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»Eins.«

Ich versuche die Arme zu heben, merke aber, dass das nicht möglich ist. Sie sind durch mein eigenes Gewicht blutleer und taub. Nur mit allerhöchster Konzentration schaffe ich es, sie zu bewegen, ohne dass ich es selbst spüre. Das einschießende Blut verursacht einen kribbelnden Schmerz, der sich bis in meine Fingerspitze vorarbeitet.

»Zwei.«

Mir bleibt keine Zeit mehr. Ich schüttele die Hände, um die Blutzirkulation zu beschleunigen und mache mich daran, mich zu entfesseln. Ich will aufstehen, doch bei dem Versuch, gerate ich ins Straucheln, und meine Knie geben nach. Ich packe das Seil, das um meinen Oberkörper gewickelt ist, und reiße es mit all meinen Kräften von mir. Doch es lässt sich nur schwer lösen. Der Fremde hat ganze Arbeit geleistet.

Hämisches Lachen erklingt.

»Drei.«

Ich fingere weiter an dem Seil herum. Mittlerweile ist es so locker, dass ich es über meine Hüfte schieben kann. Nur der Knoten an meinen Fußgelenken macht mir noch Sorgen. Ich riskiere einen kurzen Blick auf meinen Widersacher. Der Knoten hat sich endlich gelöst und ich kann sehen, dass der Mann darüber nicht im Geringsten beunruhigt ist.

»Vier«, flüstert er mit einem breiten Grinsen.

Hektisch reiße ich das Seil von meinen Beinen, stehe auf und strauchele erneut, bis ich mein Gleichgewicht halten kann. Dann laufe ich auf wackeligen Beinen los, ohne mir die Richtung zu überlegen. Hämisches Gelächter folgt mir, und ich will nur noch weg von diesem Irren. Büsche streifen mein Gesicht, die Bäume jagen an mir vorbei. Der Widerhall meiner Schritte lässt mich glauben, dass mein Verfolger unmittelbar hinter mir ist.

Ich schreie kurz auf und zucke im Lauf zusammen, als ein Schuss die Stille zerreißt. Gefolgt von einem siegessicheren Gebrüll.

»Ich kriege dich!«

Mir wird bewusst, dass ich nicht mehr lange durchhalten werde, wenn ich so weiterrenne. Es muss mir irgendwie gelingen, meinen Peiniger abzuschütteln. Ich bleibe im Dickicht stehen und sehe mich suchend nach einem Baum um, auf den ich klettern kann, oder nach einer Senke, in der ich mich unter Moos und Fichtennadeln verstecken kann.

Nun, wo ich mich wieder frei bewege, ist meine Verzweiflung verschwunden. Adrenalin flutet meinen Körper wie eisiges Wasser. Angst habe ich immer noch, doch sie beflügelt mich eher, als dass ich mich resigniert meinem Schicksal ergebe.

Ich laufe weiter, bis ich auf eine Mulde stoße, in die ich mich hineinwerfen und lauschen kann. Mein Atem hört sich wie das Zischen von Schlangen an und droht, meine Kehle zu zerreißen.

Außer dem Sirren der Mücken vernehme ich keinen Laut. Doch nach wenigen Augenblicken höre ich Schritte in der Ferne. Ich blicke vorsichtig aus der Mulde in das Dickicht aus Blaubeersträuchern und Birken. Die Schritte sind jetzt so laut, dass ich den unverkennbaren Widerhall des Waldbodens wahrnehmen kann.

Das Geräusch verstummt, und ich sehe, wie der Mann zwischen den Sträuchern auftaucht, den Kopf in den Nacken legt und die Nase in die Luft hält. Seine Nasenflügel beben, wie bei einem blutgierigen Hund, der Witterung aufgenommen hat. Das Gesicht ist zu einer irrwitzigen Fratze verzogen.

»Ich rieche dich«, säuselt er unverhohlen.

Ich ducke mich. Mein Herz klopft schmerzhaft gegen meine Rippen. Man muss mich meilenweit hören können. Meine Sinne sind aufs äußerste geschärft. Auf der Lauer liegend, sehe ich die Beine in der moskitoresistenten Hose meines Widersachers direkt vor mir stehen. Noch hat er mir den Rücken zugewendet.

