable Wohnung mit Bad und Gas-Durchlauferhitzer. Eines Abends – sie schliefen im Nebenzimmer – hatte Lotte noch gebadet. Die Gasflamme war aber aus irgendeinem Grunde erloschen und während sie badete, strömte das Gas aus; sie wurde bewusstlos und ertrank in der Wanne. Als ihre Eltern sie ein paar Stunden später entdeckten, konnte ihr niemand mehr helfen.
Meine Großeltern hat dieses Unglück völlig aus der Bahn geworfen. Sie kehrten sofort nach Deutschland zurück, obwohl die Nazis inzwischen an der Macht waren und mein Großvater als ehemaliger Stadtverordneter der KPD in Babelsberg unter ständiger Kontrolle stand und sich regelmäßig bei der Polizei melden musste.
Innerhalb weniger Jahre verloren sie auch ihr zweites Kind, ihren Sohn Otto. Er war Anfang 30, charmant, begabt, sehr gut aussehend und äußerst beliebt. Er hatte einen guten Beruf, ging gern aus, verführte hübsche Mädchen und war voller Lebenslust. Plötzlich begann er sich im Wesen zu verändern. Er machte großartige, unsinnige Einkäufe, gab Bestellungen für Dinge auf, die er nie bezahlen konnte. Die unbezahlten Rechnungen stapelten sich, doch er ignorierte sie einfach und war völlig ohne Schuldgefühl. Er machte wertvolle Geschenke an Freundinnen und Freunde – bis eines Tages die Gerichtsvollzieher kamen. Meine Großeltern hatten während der ganzen Zeit verzweifelt versucht ihm zu helfen, aber es war völlig aussichtslos, und so mussten sie ihn schließlich wegen Schizophrenie in die Heilanstalt für Geisteskranke in Brandenburg-Görden einweisen lassen. Sie hofften dabei fest auf seine baldige Rückkehr in ein normales Leben. Aber nur wenige Monate später wurde ihnen die Asche ihres Sohnes übergeben mit der lakonischen Mitteilung, er sei plötzlich an einer »Lungenentzündung« gestorben. Kurz darauf erfuhren sie von einem befreundeten Pfleger, dass er – wie so viele seiner Leidensgenossen – ein Opfer der Euthanasie geworden war, der Massentötung der Nazis von »unwertem« Leben. Seine Asche wurde auf dem dortigen Friedhof beigesetzt. Meine Großmutter und ich haben später oft sein Grab besucht. Bis zum Ende ihres Lebens litt sie darunter, dass es ihr nicht gelungen war, ihre beiden Kinder besser zu beschützen.
Als ich vier Jahre alt war, zogen wir in eine größere Wohnung – zwei Zimmer und Küche, allerdings ohne Bad und die Toilette eine halbe Treppe höher auf dem Außenflur – in der Heinrich-von-Kleist-Straße Nr. 11. Mein Vater hatte in der Lokomotiv-Fabrik Orenstein & Koppel endlich wieder Arbeit als Lackierer gefunden. Wir wohnten nun in einem großen Mietshaus mit vielen Kindern und zwei Aufgängen für 17 Familien. Der rechte Aufgang hatte die größeren und besseren Wohnungen mit Bad und Balkon; wir wohnten in den billigeren Wohnungen im Seitenaufgang links, zweiter Stock. Besitzerin war die alte, sehr strenge Frau Knoop in der ersten Etage im Vorderhaus, vor der wir uns alle fürchteten, die nicht duldete, dass wir Kinder im Hof spielten und streng darauf achtete, dass wir im Treppenhaus ruhig und gesittet die Treppen benutzten, was uns aber – wenn wir uns unbeobachtet fühlten – nicht daran hinderte, die Treppengeländer hinunterzurutschen und dabei einen ohrenbetäubenden Lärm zu veranstalten. Zu ihr trug ich an jedem 1. des Monats die 24,– Mark Miete, die sie würdevoll in unserem Mietbuch quittierte.
