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Nachdem ich gegessen habe, schalte ich das Handy ein und blicke gebannt auf das Display, in der Hoffnung, Empfang zu haben. Als ich sehe, wie sich der Empfangsbalken langsam aufbaut, durchfährt mich heiße Freude. Unwillkürlich stoße ich einen kurzen Schrei aus.

Ich will gerade Turias Nummer wählen, als das Handy vibriert.

Mit zitternden Händen lese ich die SMS. Es sind abgehackte Sätze, die typisch sind für diese Art von Mitteilungen und besonders typisch für Turia, die sie verfasst hat.

Sie schreibt zusammenhangslos, und ich weiß nicht, was ihre Nachricht mir sagen soll. Ich kneife die Augen zusammen, scrolle zurück und lese sie noch einmal.

›Sie haben es auf dich abgesehen!!!

Papa hat dich als vermisst gemeldet!

Du fehlst mir so sehr, bitte melde dich bei mir!

Ich weiß, dass du nicht tot bist.‹

Die Sätze lösen augenblicklich Beklemmungen und Schuldgefühle in mir aus. Turia hat etwas mitbekommen. Etwas, was ich nicht fassen kann. Mir fällt ein, wie sie mir im Traum erschienen ist, was mir beweist, dass wir unabdingbar miteinander verbunden sind. Ein unsichtbares Band, das sich nicht an physikalische Regeln und Gesetze hält. Etwas, was nicht zu hinterfragen ist.

Turias Nachricht bestand aus mehr, als nur Worten und Warnungen. Dort stand auch Verzweiflung. Sie fleht mich an, zu ihr zu kommen. Sie hat Angst. Das spüre ich ganz deutlich. Es ist eine kalte Angst, die auch mich befallen hat. Ich beginne zu frieren und wähle mit zitternden Händen ihre Nummer.

Freizeichen. Ich lasse es klingeln, aber niemand geht ran. Ich versuche es erneut. Wieder dasselbe. Das beunruhigt mich, und ich starte weitere Versuche mit demselben Ergebnis. Sie geht nicht ran, und eine Mailbox hat sie nicht eingerichtet. Ich frage mich, warum sie nicht an ihr Handy geht. Sie hat es immer bei sich, sobald sie das Haus verlässt, und auch sonst wacht sie darüber, als ob ihr Leben von diesem Ding abhängen würde. Da muss etwas Gravierendes passiert sein. In Anbetracht der Tatsache, dass ich getötet werden sollte, wundert es mich nicht, dass sie höchstwahrscheinlich in Schwierigkeiten steckt. Vielleicht ist sie in Gesellschaft, die nicht mitbekommen soll, wenn ihr Telefon klingelt. Unser Vater zum Beispiel oder Erik und Turias verkommene Mutter Bente. Aber wieso zum Teufel schreibt sie, dass unser Vater mich als vermisst gemeldet hat? Ich verstehe das alles nicht. Es ist doch paradox, dass ausgerechnet er mich als vermisst meldet, wenn er mich gleichzeitig aus dem Weg räumen will.

Ich versuche noch einmal anzurufen. Mittlerweile bin ich den Tränen nahe und das Freizeichen hallt in meinem Kopf wider.

Als ich es nochmals versuche, ertönt eine blecherne Stimme, die mir mitteilt, dass der angerufene Teilnehmer nicht erreichbar ist. Offensichtlich ist der Akku von Turias Handy leer, und wenn ich nicht aufpasse, wird dasselbe mit meinem Handy passieren. Resigniert schalte ich es aus. Ich muss den Akku schonen, bis ich eine Bleibe gefunden habe, wo es Strom gibt.

An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Die Ungewissheit treibt mich dazu, meine Sachen in den Rucksack zu werfen und weiterzulaufen. Heiße Tränen laufen mir über die Wangen. Was ich getan habe, muss ich immer noch mit mir alleine herumschleppen. Ich weiß, dass es mein Verschulden ist, wenn Turia etwas zugestoßen ist. Es ist alles meine Schuld. Ich habe ihr nie helfen können. Jetzt nicht und damals ... ja, damals habe ich auch nur zugesehen, wenn ihre Mutter sie ... Wenn ich jetzt eine falsche Entscheidung treffen sollte, wird Turia mit darunter leiden müssen. Ich bereue es, nie den Mund aufgemacht zu haben, und ich verstehe nicht, warum nie jemand unsere stummen Hilfeschreie erkannt hat. Waren wir so geschickt darin, das eigentlich Offensichtliche zu verbergen? Jetzt ist es zu spät, um eine Antwort darauf zu bekommen. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich immer auf der Hut sein muss. Selbst wenn mir jemand begegnen sollte, der mir wohl gesonnen ist, darf ich nichts Falsches sagen.