Ich zittere. Doch dieses Mal ist es das Adrenalin, das darauf drängt, meinen Kräften endlich freien Lauf zu lassen. Ich warte nicht mehr. In blinder Verzweiflung packe ich die Beine des Mannes und reiße ihn zu Boden. In der nächsten Sekunde werfe ich mich mit wütendem Gebrüll auf ihn. Der Überraschungseffekt ist auf meiner Seite, sodass es mir gelingt, mich auf seine Oberarme zu setzen. Mit aller Kraft und einen hysterischen Schrei ausstoßend, ramme ich dem Kerl meine Faust ins Gesicht. Der Fremde gibt einen Schmerzensschrei von sich und bäumt sich auf, womit ich nicht gerechnet habe. Als würde ich vom Rücken eines Pferdes fallen, lande ich auf der kalten Erde. Beim Versuch mich aufzurappeln drückt der Mann mich mit seinem gesamten Gewicht nach unten.

Ich rieche den Waldboden unter mir und spüre mit Entsetzen, dass sich der Mann an meiner Hose zu schaffen macht. Die Schmerzen meines Schlages scheinen vergessen.

»Weißt du, wie lange es her ist, dass ich gevögelt habe? Da spielt es keine Rolle mehr, ob ich eine Frau vergewaltige oder du dran glauben musst«, keucht er wütend.

Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich wie gelähmt, doch dann nehme ich all meine Kräfte zusammen und versuche mich aufzurichten. In dem Moment merke ich, dass der Mann in seine Jackentasche greift und offensichtlich nach etwas sucht. Sein Gesicht nimmt einen erschrockenen Ausdruck an.

Ich nutze die minimalistische Ablenkung und verpasse meinem Widersacher mit der Handkante einen weiteren Schlag zwischen Schulter und Hals. Er fällt mit schmerzverzerrtem Gesicht zur Seite, sodass ich mich freikämpfen kann. Ich klettere aus der Mulde und laufe wie noch nie zuvor in meinem Leben.

Bereits ein paar Sekunden später spüre ich den heißen Atem meines Verfolgers im Nacken und höre sein animalisches Keuchen.

Ich lege nochmals an Tempo zu und höre sanftes Rauschen irgendwo vor mir. Dort musste ein Bach oder ein Fluss sein. Ich halte darauf zu und sehe nach kurzer Zeit, dass sich vor mir ein Abgrund auftut. Ich weiß nicht, wie breit die Schlucht ist, doch ich habe keine andere Möglichkeit, als über den Abgrund zu springen. Jede andere Entscheidung kann meinen Tod bedeuten.

Ich schätze die Entfernung im Laufen ab, denke noch, dass ich es niemals schaffen werde, und sehe doch die einzige Chance darin, mein Überleben zu sichern, indem ich springe. Ich bin etwa zehn Meter vom Abgrund entfernt, als mich mein Verfolger von hinten anspringt und zu Fall bringt.

Meine Stirn prallt auf einen Stein. Warmes Blut läuft über mein linkes Auge und droht mir, die Sicht zu nehmen. Sterne flirren wie Fliegen um das Licht um mich herum. Ich zwinge mich dazu, nicht ohnmächtig zu werden. Wütend schlage ich mit der Faust nach meinem Widersacher, doch dieser wehrt die Schläge ab, grinst und beginnt, erneut an seinem Hosenbund herumzufummeln.

Panisch versuche ich mich unter ihm herauszuwinden und bemerke unter meiner rechten Schulter eine entsetzliche Leere. Ich liege direkt am Rand der Schlucht. Widerwillig schiebe ich meine Hand zwischen mich und den Irren und packe ihn mit aller Kraft zwischen seinen Beinen. Ein helles Kreischen folgt als Antwort.

»Guten Flug, du perverser Bastard«, brülle ich voller Enthusiasmus und stoße ihn in Richtung Abgrund.

Ein dumpfer Aufprall dringt an mein Ohr, gefolgt von einem unmenschlichen Schrei, der mir durch Mark und Bein geht. Eine trügerische Stille folgt, begleitet von dem Rauschen des Baches in der Schlucht, das wie höhnisches Kichern klingt.

Ich verharre einen Augenblick, weiß nicht, was ich machen soll. Letztendlich siegt die Neugier und ich schaue vorsichtig über den Rand des Abgrunds. Der Anblick, der sich mir bietet, lässt mich zurückzucken. Der Mann ist nicht, wie ich gehofft habe, von den Wassermassen mitgerissen worden. Er liegt am schlammigen Ufer, das rechte Bein ist zwischen Felsbrocken eingeklemmt, während das andere seltsam verdreht ist und meinem Widersacher das groteske Aussehen einer Marionette verleiht.