Über uns lebte im 3. Stock die noch junge, aber unglaublich dicke Frau Thomas mit ihren beiden Kindern. Sie konnte nur sehr selten ihre Wohnung verlassen, weil sie die vielen Treppen zwar hinunterkam, aber ihren massigen Körper die steilen Treppen nur schwer wieder hinaufschieben konnte. Dabei hatte sie ein sehr hübsches und freundliches Gesicht und einen schlanken, attraktiven Mann, der sie sehr liebte und ihr jeden Weg abnahm, bis er als Soldat eingezogen wurde und sie sich und ihre Kinder selbst versorgen musste. Am Ende des Krieges war sie durch die kärglichen Rationen auf den Lebensmittelkarten und durch die vielen Bombenalarme, bei denen sie gezwungen war, die vier Stockwerke hinunter in den Keller und wieder hinaufzulaufen, gut auf die Hälfte geschrumpft, was sie plötzlich sehr schön machte. Ihr Mann hat das allerdings nicht mehr erlebt; er kam aus dem Krieg nicht zurück.
Daneben wohnte der Milchhändler Sommer mit seiner Frau. Täglich schleppte er die schweren Milchkannen frühmorgens scheppernd durch den schäbigen Hausflur nach oben in den 3. Stock, bevor er sie dann wieder von Wohnung zu Wohnung hinunterbugsierte und die Milch mit Trichter und Messbecher in die bereitgehaltenen Töpfe goss, oft auch das beliebte Leinöl, das zusammen mit Salz und frischen Brötchen noch heute zu meinem Lieblingsessen gehört. Übrigens brachte er auch gleich morgens vom Bäcker die knusprigen Schrippen mit und füllte sie in die an den Türen hängenden Leinenbeutel. Begleitet wurde er dabei immer von seinem Gehilfen Josef, einem leicht debilen, ungepflegten jungen Mann mit strähnigen Haaren, vor dem wir Kinder uns sehr fürchteten. Wenn wir verbotenerweise auf dem Hof spielten, jagte er uns mit seinen gruseligen Grimassen einen so riesigen Schrecken ein, dass wir schreiend auseinanderliefen und uns vor ihm versteckten.
Obwohl kurze Zeit später der Zweite Weltkrieg begann und die Bombennächte kamen, habe ich in diesem Haus eine sehr glückliche und behütete Kindheit verbracht. Von unserer Wohnung blickten wir auf die kleine Straße mit den vielen Rotdorn-Bäumen. Dort spielten wir Kinder Völkerball und Verstecken, liefen zum Baden über die nahen Nuthewiesen zum schmalen, aber mit seiner starken Strömung nicht ungefährlichen Flüsschen Nuthe und nutzten im Winter die überschwemmten Wiesen zum Schlittschuhlaufen. Natürlich hatten wir nicht die entsprechenden Schuhe – ich hatte nur Halbschuhe mit angeschraubten Schlittschuhen, die ich immer wieder verlor –, aber für uns Kinder war das völlig ohne Bedeutung; wir kannten keinen Luxus und fanden unser Leben wunderbar.
Hatte ich Hunger, rief ich: »Mutti, schmeiß mal 'ne Stulle runter!« und Mutti schmierte eine Stulle, wickelte sie in Zeitungspapier und warf sie vom 2. Stock aus dem Fenster.
Ich war ein fröhliches, leicht erziehbares Kind, aufgeschlossen, lernbegierig und neugierig auf alles, was um mich herum geschah. Meine Mutter musste mich nur selten bestrafen und wenn, dann taten es »ein paar hinter die Löffel«, damit ich wieder spurte. Einmal habe ich allerdings eine Tracht Prügel mit dem Teppichklopfer bekommen: Ich war so sechs oder sieben Jahre alt und hatte mit meinen Freunden den ganzen Tag in einem fremden Keller gespielt. Meine Mutter hatte mich stundenlang verzweifelt gesucht und wollte gerade die Polizei einschalten, als ich quietschvergnügt wieder auftauchte. Die Angst und der Frust ließen sie zum Teppichklopfer greifen. Das war die einzige Prügel, die ich wirklich mal bekommen habe, angedroht wurde sie allerdings öfter. Sie hatte aber auch eine nachhaltige Wirkung, denn ich kam später immer zur verabredeten Zeit nach Hause, selbst wenn ich mit meinen Freundinnen zum Tanzen unterwegs war. Ich wusste, dass meine Mutter so lange wach lag, bis sie meinen Schlüssel in der Wohnungstür hörte.