Immer auf der Hut sein. Sei auf der Hut! Die Worte wiederholen sich in mir, schwellen an zu einem einlullenden Singsang und verfrachten mich in einen merkwürdigen Zustand zwischen wachen und schlafen. Ich überlege, ob es so etwas wie eine Zwischenebene gibt, auf der sich Wirklichkeit mit Fiktion miteinander vereinen.

Dann wird es plötzlich dunkel um mich herum, und ich fühle nichts mehr.


Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung wahr. Reflexartig will ich aufstehen, doch ein fürchterlicher Schmerz durchfährt mein linkes Bein und bringt mich an die Grenze einer weiteren Ohnmacht.

Mir kommt es vor, als ob ich von weit her eine panische Stimme höre, doch ich tue sie als Hirngespinst ab, bis neben mir die Blätter zu rascheln anfangen, und ich ein schnüffelndes Geräusch vernehme.

Ich hebe den Kopf und blicke in die bernsteinfarbenen Augen eines Hundes. Seine feuchte Schnauze stupst mich an.

Ich erstarre.

Nicht, dass ich Angst vor Hunden habe. Vielmehr beunruhigte mich der Gedanke, dass dort, wo man Hunde findet, für gewöhnlich auch Menschen nicht weit sind.

Ich strecke die Hand aus, in der Hoffnung, das Tier verscheuchen zu können. Dabei entdecke ich, dass direkt hinter dem Hund ein Mann steht. Ein Schatten, der riesig vor mir aufragt.

Er scheint genauso erschrocken zu sein, wie ich und hebt beschwichtigend die Arme, um mir zu signalisieren, dass er keine bösen Absichten verfolgt.

»Don´t be afraid. I´m a friend, okay?«

»Lass mich in Ruhe«, zische ich auf Deutsch.

Das scheint den Fremden zu irritieren.

»Du bist Deutscher?«, fragt er erstaunt.

Ich antworte nicht und drehe mich weg. Ein röchelnder Husten unterbricht meinen Atemfluss, begleitet von einem stechenden Schmerz in der Brust.

»Kannst du aufstehen?«

Ich überhöre die Frage, weil sie überflüssig ist.

»Verschwinde einfach«, gebe ich zur Antwort.

Für einen kurzen Moment muss ich weggetreten sein, denn das Nächste, was ich spüre, ist, wie mich jemand an der Schulter berührt und auf den Rücken dreht.

»So ein Blödsinn. Ich werde dich nicht dem Schicksal überlassen, klar?«

Von dem Mann scheint keine Gefahr auszugehen. Er mag ein paar Jahre älter sein als ich. Seine dunklen Augen mustern mich besorgt, während er den Hund mit einer sanften Handbewegung beiseiteschiebt.

»Versuche den Arm um meine Schultern zu legen, dann werde ich dich von hier wegbringen.«

Ich bin zu kraftlos, um mich zu wehren. Widerstandslos lasse ich mir auf die Beine helfen und humpele neben dem Fremden her. Ich werfe ihm einen skeptischen Seitenblick zu und versuche herauszufinden, ob ich Vertrauen zu ihm fassen kann. Dabei wird mir klar, dass ich keine andere Wahl habe und mich bis zu einem gewissen Grad auf ihn einlassen muss. Bevor meine Gedanken unweigerlich zu meiner Schwester abdriften können, erreichen wir einen See, an dessen Ufer ein Ruderboot liegt.

Mir wird erneut schwarz vor Augen, und als ich wieder zur Besinnung komme, finde ich mich in dem Boot wieder. Wasser plätschert an den Planken. Das Geräusch weckt eine ferne Erinnerung in mir. Ich blicke in den Himmel, der einen zartgrauen Schleier angenommen hat. Kalte Gischt spritzt ins Boot.

»Ich heiße Pascal und arbeite auf einem Campingplatz. Ist nicht mehr weit von hier. Du kannst dich in meiner Hütte auskurieren«, klärt mich der Fremde auf.