Ich wische mir mit zitternden Händen das Blut aus dem Gesicht und blicke noch einmal in den Abgrund. Der Fremde starrt mit schmerzverzerrtem Gesicht zu mir hoch. Erst jetzt fange ich an zu begreifen, dass mir mein Gegner ausgeliefert ist. Ich kann über Leben oder Tod entscheiden. Doch selbst jetzt, im Anbetracht der Tatsache, dass dieser Mann niemals gezögert hätte, mich zu töten, fällt es mir schwer, mich für diesen Weg zu entscheiden. Ich bin kein Ungeheuer. Auch wenn es für manche vielleicht den Anschein hat. Ich habe gelernt, meine Angst und den Respekt vor dem Leben zu verstecken und weiß, dass mein Blick oftmals etwas anderes – etwas Dunkles - erzählt, wenn ich den Menschen in die Augen sehe.

Meine Überlegung geht dahin, den Mann seinem Schicksal zu überlassen, aber dann ringe ich mich doch dazu durch, in die Schlucht zu klettern, um zu sehen, ob ich ihm nicht irgendwie helfen kann.

Ein paar Meter weiter finde ich einige Vorsprünge im Gestein, an denen ich sicheren Halt finde und gefahrlos herunterklettern kann. Wenn es eine Angst gibt, die ich nicht kenne, dann ist es Höhenangst. Schon als Kind war ich ein grandioser Kletterer. Wenige Minuten später erreiche ich den Grund und stelle fest, dass der graue Boden nicht so schlammig ist, wie es den Anschein gehabt hat. Ein Felsblock versperrt mir die Sicht auf den Mann, sodass ich dem brodelnden Wasser gefährlich nahe komme, als ich ihn umrunde. Vor mir eröffnet sich der Blick auf den Verletzten, und ich verspüre beinahe Erleichterung. Gleichzeitig erschüttert mich der Anblick auf eine absurde Art. Blut läuft dem Mann aus der Nase. Er röchelt wie ein sterbendes Tier und versucht den Kopf zu heben, was zur Folge hat, dass ein weiterer Schwall Blut aus seinen Mundwinkeln läuft.

»Hilf mir, bitte«, gurgelt er kaum hörbar.

Mir schießt durch den Kopf, was passiert wäre, wenn es die Schlucht nicht gegeben hätte. Er hätte mich vergewaltigt und anschließend ohne zu Zögern getötet. Die Vorstellung daran lässt mich erschaudern und erstickt mein Gewissen unter einem Kissen aus Hass und Rachegefühl. Ich bleibe reglos stehen. Ohne dass ich es verhindern kann, formen sich meine Lippen zu einem abfälligen Lächeln. Ich schüttele langsam den Kopf und stecke meine Hände in die Hosentaschen.

 

»Das werde ich nicht, du krankes Arschloch«, zische ich und blicke dabei zu Boden.

Ich kann ihm nicht in die Augen sehen.

Der Mann streckt seinen rechten Arm aus, als ob er nach mir greifen will. Doch es fehlt ihm an Kraft, und es bleibt bei dem Versuch. Ich mache trotzdem einen Schritt zurück und blicke auf die Steine unter der Oberfläche des Wassers, wo die Strömung den Bach zur Ruhe kommen lässt. Die Steine erscheinen mir fast lebendig.

»Ich kenne deine Schwester«, flüstert der Mann plötzlich.

Zuerst glaube ich, mich verhört zu haben. Doch dann wiederholt er, was er gesagt hat. »Ich kenne deine Schwester. Deine Turia.«

Entsetzt über die Worte fahre ich herum. Der Name meiner Schwester wirkt wie ein Schock auf mich.

»Woher kennst du Turia?«, frage ich drohend und greife mechanisch nach einem Stein, der in den Wellen schimmert.

Eiskaltes Wasser umspielt meine Hand. Gleichzeitig erkenne ich, dass ich nicht mehr mit einer Antwort rechnen kann. Der Mann sieht mich mit aufgerissenen Augen an. Er röchelt erneut, und unter all dem Blut ist nicht zu erkennen, ob er grinst oder vor Schmerz das Gesicht verzerrt. Ich gehe auf ihn zu.

»Woher?«, frage ich ihn trotzdem noch einmal.

Meine Stimme bricht.

Ein Gurgeln und Stöhnen kommt als Antwort. Die Lippen des Mannes zittern und formen mühselig ein paar Worte.