Als ich fünf Jahre alt war, wurde meine Schwester Marianne geboren. Ich freute mich zwar über das neue Baby, aber da ich nicht wie mit eine Puppe mit ihr spielen durfte, erlahmte mein Interesse bald und ich war lieber wieder mit meinen neuen Freunden zusammen. Das blieb auch später so, als wir älter waren. Fünf Jahre Altersunterschied sind schon zu viel, um etwas gemeinsam zu unternehmen. Als ich das erste Mal verliebt war oder tanzen ging, spielte meine Schwester noch mit Puppen. Als sie tanzen ging und ihren ersten Freund hatte, war ich schon ziemlich erwachsen, wohnte in einem eigenen Zimmer bei meinen Großeltern und ging bald in mein erstes Engagement in einer anderen Stadt. So habe ich wenig von ihrer Entwicklung miterlebt. Auch war sie ungeheuer schüchtern und kontaktscheu und wir hatten von Anfang an sehr unterschiedliche Interessen. Während ich schon als Kind Theaterspielen, tanzen, mich verkleiden wollte, war das nicht so ihre Welt; sie war eher sportlich engagiert, spielte mit ihrem Cousin mit Autos oder mit der Eisenbahn, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich eigentlich viel zu wenig über ihr Leben. Das hat sich auch später kaum verändert. Wir sahen und sehen uns selten und haben nur eine sehr lockere Beziehung, was mich immer wieder traurig macht. Ich hätte mich auch sehr gefreut, wenn sie mal in eine meiner Theatervorstellungen gekommen wäre, aber sie hat trotz unzähliger Einladungen keine einzige meiner Vorstellungen besucht. Warum – das konnte ich bis heute nicht ergründen und nun wird es wohl auch nicht mehr oft die Möglichkeit dazu geben. Wir haben noch nie – außer in oberflächlichen Gesprächen – mal ganz in Ruhe über unser Verhältnis zueinander gesprochen, über eventuelle Verletzungen oder Missverständnisse, die vielleicht schon lange zurückliegen und über die nie geredet wurde. Meine Mutter versuchte immer wieder uns einander näherzubringen, aber leider erfolglos. Seltsamerweise ist unsere Beziehung zueinander nach dem Tod meiner Mutter etwas entspannter geworden. Vielleicht spielt uneingestandene Eifersucht eine Rolle? Ich weiß es nicht und werde es wohl bis zum Ende meines Lebens nicht mehr erfahren. So schrecklich viel Zeit bleibt ja nicht mehr.
Als ich etwa acht Jahre alt war, bin ich mit meiner kleinen Schwester gemeinsam in eine äußerst gefährliche Situation geraten und wäre beinahe ertrunken. Ich war ohne Wissen meiner Mutter mit ihr zum Spielen an die Nuthe gelaufen. Wir warfen eine kleine Puppe immer wieder vom steil abfallenden Ufer ins Wasser und zogen sie anschließend an Land, um sie zu retten. Einmal warf ich sie versehentlich etwas zu weit und beim Angeln nach der Puppe rutschte ich ab und fiel in den Fluss. Er war nicht nur durch seine Strömung gefährlich, sondern auch gleich am Ufer ziemlich tief. Meine 3-jährige Schwester lief weinend am Ufer entlang und drohte ebenfalls in den Fluss zu fallen. Ich konnte zu der Zeit noch nicht schwimmen und wäre sicher ertrunken, hätte uns nicht zufällig eine Frau schon einige Zeit besorgt beobachtet und mich in letzter Sekunde – ich war schon mit dem Kopf unter Wasser – an Land gezogen. Völlig geschockt und ohne mich bei ihr zu bedanken, nahm ich meine Schwester an die Hand und rannte klitschnass nach Hause. Dort kam ich bereits wieder trocken an und erzählte meiner Mutter kein Wort von unserem gefährlichen Erlebnis. Traf ich diese Frau dann später auf der Straße, machte ich einen großen Bogen um sie und würdigte sie keines Blickes. Ich hatte immer Angst, dass sie meiner Mutter davon berichten könnte. Der Vorfall war mir ungeheuer peinlich und ich schämte mich sehr.