Ich taste meine Stirn ab. Eine borkige Kruste hat sich an der Stelle oberhalb der Augenbraue gebildet, wo ich während meines Kampfes mit dem Fremden gegen einen Stein geprallt war. Ein dumpf klopfender Schmerz beeinträchtigt meine Sicht, und ich fühle mich so erbärmlich und ausgelaugt, als ob eine schwere Grippe von mir Beschlag genommen hätte. Die Klamotten kleben unangenehm an mir, und ich kann nicht einordnen, ob das von den ständigen Schweißausbrüchen kommt oder ob die Nässe noch von dem Unwetter herrührt. Überhaupt weiß ich nicht, wie viel Zeit vergangen ist.

Ich befürchte, dass mein Retter etwas von meiner Begegnung mit Steven mitbekommen haben könnte, und beäuge ihn unauffällig. Aber an seinem Verhalten ist nichts Ungewöhnliches zu erkennen.

Das Boot beginnt zu schaukeln, als Pascal aufsteht und auf einen Steg springt, wo er das Boot mit geübten Handgriffen vertäut. Ich wage nicht, mich zu rühren. Der ziehende Schmerz in meinem Bein könnte mir wieder das Bewusstsein rauben, und das will ich um jeden Preis verhindern. Pascal greift mir unter die Arme und zieht mich hoch. Mir wird schwindelig, und ich stöhne auf. Ich habe den Wunsch, alles einfach geschehen zu lassen, aber der letzte Rest meines Verstandes meldet sich zu Wort, hält mich an, Vorsicht walten zu lassen.

»Bitte bring mich nicht zu einem Arzt«, presse ich unter Schmerzen hervor.

Eine weitere Schwindelattacke überkommt mich, sodass ich mich an Pascals Schulter festhalten muss, um nicht umzufallen.

»Ist schon gut. Ich bringe dich zu mir, und dann sehen wir weiter.«

Seine Stimme klingt warm und beruhigend. Sie rührt etwas in mir, was ich fast schon verloren glaubte. Trotzdem bestehe ich weiter darauf, dass er keinen Arzt konsultiert. Verschwommen nehme ich wahr, wie mir Pascal in ein Auto verhilft. Dann ummantelt mich Dunkelheit. Ich komme wieder zu mir, als ich auf eine Couch gelegt werde.

»Dein Bein sieht übel aus. Ich muss die Wunde desinfizieren«, meint Pascal und verlässt den Raum.

Seine Stimme erreicht mich wie durch dichten Nebel. Kurz darauf kommt er mit einem Erste-Hilfe-Kasten zurück, holte eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit aus dem Kühlschrank und legt beides auf den Tisch vor sich.

 

»Kann sein, dass ich dir weh tun werde.«

Pascal nimmt eine Schere aus dem Kasten und schneidet mein Hosenbein vorsichtig auf. Der Stoff ist mit den Wundrändern verklebt, und ich beiße die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien. Ich bin wieder kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Um dem vorzubeugen, bäume ich mich auf, sinke aber gleich darauf wieder kraftlos auf das Kissen zurück.

»Ich werde morgen zusehen, dass ich ein Breitbandantibiotikum auftreibe. Das wird eine eventuelle Blutvergiftung verhindern und deinen Husten in Schach halten«, sagt Pascal, nachdem er die Wunde an meinem Bein gereinigt und einen Verband angelegt hat.

Ich hebe mühselig den Kopf und zähle eins und eins zusammen.

»Dann wirst du jemandem von mir erzählen?«, frage ich panisch und versuche dem prüfenden Blick meines Gegenübers auszuweichen. »Es ist wichtig, dass du mit niemandem über mich sprichst. Ich habe meine Gründe dafür.«

»Mir wird nichts anderes übrigbleiben, als zumindest meinem Boss zu berichten, dass ich einen Verletzten bei mir aufgenommen habe«, antwortet Pascal zögernd.

Ihm ist anzumerken, dass ihm mein Verhalten mehr als suspekt erscheint. Er streicht sich die halblangen Haare aus dem Gesicht und reibt sich über die Augen.

»Okay«, sagt er nach einem Moment des Schweigens, »ich werde einfach erzählen, dass du heute Nachmittag hier vorbeigekommen bist und mir beim Holzhacken helfen wolltest. Und dabei ist das passiert.«

Pascal deutet auf mein verbundenes Bein.

»Ja, einverstanden«, flüstere ich und blinzele müde.