»Wenn ich ... wenn ich dich erledigt hätte, dann wäre sie als Nächstes dran gewesen. Diese kleine, geile Schlampe ... sie wäre ... ich hätte ... sie ...«

»Nein«, brülle ich und hebe den Stein.

Ich will den Satz nicht beendet wissen und schleudere den Stein mit aller Kraft auf den Kopf des Mannes. Ich höre ein Knacken und gleich darauf ein feuchtes Geräusch, als ob der Stein in Matsch geschleudert wurde.

Ich strauchele und falle auf die Knie. Grauer Schlamm klebt an meinen Händen und tropft auf den Boden. Ich starre auf meine Finger und bemerke, wie sehr sie zittern. Brennende Abschürfungen machen sich unter dem tropfenden Schlamm bemerkbar, und gleichzeitig beginnt die Platzwunde über meiner Braue zu pulsieren.

Ich starre wie betäubt auf den Leichnam, mit dem ich kurz zuvor noch verbissen gekämpft, und der den Namen meiner Schwester beschmutzt hatte. Etwas Weißes ragt aus dem blutigen Matsch, der mal eine Kopfhälfte mit dunklen Haaren gewesen ist. Es dauert eine Weile – vielleicht eine Ewigkeit - bis ich realisiere, dass ich dem Mann dem Schädel eingeschlagen habe.

Ich krieche auf den Toten zu und knie vor ihm nieder. Zögernd greife ich in seine Jackentaschen, in der Hoffnung, etwas zu finden, was den Mann vielleicht identifizieren kann. Ich besitze kaum noch Kontrolle über meine Finger.

Doch ich werde enttäuscht. Ich ergreife lediglich meine eigene Brieftasche. Erleichtert stecke ich sie ein und ertappe mich bei dem Gedanken, dass mich so niemand mit dem Toten in Verbindung bringen kann. Kalt und berechnend.

Über mir zieht ein tiefes Grollen durch die Wolken. Ich hebe den Kopf und bemerke, dass ein drohendes Unwetter den Himmel in ein düsteres Licht getaucht hat. Eilig klettere ich aus der Schlucht und stelle entsetzt fest, dass ich nicht mehr weiß, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Ich blicke in den Wald, dann nach rechts und bin mir nicht sicher, ob ich bachaufwärts gehen muss, um zu meinem Lager zurückzukommen.

Die Himmelsrichtung anhand der Sonne auszumachen ist unmöglich. Schwarze Wolken haben den Himmel bis zum Horizont für sich eingenommen. Lediglich an dessen Ende ist ein glühender Lichtstreifen zu erkennen. Schwere Regentropfen fallen auf mich herab. Erst vereinzelt, doch dann kräftiger und so dicht wie ein Vorhang, der mir zu allem Überfluss die Sicht nimmt. Ich beginne in die Richtung zu laufen, in der ich mein Lager vermute, dabei fährt mir ein stechender Schmerz in die linke Wade. Ich gerate ins Straucheln und lande im nächsten Augenblick auf der kalten, nach altem Feuer riechenden Erde. Ein hysterisches Schluchzen steigt meine Kehle empor.

Niedergeschlagen und entkräftet bleibe ich auf einem nassen Teppich aus Blättern und Erde liegen, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Es ist Zeit, überlegt vorzugehen, doch das ist im Moment unmöglich. Die einzige Gewissheit, die sogar den Schmerz in meinem Bein verdrängt, ist die Tatsache, dass ich ein Mörder geworden bin. Das ist mein letzter Gedanke, bevor sich ein dunkler Umhang über mich ausbreitet. Ich bin ein Mörder.


Ich blinzele verwirrt und sehe mich um, ohne zu wissen, was mich aus der Ohnmacht geholt hat. Die Erinnerung trifft mich wie ein Faustschlag und beschleunigt meinen Herzschlag, sodass ich eine unnatürliche Hitze in mir verspüre. Nach wie vor liege ich auf dem Boden, irgendwo mitten im Wald und hasse mich dafür, dass ich offensichtlich über keinerlei Kaltblütigkeit verfüge. Wäre ich abgefuckt genug, hätte mein schlechtes Gewissen nun keine Chance gehabt, mich mit quälenden Schuldgefühlen zu beschmutzen. Im Gegenteil. Ich bin sogar erschrocken darüber, dass ich so viel Brutalität entwickelt habe.