Es wird dunkel in unserer Stadt
Der Eckladen in unserem Haus gehörte zu einer Bäckerei. Der Bäcker, Herr Fräßdorf, wurde gleich 1939 zu Anfang des Krieges gegen Polen zur Wehrmacht eingezogen und fiel nach nur wenigen Tagen. Als seine Frau die Todesnachricht erhielt, schwang sie sich sofort aufs Fahrrad, um ihren Schwiegereltern das schreckliche Ereignis mitzuteilen. Es war noch Sommer und sie trug ein weißes Kleid. Eine weinende Frau, ein wehendes weißes Kleid auf dem Fahrrad – so hat sich der Beginn des Krieges bei mir eingeprägt.
Auf einmal wurde unsere Stadt stockdunkel. Um feindlichen Fliegern die Orientierung zu erschweren, musste jeder seine Fenster mit schwarzen Rollos verdunkeln, kein Lichtschimmer durfte abends nach außen dringen, die Straßenlaternen wurden abgeschaltet, Autos mussten mit abgedunkeltem Licht fahren. Ein Blockwart – meist ein älterer Mann mit Parteiabzeichen – kontrollierte streng die Einhaltung dieser Vorschriften! Wer dagegen verstieß, musste mit hohen Strafen, ja sogar mit der Todesstrafe wegen »Feindbegünstigung« rechnen. Kein Wetterbericht verriet mehr die Wetterlage in Deutschland, nichts sollte den feindlichen Bombern ihren Weg weisen. Und große Plakate warnten: »Pst – Feind hört mit – Vorsicht bei jeder Unterhaltung!« Das Leben hatte sich verändert.
Auch mein Vater wurde sofort nach Ausbruch des Krieges zur damaligen Wehrmacht eingezogen und kurz danach an die Front geschickt.
Schon bald bekamen auch wir den Krieg zu spüren. Als die Fliegeralarme begannen, war ich mit unserer Nachbarin Frau Gericke immer die erste, die in den Luftschutzkeller lief. Dieses schreckliche Auf- und Ab-Geheul der Sirenen, das ich noch heute im Ohr habe, machte mir ungeheure Angst; ich musste sofort mit Bauchschmerzen aufs Klo eine halbe Treppe höher im Flur und rannte dann mit meinem Köfferchen und meiner geliebten Puppe Christel im Arm runter in den Keller, den ich sonst furchtsam mied, der immer gruselig und dunkel war und nur bei Alarm eine kleine blaue Notbeleuchtung bekam. Noch heute habe ich den muffigen, modrig-kalten Geruch des Luftschutzkellers in der Nase. Er war, wie in den meisten alten Mietshäusern, nur ganz primitiv mit ein paar Balken abgesteift und wenn uns eine Bombe getroffen hätte, so wären sie sicher zusammengeknickt wie ein paar Streichhölzer. Niemals hätten sie die Trümmer unseres dreistöckigen Hauses abfangen können, doch zur Sicherheit gab es noch einen Durchbruch zum Nebenhaus, der zwar notdürftig zugemauert, aber eine Fluchtmöglichkeit für den Notfall war. Ein weißer Pfeil zeigte von außen, an welcher Stelle des Hauses sich eventuell noch Menschen im Luftschutzkeller befinden. Jeder Hausbewohner hatte im Keller seinen Stuhl, seine Decke – denn es war immer eiskalt in dem unbeheizten Keller –, später sogar noch eine Gasmaske und das wichtigste Stück Handgepäck griffbereit dicht neben sich. Ein Eimer mit Wasser, eine Hacke und ein Beil standen ebenfalls am Eingang. Mit einem kleinen Radio verfolgten wir über Drahtfunk mit angehaltenem Atem den Anflug der englischen oder amerikanischen Bomber und meist hieß es: »Die Bombengeschwader befinden sich über dem Raum Hannover-Braunschweig im Anflug auf Berlin.« Worte, die mich vor Angst fast lähmten, niemand im Keller sprach ein Wort, jeder wartete auf das Brummen der näher kommenden Flugzeuge und das Einsetzen der Flak. Wenn dann die »Weihnachtsbäume« abgeworfen wurden, das waren die Leuchtraketen, die die Ziele für die Bomben sichtbar machen sollten und die Stadt taghell erleuchteten, und der Blockwart selbst im Keller Schutz suchte, der von außen die Lage beobachtet hatte und dafür verantwortlich war, dass jeder rechtzeitig den Luftschutzkeller aufsuchte, dann wussten wir, jetzt geht es los …