Das erklärt zwar meine Platzwunde an der Stirn nicht, aber ich bin zu erschöpft, um mir darüber noch Gedanken zu machen. Ich sehe Pascal zu, wie er das Verbandszeug wegräumt.

»Wie heißt du überhaupt?«, fragt er.

»Ich heiße A ... Andreas«, antworte ich nach einem Augenblick des Zögerns und schnappe nach Luft.

»Na schön, Andreas. Du wirst nebenan im Schlafzimmer schlafen und vor allem so lange dort liegenbleiben, bis es dir besser geht.«

Er hilft mir, aufzustehen und führt mich in einen Raum neben der Wohnküche. Ein kleines, spartanisch eingerichtetes Zimmer. Ich setze mich mit zittrigen Knien auf die Bettkante. Mir wird schwarz vor Augen und ich merke, wie ich in mich zusammensinke.

»Habe ich ... habe ich mich eigentlich schon bei dir bedankt?«, bringe ich gerade noch so über die Lippen.

Dabei klingt meine Stimme, als ob ich meine Zunge nicht unter Kontrolle habe.

»Das brauchst du nicht. Ist doch selbstverständlich. Wie gesagt, schlaf dich aus. Ich habe noch Einiges zu erledigen. Butz kann dir Gesellschaft leisten.« Pascal ruft den Hund zu sich und befiehlt ihm, sich vor das Bett zu legen. »Er ist derjenige, der dir das Leben gerettet hat, nicht ich.«

Aus den Worten ist ein gewisser Stolz herauszuhören. Ich öffne kurz die Augen und sehe, wie Pascal milde lächelt und dann das Zimmer verlässt.


Mich weckt Vogelgezwitscher. Ein Geräusch, das mich an Ferien erinnert. An Tage, die ohne Angst und Erniedrigung einhergingen und mein Martyrium in unregelmäßigen Zeitabständen unterbrochen haben.

Ich habe für ein paar Sekunden keine Ahnung, wo ich bin, doch dann kehrt die Erinnerung schlagartig zurück. Es scheint früher Morgen zu sein, und mein Gedächtnis puzzelt mühselig die vergangenen Tage - oder waren es Wochen? - zusammen. Ich sehe das Blockfeld vor mir, und dass ich vergeblich versucht habe, Turia zu erreichen. Minimalistische Sequenzen fallen mir ein, die dunkel und unwirklich wie ein Albtraum heranschweben, sodass ich nicht sicher bin, ob das, woran ich mich erinnere, Wirklichkeit oder Traum ist. Ich weiß noch, dass ich immer tiefer in den Wald gelaufen bin und der Meinung war, Schritte hinter mir zu hören. Und dann war da der Hund.

Ich hebe den Kopf und sehe mich um. Die mit Holz vertäfelten Wände sind weiß gestrichen. Ein mit Stuck verzierter Kleiderschrank aus dunklem Holz steht an der rechten Seite meines Bettes. Zu meiner Linken ist ein Fenster, das geöffnet ist. Die Wiese, die ich beim Blick nach draußen sehe, glitzert feucht, und die frische Luft, die hereinkommt, hat etwas Reinigendes. Ich atme tief ein und schließe die Augen. Ein leicht pulsierender Schmerz pocht in meiner Wade. Doch ich bin zu erschöpft, um den Verband abzutasten. Meine Glieder sind noch zu schwer und wollen sich nicht an der Regsamkeit meines Geistes beteiligen.

Mir kommt in den Sinn, dass ich dem Tode zu nahe gekommen bin, und dass diese Erkenntnis dabei ist, seinen Tribut zu fordern. Den Schlüssel zur Tür in die Klarheit habe ich wahrscheinlich schon irgendwo hinter dem Blockfeld verloren. Noch bevor ich versucht habe, Turia zu erreichen. Ich war gefangen in einem Raum des Wahnsinns, jenseits von Vernunft und Pragmatismus. Das Gefühl, immer noch auf der Schwelle dieser Tür zu stehen, lässt mich nicht los. Ich habe das Gesicht zwar der Freiheit zugewandt, aber etwas hält mich davon ab, hinauszutreten. Es ist die Angst davor, dass meine Tat entdeckt wird. Sie schwebt als dunkler Schatten heran und zwingt mich, darüber nachzudenken, wie ich weiter mit meinem Geheimnis verfahren soll.