Du bist ein Mörder, schießt es mir durch den Kopf, doch dann gibt mir eine winzige Stimme zu bedenken, dass ich aus Notwehr gehandelt habe. Zumindest bis zu dem Punkt, an dem ich den Mann in die Schlucht gestoßen habe. Danach hätte ich ihn seinem Schicksal überlassen können. Der durch den Regen ansteigende Bach hätte den Rest erledigt. Mir wird bewusst, was mich dazu getrieben hat, meinem Widersacher den Schädel einzuschlagen. Es war nicht um meinetwillen. Er hatte Turias Namen erwähnt und er wollte sie ... ich wage nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Dieses Schwein hat offen zugegeben, dass er mich umbringen wollte, und ich hätte ebenso gut geschändet und ermordet werden können. Irgendwo hier draußen im Wald.

Ich stehe auf und wische mir die Hände an der Hose ab, als ob ich damit meine Tat einfach wegwischen kann. Das Atmen fällt mir schwer. Es fühlt sich an, als ob eine eiserne Hand meinen Brustkorb umklammert.

Das Gewitter hat sich verzogen. Die Sonne hat einen fahlen Schein angenommen und wirkt wie gelbes Gift, das sich die größte Mühe gibt, das Unwetter als Illusion abzutun. Die Regentropfen an den Fichtennadeln leuchten silbern und hinterlassen eine klimpernde Melodie, während sie auf den Boden fallen. Sie untermalen die Sommerstille ebenso wie das Sirren der Mücken.

Ich muss versuchen, meinen Kopf freizubekommen. Auch wenn alles in mir in einer chaotischen Flut zu ertrinken droht, wird mir bewusst, dass ich nichts überstürzen darf.

Langsam mache ich ein paar Schritte und bemerke erst jetzt, dass meine Klamotten völlig durchnässt sind. Auch wenn mir nicht kalt ist, so muss ich doch ein Feuer entfachen, damit sie trocknen. Dafür muss ich zu meinem Lager, wo die Streichhölzer liegen. Mit geschlossenen Augen stütze ich mich an einem Baum ab und versuche mich darauf zu konzentrieren, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Dann gehe ich ein Stück in den Wald hinein, bis zu dem Punkt, an dem ich die Grube vermute, in der ich gesessen habe. Sie kann nicht so weit von dem Bach entfernt sein. Tatsächlich entdecke ich die Vertiefung, die mir zu Hilfe gekommen war. Überall sind die Spuren meines Kampfes zu sehen. Die Erde ist aufgewühlt. Die Blaubeersträucher in der näheren Umgebung sind zertreten. Am Rand der Grube entdecke ich einen glänzenden Gegenstand. Ich bücke mich, was eine Welle gleißender Schmerzen in meinen Beinen nach sich zieht, und halte überrascht die Pistole in der Hand, die mir mein Widersacher an die Schläfe gehalten hatte. Ich möchte sie von mir schleudern, überlege es mir dann aber anders und stecke die Waffe in meine Hosentasche.

Auch wenn ich damit nicht umzugehen weiß, glaube ich, dass sie mir eventuell noch nützlich sein kann. Ich stolpere über Wurzeln und Steine, sehe hier und da platt getretene Sträucher und aufgewühlten Waldboden. Daran kann ich mich orientieren und weiß, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen habe.

Wenig später entdecke ich mein Einmannzelt zwischen den Bäumen. Ich zögere, checke die Gegend in Windeseile ab, um mich zu vergewissern, dass sich nicht irgendwo jemand verborgen hält und mich beobachtet. Ein paar Meter von meinem Lager entfernt, liegt ein größerer Gegenstand, der mich erschaudern lässt. Zuerst denke ich, dass dort ein Mensch am Baum gelehnt kauert, doch dann erkenne ich, dass es ein Armeerucksack ist. Neugierig geworden hole ich das Gepäckstück und trage es zu der Feuerstelle, wo ich das Feuer mit wenigen Handgriffen wieder in Gang bringe. Dann mache ich mich daran, den Inhalt des Rucksackes zu inspizieren. Der Gestank von Moder und feuchter Erde schlägt mir entgegen.

Im Hauptfach finde ich die üblichen Dinge, die jemand in die Wildnis mitnimmt. Regenschutz, Ersatzklamotten und Proviant. Ein schwacher Geruch geht vom Inhalt des Rucksackes aus, der mir vertraut ist, den ich aber trotzdem nicht einordnen kann. Ich weiß nur, dass er keine guten Erinnerungen birgt.