Es waren 1940 die ersten Bomben auf Berlin und Potsdam, als in Babelsberg in der Nacht vom 21. zum 22. Juni die Post in der Lindenstraße unmittelbar neben dem Krankenhaus getroffen wurde. Jeden Sonntag pilgerten hunderte Menschen aus der ganzen Umgebung dorthin, um diese erste Bombenruine zu sehen. In der Nacht vom 7. zum 8. August im selben Jahr wurden die Bethlehem-Kirche und auch das kleine Häuschen der Familie Zöllner am Neuendorfer Anger getroffen. Ich kannte die Zwillinge Gerda und Günter gut, denn wir gingen zusammen zum Kindergottesdienst. In dieser Nacht war Fliegeralarm gegeben worden und Frau Zöllner war mit ihren Kindern im Luftschutzkeller ihres Hauses, als sie kurz vor die Tür trat, um zu gucken, ob schon Flugzeuge zu sehen wären. In diesem Augenblick fiel eine Bombe genau auf ihr Haus mit den Kindern. Beide waren sofort tot, die Mutter draußen wurde zur Seite geschleudert, blieb aber fast unverletzt. Ich erinnere mich noch wie heute an die Beerdigung der Kinder. »Gerda, Gerda, komm doch zurück und wenn Du nicht kannst, dann Günter« – gellende, verzweifelte Schreie, bei denen ich mir die Ohren zuhielt und die ich nie vergessen werde.
Einmal, nach einem Bombenangriff am Vormittag, ging ich mit meiner Mutter die Großbeerenstraße hinter dem Bahnhof Drewitz entlang. Dort brannten noch die Reste eines Siedlungshauses, das kurz zuvor eine Bombe getroffen hatte. Die Hälfte des Zimmers im ersten Stock stand noch, eine Uhr hing an der Wand und ein Sofa schwebte halb über der zerstörten Vorderwand. Die Mutter wurde tot aus den Trümmern gezogen, während ihr Baby vom Luftdruck in den Garten geschleudert wurde und wie durch ein Wunder unverletzt überlebte. Kurz darauf begegneten wir der 7-jährigen Tochter mit der Schulmappe auf dem Weg nach Hause. Sie ahnte noch nichts von dem Unheil, das sie erwartete. Eine Nachbarin ging ihr entgegen, um sie behutsam auf das schreckliche Ereignis vorzubereiten.
Meine Tante Alice kriegte in einer einzigen Nacht weiße Haare – sie war erst 35 Jahre alt –, als der Luftschutz- und Splittergraben neben ihrem Siedlungshaus in Grunewald einen Volltreffer bekam. Es war der Splittergraben, in dem sie sich sonst immer während der Alarme aufhielt, nur in dieser Nacht war sie nach einer Geburtstagsfeier bei einer Nachbarin im Nebenbunker. Das rettete ihr das Leben.
Nach dem Angriff half sie mir, all ihre toten, entsetzlich verstümmelten Nachbarn aus dem Schutt zu bergen, mit denen sie noch kurz zuvor gelacht und gefeiert hatte.
Während des Krieges mussten wir mit unserer Schulklasse immer wieder in andere Schulgebäude in Babelsberg oder Potsdam umziehen, wo wir – soweit es die Fliegeralarme zuließen – im Schichtbetrieb unterrichtet wurden. Das hieß, je nach Länge des nächtlichen Fliegeralarms begann der Unterricht bei Alarm bis 23 Uhr normal um 8, bis 24 Uhr um 10 und bei Alarm bis 2 Uhr nachts und länger um 11 Uhr mit verkürzten Unterrichtsstunden.
In den letzten beiden Kriegsjahren wurde dieser Unterricht auch noch fast täglich von Tagesalarmen unterbrochen und wir mussten bereits bei »Voralarm« – das waren drei langgezogene Sirenentöne – die meist etwas entfernter liegenden Luftschutzkeller aufsuchen. In den Wochen vor Kriegsende gab es dann schließlich gar keinen Unterricht mehr, denn wir konnten unsere Keller überhaupt nicht mehr verlassen. Schule war unwichtig geworden, jetzt ging es für uns nur noch ums Überleben. Wir Kinder aus diesen Kriegsjahren werden wohl immer mit einem gewissen Defizit an Schulwissen leben müssen – aber reicher als spätere Generationen sind wir sicher an schmerzhafter Lebenserfahrung.