Solange ich keine stichhaltigen Beweise über die Beweggründe meines toten Widersachers habe, kann ich mich nur bedeckt halten. Und diese Beweise bekomme ich nur heraus, wenn ich es irgendwie schaffe, Turia zu kontaktieren. Ich versuche mich damit zu beruhigen, dass meine Schwester clever ist und durch das, was sie schon erlebt hat, mit feinen Antennen ausgestattet ist. Sie ist mit den Jahren eine Meisterin darin geworden, sich nichts anmerken zu lassen. Vorausgesetzt, sie hegt den Verdacht, es mit Leuten zu tun zu haben, die ihre Hände gerne in Schmutz stecken. Wenn also unser Vater mit der Sache zu tun hat, dann ... sie vertraut und liebt ihn bedingungslos, trotz des Verrates, den er an mir begangen hat. Ich kann ihr das nicht verübeln, schließlich ist er auch ihr Vater, und sie hat nichts damit zu tun, dass mir die Wahrheit über meine Identität achtzehn Jahre lang verschwiegen wurde. Abgesehen davon ist es nicht meine Art, meinen Vater zu einem Ringkampf aufzufordern, und das zudem auf dem Rücken meiner Schwester, deren Existenz ein ganzes Universum für mich bedeutet. Hätte ich jemals das Gefühl gehabt, sie in den kaukasischen Kreidekreis zu stellen, wären meine Zuneigung und mein Vertrauen ihr gegenüber nicht echt gewesen. Dann wäre es mir nur um eitlen Stolz und Eigennutz gegangen.

Hinter der Zimmertür regt sich etwas. Ich lausche den Schritten auf dem knarrenden Holzboden. Kurz danach höre ich das vertraute Geräusch einer Kaffeemaschine. Wie lange ist es her, dass ich so etwas gehört habe? Es muss eine Ewigkeit sein. Der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees steigt mir in die Nase. Kaum spürbar, aber doch so intensiv, dass ich eine unbändige Lust darauf bekomme.

Mühselig schäle ich mich unter der Decke hervor und setze mich auf. Mir wird erneut schwarz vor Augen. Deshalb bleibe ich sitzen und warte, bis mein Kreislauf in Gang kommt und ich wieder klar sehen kann. Als ich aufstehe, merke ich, wie wackelig ich auf den Beinen bin und befürchte, der Anstrengung, die mir die paar Schritte bis zur Tür bereiten werden, nicht standhalten zu können. Doch es funktioniert. Ich öffne die Tür und lehne mich an den Rahmen, da mich eine Welle der Übelkeit zu überrollen droht. Während ich mir die Augen reibe, höre ich die Stimme meines Retters vor mir.

»Herzlichen Glückwunsch! Du hast genau neunundzwanzig Stunden und einundvierzig Minuten geschlafen.«

»Wie bitte?«, frage ich verwirrt und blicke Pascal an, der am Küchentisch sitzt und grinsend an einer Tasse nippt.

Um seine Augen sind Lachfältchen zu erkennen. Sie unterstreichen den Schalk, der mir aus seinem Blick entgegenspringt.

»Ich habe ab und zu nach dir gesehen, weil ich befürchtete, du schaffst es nicht. Dabei hast du nur geschlafen. Die ganze Zeit. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass jemand so lange schlafen kann«, fuhr er fort, ohne auf meine Verwirrung einzugehen.

Ich wanke zu dem Tisch hinüber und lasse mich auf einen Stuhl fallen. Den Kopf auf die Hände gestützt beobachte ich, wie mir Pascal eine Tasse Kaffee einschenkt und sie mir vor die Nase stellt. Dankbar greife ich danach und nehme vorsichtig einen Schluck.

Das bittere Getränk läuft meine Kehle hinab und erweckt meine Lebensgeister. Unglaublich, dass so etwas Alltägliches wie eine Tasse Kaffee mich mit einem derartigen Glücksgefühl überschwemmen kann, wie ich es im Moment empfinde. Ich frage mich, ob es überhaupt jemanden gibt, der einer eigentlichen Selbstverständlichkeit so eine Bedeutung beimessen kann, wie ich es gerade tue.

»Ich freue mich jeden Tag auf meinen Kaffee. Da bist du nicht der Einzige«, meint Pascal plötzlich mit freundlicher Gelassenheit und zwinkert mir zu.

Ich sehe ihn finster an.