Im Deckelfach stoße ich schließlich auf interessantere Dinge. Eine Tourenkarte fällt mir entgegen, aus der sich ein zusammengefaltetes Papier löst, während ich nach der Brieftasche greife, die sich ebenfalls im Deckelfach befindet. Das Papier kommt mir erschreckend bekannt vor, und als ich es auseinanderfalte, erkenne ich die Skizze wieder, die ich vor Aufbruch von meiner Tour angefertigt habe. Ich selbst habe sie gezeichnet. Es ist meine Route, die ich grob eingeschlagen habe. Es ist eine alte Angewohnheit, alle von mir geplanten Routen noch einmal zu Papier zu bringen. So prägen sie sich besser in mein Gedächtnis ein, und ich kann mich im Notfall auch ohne Kartenmaterial orientieren. Meine Hände verkrampfen sich. Die Skizze hatte im Haus meines Vaters gelegen. Ich habe sie anscheinend vergessen, bevor ich losgefahren bin. Maßloses Entsetzen ergreift mich. Offensichtlich hat mein Vater etwas mit dem Mann zu tun, der mich töten wollte.

Fassungslos öffne ich die Brieftasche, in der Hoffnung noch mehr Indizien zu finden. Die Mühe, jedes Fach einzeln zu durchsuchen, spare ich mir. Stattdessen schüttele ich den Inhalt auf die Erde und starre verblüfft auf ein bisschen Bargeld, auf diverse Kreditkarten, einen amerikanischen Pass und ein Foto von mir und Turia.

Endlich hat mein Widersacher einen Namen. Steven Mahony. Das Gesicht blickt mir in all seiner Abscheulichkeit vom Passbild entgegen. Eine emotionslose Fratze, der man auf den ersten Blick nicht ansieht, was für ein Monster hinter ihr verborgen liegt.

Der Schnappschuss von Turia und mir hat die letzten Jahre in meiner Schreibtischschublade gelegen. In meinem Zimmer, das ich bei meinem Vater immer mal wieder kurzweilig bewohnt habe.

Ich bin zutiefst verwirrt und erschüttert und gehe in Gedanken noch einmal die vergangenen Stunden durch, auf der Suche nach Details, die mir vielleicht helfen können, zu einem Ergebnis zu kommen. Doch nichts tut sich vor mir auf, was von Wichtigkeit sein kann. Die Sinnlosigkeit des Geschehenen wird mir nur noch bewusster und ist nur der Anfang von dem, was mich in den folgenden Tagen, Wochen und vielleicht sogar bis zu meinem Lebensende quälen wird.

Zu meinen Schuldgefühlen mischt sich ein Schamgefühl, wie ich es noch nie zuvor verspürt habe. Bilder tun sich vor mir auf, die mir zeigen, was passiert wäre, wenn ich nicht die Oberhand behalten hätte. Sie drängen sich mir auf, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Ich sehe mich selbst in einer erniedrigenden Pose vor meinem Peiniger. Den Schmerz, der meine Gedanken einnimmt, kann ich dabei beinahe körperlich spüren. Doch es ist nicht nur diese Scham, die mir derart zusetzt. Vielmehr ist es das Gefühl des Ausgeliefertseins. Das Gefühl, dass mich jemand berührt.

Mir ist es schon immer schwergefallen, offenherzig und selbstverständlich mit meinem Körper umzugehen, wenn es um Sexualität geht. Diese Hemmungen besaßen ihre Wurzeln bereits in meiner Kindheit. Damals, als es angefangen hatte mit den Schlägen und den miesen, schmutzigen Worten, die mir suggeriert hatten, dass ich nichts wert bin. Dass ich ein Stück Dreck bin, und Dreck nichts mit so etwas Mächtigem wie Sexualität zu tun hat, geschweige denn mit anderen Trieben, die die Welt zusammenhalten oder auch auseinanderbrechen lassen können.

Mein Blick fällt erneut auf das Foto, auf dem ich mit Turia im Boot sitze und vergnügt in die Kamera lächle. Ihr Blick ist verwischt. In ihren grüngrauen Augen ist ein beißender Kummer ertrunken, den man nur sieht, wenn man sie genauer betrachtet. Ich habe auf der Fotografie meinen linken Arm um sie gelegt und stelle fest, dass sie der einzige Mensch ist, der mich berühren darf. Es ist ihre ganz eigene Art meinen Beschützerinstinkt in mir zu wecken, der sie in meinen Augen so ehrlich und friedlich erscheinen lässt. Mir wird plötzlich bewusst, was ich mit meinem Verschwinden angerichtet habe. Ich habe sie im Stich gelassen. Dem einzigen Menschen, der mir was bedeutet, habe ich seine Träume und Hoffnungen genommen und in meinem Egoismus ertränkt.