Ich war mit meiner Klasse ab 1942 in Potsdam in der Schule in der Charlottenstraße untergebracht. Für mich war das ein langer Schulweg, den ich mit der Straßenbahn der Linie 4 von Babelsberg in das noch weitgehend unzerstörte Potsdamer Zentrum zurücklegen musste. Ich fuhr über die Lange Brücke durch die schöne Altstadt, vorbei am Schloss und am Palast Barberini, am Kanal entlang und an der beeindruckenden Nikolaikirche bis zum Wilhelmplatz. Bei Voralarm konnten die nahe wohnenden Schüler schnell nach Hause laufen und dort in den Keller gehen, ich aber musste mit anderen in den großen Bunker am Wilhelmplatz. Dort saßen wir verängstigt dicht an dicht in dem völlig überfüllten Luftschutzraum. Noch heute habe ich das durchdringende, fast drohende Heulen der Alarmsirenen nicht vergessen, das dunkle Röhren der anfliegenden Bomber und dazu das ununterbrochene Hämmern der Flak. Uns wurde immer gesagt, wenn du die Bombe heranheulen hörst, dann trifft sie dich nicht. Wie oft haben wir dieses pfeifende Geräusch gehört, den Kopf eingezogen, die Ohren zugehalten und uns auf den Boden geduckt. Dann krachten die Einschläge, der Boden bebte und schwankte wie auf hoher See, die Wände wackelten und wir kannten nur noch ein Gefühl – entsetzliche, hilflose Angst! Jeden Tag Alarme, jeden Tag Bomben und jeden Tag wieder diese Angst – und trotzdem lachten und spielten wir in der Zeit dazwischen, lärmten und zankten uns, streiften durch Ruinen, suchten Bombensplitter als Talisman und waren immer unausgeschlafen.
Ich erinnere mich noch genau an den 14. April 1945, wenige Tage vor Kriegsende, als ein Luftangriff die alte Garnisonstadt Potsdam zerstörte. Es war ein sonniger und schon warmer Frühlingstag und wir sehnten uns danach, endlich wieder draußen spielen zu dürfen, über die Wiesen zu laufen und ohne Angst vor Fliegeralarm und Bomben in der Nacht schlafen zu können. Aber kurz nach 22 Uhr heulten wieder mal die Sirenen und um 22.39 Uhr begann der große Angriff auf die wunderschöne Stadt Potsdam mit all ihren unersetzlichen Kulturdenkmälern. Innerhalb von nur 20 Minuten luden 724 Flugzeuge der Royal Air Force 1752 Tonnen Spreng- und Brandbomben über der Stadt ab.
Unser Haus wogte in Wellen auf und ab, wir lagen auf der Erde, die Decke über den Kopf gezogen, Frau Sommer schrie: »meine Betten, meine Betten!!«, die Schornsteinklappe flog auf, Ruß und Staub drangen heraus, Putz fiel von Decken und Wänden, wir erstickten fast, drückten feuchte Tücher auf unser Gesicht, meine Mutter hielt meine Schwester und mich eng umschlungen, wir alle erwarteten jeden Augenblick das schreckliche Ende. Unerträglich lange erschien uns die Zeit bis die tödlichen Geräusche verebbten und Stille eintrat, Entwarnung … Zitternd schlichen wir vorsichtig aus dem Keller, traten auf der Treppe über zerborstene Fensterscheiben, Kalk und Putz, und waren doch glücklich, dass unser Haus den Angriff überstanden hatte und wir unsere Wohnung im zweiten Stock erreichten. Aus unserem Fenster, das keine Scheiben mehr hatte, sahen wir entsetzt auf die brennende Stadt Potsdam. Qualm und Hitze drangen uns ins Gesicht, wir hörten das knisternde Rauschen der Flammen und dazwischen ständige Explosionen. Alles roch nach Brand und Rauch, grauer Trümmernebel biss uns in Augen, Nase und Mund und machte das Atmen schwer. Aber wir lebten. Mehrere meiner Mitschülerinnen sind bei diesem schrecklichen Angriff ums Leben gekommen, von Trümmern erschlagen und erstickt oder verbrannt von Phosphorbomben.