»Glaubst du wirklich, dass du das miteinander vergleichen kannst?«, frage ich bitter.

Pascal neigt den Kopf zur Seite und überlegt kurz.

»Vielleicht siehst du das Leben aus einem anderen Blickwinkel, nach dem, was dir passiert ist. Und trotzdem ... jonglieren wir nicht ständig mit dem Tod bei dem, was wir tun?«

»Woher willst du denn wissen, was mir passiert ist?«

Ich stelle die Tasse ab. Meine Hände zittern. Hat Pascal mittlerweile herausbekommen, was geschehen ist? Panik springt mir in den Nacken. Ich merke, wie sich meine Mimik versteinert, und sehe Pascal scharf an. Bereit dafür, mich verbal verteidigen zu müssen.

»Ich weiß nicht, was dir passiert ist. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob du es selbst weißt. Du warst schließlich wie von Sinnen, als ich dich gefunden habe und deine Sachen ...«

»Meine Sachen ... was ist mit meinen Sachen? Hast du etwa geschnüffelt?«

Pascal schüttelt beschwichtigend den Kopf, ohne mich aus den Augen zu lassen.

»Nein, das ist nicht mein Stil«, beginnt er ruhig zu erklären. »Du scheinst deine Ausrüstung komplett verbrannt zu haben. Scheinbar hat dich das Fieber dazu getrieben. Ich bin gestern Abend noch einmal zu der Stelle gefahren, wo ich dich gefunden habe und habe unweit davon ein niedergebranntes Lagerfeuer gefunden, in dem Reste von verbranntem Stoff und Fieberglasgestänge lagen.«

»Verbrannt?«, frage ich entgeistert, »aber warum ... warum hätte ich das tun sollen?«

Pascal zuckt mit den Schultern.

»Möglicherweise hast du phantasiert. Du hattest hohes Fieber. Das wäre die einzige Erklärung. Aber so genau weiß ich das auch nicht.«

Er steht auf und holt eine Brieftasche sowie ein Handy aus dem Küchenschrank. Beides legt er vor mir auf den Tisch.

»Du hattest nur das bei dir und die zerrissenen Klamotten, die du noch anhast.«

Erstaunt starre ich auf meine Brieftasche und mein Handy. Das Display ist zerkratzt. Langsam, fast mechanisch fahre ich mit dem Daumen darüber. Dass mich mein Gedächtnis derart im Stich gelassen hat, erschüttert mich.

»Ich ... kann mich an nichts erinnern. Wie kann das sein?«, stoße ich hervor, mehr an mich selbst gerichtet, als an Pascal.

»Du hattest wahrscheinlich einen Blackout. Mach dir nicht so viele Gedanken darüber. Die Erinnerung wird mit Sicherheit zurückkommen. Dann, wenn du nicht mehr darüber nachdenkst. Die Hauptsache ist doch, dass du noch weißt, wer du bist. Das weißt du doch, oder?«, versucht er mich zu beruhigen.

Ich nicke langsam, was Pascal als Antwort zu genügen scheint. Er steht auf und stellt seine Tasse in die Spüle.

»Ich muss rüber und mich um die anderen Gäste kümmern. Ruh dich aus. Vor allem solltest du mal duschen. Dann wirst du bald wieder vollkommen hergestellt sein. Alles Weitere sehen wir dann«, sagt er und geht zur Tür.

Ich sehe ihm verwirrt nach, als die Tür knarrend ins Schloss fällt. Um mich herum wird es still und ich sehe an mir herab. Meine Klamotten fühlen sich klamm an. Angewidert stehe ich auf und gehe schwankend ins Badezimmer. Es ist ein winziger Raum, in dem man sich gerade so umdrehen kann. Alles ist sauber und ordentlich. Neben dem Waschbecken steht ein kleiner Schrank, gefüllt mit frischen Handtüchern. Ich betrachte mich im Spiegel, der über dem Waschbecken hängt. Mein Gesicht ist dermaßen schmal geworden, dass ich erschrocken meine Wangen abtaste. Dunkle Augenringe verleihen mir das Aussehen eines Zombies, und genauso fühle ich mich auch. Tot und leer mit einer körperlichen Funktionsfähigkeit, die auf ein Minimum herabgesetzt ist. Lebendig, ohne zu leben. Tot, ohne gestorben zu sein. Meine Haare sind von Schmutz und Fett filzig und haben einen gräulichen Farbton angenommen. Ich spare es mir, die Arme zu heben, um zu testen, ob ich nach altem Schweiß stinke. Mich überkommt ein widerliches Schamgefühl, wenn ich daran denke, dass Pascal mich so die ganze Zeit ertragen musste.