 

»Es tut mir leid«, flüstere ich. »Es tut mir so unendlich leid.«

Ein Weinkrampf schüttelt mich. Die fürchterliche Schuld, die ich gegenüber Turia empfinde, beginnt sich wie flüssiger Zement in mir auszubreiten.

In diesem Moment wird mir etwas ins Bewusstsein gerufen. Sie ist in Gefahr. Es ist etwas Schlimmeres im Gang, als ich je vermutet habe, und das wird gerade jetzt, wo ich sie in Stich gelassen habe, angekurbelt.

Plötzlich komme ich mir beobachtet vor. Mit von Tränen verschleierten Augen versuche ich mich umzusehen. Vielleicht waren es lediglich meine überstrapazierten Nerven, die mir einen Streich gespielt haben. Es ist lächerlich, zu denken, dass noch jemand wie Mahony in meiner Nähe sein könnte, doch das ungute Gefühl bleibt. Deshalb packe ich eilig meine Sachen zusammen, werfe den Rucksack samt Brieftasche, Tourenkarten und meiner Skizze ins Feuer und warte, bis alles vollständig verbrannt ist.

Ich will nur weg von diesem Ort, der mir eigentlich meinen inneren Frieden geben sollte und ihn mir stattdessen zunichtegemacht hat. Der herkömmlichen Route beschließe ich, nicht mehr zu folgen. Mein nächstes Ziel ist es, Turia zu kontaktieren. Dafür muss ich irgendwohin, wo ich mit dem Handy Empfang habe, und die nächstgrößere Stadt ist Jokkmokk.

Ich stelle mich darauf ein, dass ich über kurz oder lang durchdrehen werde. Nicht in absehbarer Zeit, aber irgendwann wird es einen Funken geben, im Grunde genommen eine Nichtigkeit, die mich komplett um den Verstand bringen wird.

Was dann passiert, liegt nicht mehr auf der nachvollziehbaren Seite des gesunden Menschenverstandes. Dessen bin ich mir mehr als bewusst.

Bevor ich mir weiter darüber Gedanken mache, rufe ich mir ins Gedächtnis, in welche Richtung ich gehen muss, schultere meinen Rucksack und mache mich auf den Weg.

Ich bemühe mich, mich an Fakten zu halten und an das zu denken, was kommen wird, sobald ich die Zivilisation erreiche. Auf keinen Fall darf ich zur Polizei gehen. Sie würden meine Glaubwürdigkeit überprüfen, und, wenn ich Pech habe, mich wegen Mordes anklagen. Ich will nicht eingesperrt werden. Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte. Mit niemanden werde ich über die Geschehnisse des Tages reden können, und doch ist mir klar, dass ich mit jemandem sprechen muss, damit ich mit meinen quälenden Gedanken nicht alleine bin.

Der Mann, Steven, ist von jemandem geschickt worden. Ich gehe davon aus, dass mein Vater etwas damit zu tun hat.

Mir ist nie in den Sinn gekommen, auf einem Seil zu balancieren, das die Grenze zwischen meinem bis zu diesem Tag legal geführten Leben und der Illegalität darstellt. Ich habe mich immer auf der einen Seite aufgehalten, und nun gehöre ich durch den Tod von Steven zu denen, die auf der anderen Seite ihr Unwesen treiben. Dort, wo kriminelle Energie und grausame Ideen wie Unkraut wuchern und zu einer undurchdringlichen Hecke heranwachsen.

Aber bin ich wirklich ein Mörder? Weil ich mein eigenes Leben verteidigt habe? Die Frage spukt ununterbrochen in mir herum. Was war dieser Steven für ein Mensch gewesen? Jemand, der auf jeden Fall glaubte, besser zu sein, weil er sich einer geordneten Gesellschaft nicht beugen wollte. Sofern man noch von geordnet reden kann.

Ich stehe auf einem Blockfeld und werfe einen Blick auf den Horizont. Vor mir sind nur Berge, Höhenzüge und dazwischen vergletscherte Gipfel. Ich seufze resigniert, weil ich davon ausgegangen bin, dass der Weg mir nicht so unendlich erscheinen würde.