 

Mühselig mache ich mich daran, den Verband an meinem Bein zu entfernen, stelle mich anschließend unter die heiße Dusche und denke darüber nach, warum mein Gedächtnis mich im Stich gelassen hat. Vor allem frage ich mich, ob es Details gab, die ich preisgegeben habe, aber nicht hätte preisgeben dürfen. Es ist ein beunruhigender Gedanke, dass sich in meinen Erinnerungen ein weißer Fleck befindet, den ich nicht behaften kann. Vielleicht habe ich im Fieberwahn geplaudert. Auch wenn Pascal nicht den Eindruck macht, als ob etwas Außergewöhnliches passiert sei, ist mir klar, dass ich meinen Retter nicht gut genug einschätzen kann. Es ist durchaus möglich, dass er mehr über mich weiß, als mir lieb ist, und er bereit ist, zuzugeben. Vielleicht versteckt er sein Wissen nur hinter der freundlichen Fassade. Mir bleibt nichts anderes übrig, als argwöhnisch zu bleiben und jedes Wort mit Bedacht zu wählen.

Die Ungewissheit versetzt mir einen Stich. Aufgewühlt verlasse ich die Dusche und trockne mich mit ungelenken Bewegungen ab. Ich fühle mich wie eingerostet und kann nur mit Mühe einen Blick auf die Wunde am Bein werfen. Die Wundränder sehen aus wie rote, geschwollene Bänder. Dazwischen verhindert eine blutige Kruste, dass der Schnitt wieder zu bluten beginnt. Ich lasse den Verband weg und humpele ins Schlafzimmer zurück, wo ich erschöpft ins Bett sinke. Still liege ich da und weiß, dass ich noch lange nicht über den Berg bin. Es quält mich, dass Geist und Verstand ihre schneidige Schärfe zurückbekommen haben, während sich mein Körper wie der eines Greises verhält. Das hindert mich daran, dem inneren Sturm, der in mir tobt, ein Ventil zu bieten. Erneut versuche ich, mich zu erinnern.

Aus welchem Grund habe ich meine Ausrüstung verbrannt? Habe ich keinen Sinn mehr in meinem Unternehmen gesehen? Wollte ich sterben? Das kann es nicht sein. Ich bin vielleicht melancholisch, wenn nicht sogar depressiv, aber ich war noch niemals lebensmüde. Ich hatte wohl tatsächlich vorübergehend den Verstand verloren. Vielleicht, weil ich zu lange in der menschenleeren Weite gewesen bin und mit niemandem gesprochen habe, außer mit Steve. Vielleicht war sogar er nur eine Illusion. Der Teufel in Menschengestalt, der mich in meinen Halluzinationen heimgesucht hat. Oder war es die panische Angst, die er verursacht hat, und die mir letztendlich das Gefühl gab, mit einem seelenlosen Ungeheuer alleine zu sein?

Der weiße Fleck in meinem Kopf beinhaltet etwas, was mir das Gefühl gibt, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Ich kann es nicht greifen.

Wie ich so daliege, kommt ein Funke Erinnerung hoch. Ich verspüre das Gefühl unendlicher Verlassenheit und Einsamkeit. Es vermischt sich mit einem widerlichen Geruch und lässt mich plötzlich im Nirgendwo stehen, wo es keine Konturen gibt, kein Licht und nicht einmal Boden unter den Füßen. Es ist, als ob die Erde unter mir von einem Ozean verschlungen wurde, dessen wässrige Zähne den Kontinent zerfressen haben. Und dieser Ozean, all das Wasser, wird vor meinen Augen in ein schwarzes Loch gesogen und nimmt mich nicht mit, weil es mich schlicht vergessen hat.

Mit rasendem Herzen krallen sich meine Finger in das Bettlaken. Ich beginne zu begreifen, dass ich aus einem bösen Traum aufgetaucht bin. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Ich wünsche mir, dass der gesamte Inhalt dieses verfluchten Sommers ein Albtraum ist. Aber ich kann mir geschehene Dinge nicht wegwünschen. Ich kann nur versuchen, sie zu vertuschen.