Die Sehnsucht nach einem Telefonat mit meiner Schwester dehnt sich dadurch noch mehr aus. Mein Redebedarf ist in den letzten Stunden ins Unermessliche gewachsen, und Turia ist die Einzige, der ich mich anvertrauen kann. Ich vermisse sie so sehr, dass mir ein scharfer Schmerz wie die Klinge eines Messers ins Herz sticht. Es klingt paradox, aber ausgerechnet dieser Schmerz bewahrt mich davor, in die Irre zu laufen. Ich will sie bei mir haben und meine Arme schützend um sie legen. Ich stelle mir ihre Atmung vor, wenn sie neben mir schläft, glücklich darüber, bei mir in Sicherheit zu sein. So war es immer gewesen. Und genau diesen Schutz habe ich auch immer bei ihr genossen. Ich brauche ihn jetzt. Mehr als jemals zuvor.

Ich sehe auf meine Schuhspitzen hinab und auf den riesigen Stein, auf dem ich stehe. Erstaunt blicke ich zurück und dann wieder nach vorn. Um mich herum sehe ich nichts als Gestein. Ein Wunder, dass ich nicht abgerutscht und mit einem Fuß in einer Spalte hängengeblieben bin. Ich bin so in Gedanken gewesen, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass ich schon die Hälfte des Blockfeldes überquert habe. Trotzdem habe ich jeden Schritt gut überlegt. Vielleicht, so rede ich mir ein, werde ich dann auch den Rest schaffen. Ich darf meiner überempfindlichen Phantasie keinen Raum mehr geben und den daraus resultierenden Albträumen auch nicht. Ich muss weiter, immer nur weiter ...

Am Stand der Sonne kann ich erkennen, dass es Abend wird. Zeit, mich ein weiteres Mal nach einer geeigneten Stelle umzusehen, wo ich übernachten kann. Ich habe keine Ahnung, wie viele Tage ich seit meinem Aufbruch in Abisko schon unterwegs bin. Es sind auf jeden Fall zu viele, um mich noch an den ständigen Wechsel der Übernachtungsstätten zu erfreuen. Davon mal abgesehen wird der Drang, mit Turia zu reden immer mächtiger.

Eisige Schauer jagen mir über den Rücken. Um mich herum werden die Geräusche zu einem Flüstern, sodass ich erneut den Eindruck bekomme, verfolgt zu werden. Ich sehe mich hektisch um. Gewöhnliche Baumstümpfe und Felsen sehen plötzlich wie menschliche Gestalten aus, die mich unentwegt anstarren. Ich bin übermüdet, aber ich gebe dem Verlangen nach erholsamen Schlaf keinen Raum.

Ich blinzele meine finsteren Gedanken fort und stelle fest, dass ich das Blockfeld überwunden habe. Vor mir ist ein lichter Birkenwald, der weiter talwärts zu einem ausgedehnten Nadelwald wird. Dort muss ich hinunter, wenn ich nicht vom Kurs abkommen möchte. Mir ist das nur recht. So bin ich nicht mehr der Sonne ausgesetzt, ebenso wenig dem Wind, der oberhalb der Baumgrenze ziemlich unangenehm ist. Ich bin unendlich müde. Aber es ist keine Müdigkeit, die man in den Knochen spürt, wenn man den ganzen Tag in Bewegung ist. Auch die spärliche Nahrungsaufnahme ist nicht das, was mich erschöpft. Es ist eine andere Art von Erschöpfung. Eine, die tief aus meinem Inneren herrührt. Ich möchte tief und lange schlafen, aber ich fürchte mich, davon zu träumen, wie Steven mit zertrümmertem Kopf durch den Wald schleicht. Wie er zwischen jungen Birken und Blaubeerbüschen an mir vorbeigeht, den Gestank des Todes mit sich führend. Mit leisen Schritten, und die Nase prüfend in die Luft erhoben, wie ein Jagdhund der seine Beute wittert. Außerdem habe ich Angst davor, dass sich mir jemand nähert, sobald ich schlafe. Ich muss in Zukunft vorsichtig sein, wenn ich anderen begegne. Ich muss misstrauisch bleiben und mir ein Lügengebäude erstellen. Niemand soll wissen, wer ich wirklich bin und woher ich komme.

Hinter einem Felsen setze ich mich. Hier fühle ich mich einigermaßen sicher vor den Blicken eingebildeter Gespenster. Die Gurte vom Rucksack haben meine Schultern wundgescheuert. Sie brennen, doch ich achte nicht weiter darauf. Meine Hände kramen im Rucksack nach dem Spirituskocher und einem Nudelgericht, dass ich mit heißem Wasser aufgieße.