Die Gentlemen-Gangster

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Die Gentlemen-Gangster
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Manfred Bomm

Die Gentlemen-Gangster

Kriminalroman


Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © piotrszczepanek / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6728-8

Gewidmet allen,

die eine Geschichte wie diese nicht aus der Distanz eines Unbeteiligten lesen, sondern selbst einmal von den bösen Schatten eines Verbrechens betroffen waren – was umso schwerer wiegt, wenn sich die Logik der Ermittlungen plötzlich gegen einen selbst richtet.

Denn wenn das scheinbar Naheliegendste zur Wahrheit erhoben wird, bleibt für das Unwahrscheinliche kein Raum mehr. Das Nachvollziehbare, wie es der Lebenserfahrung entspricht, lässt nämlich keine Zufälle gelten und verleitet dazu, leichte Wege zu gehen. Dann wird eine Verkettung unglücklicher Umstände oft als unwahrscheinlich empfunden, obwohl jedes Unglück kein solches wäre, wenn sich nicht schicksalhafte Ereignisse gekreuzt hätten.

Denken wir an all jene, die zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren, die in den Strudel von Gerüchten und Verschwörungstheorien gelangt sind – und ein Leben lang diese Last tragen müssen, sofern sich niemand die Mühe macht, das oftmals Undurchschaubare zu entwirren und die einfachen Wege zu verlassen.

Denken wir also an all jene, die vieles von dem, was in diesem Roman erzählt wird, selbst ertragen mussten: Todesängste in langen Nächten, schreckliche Ungewissheit in der Gewalt von Kidnappern – und dann noch die unterschwelligen Verdächtigung, womöglich selbst Rädelsführer gewesen zu sein.

Dies alles sind üblicherweise Geschichten, aus denen Thriller gemacht sind.

Im vorliegenden Fall sollten wir aber auch – und gerade – an die Opfer denken.

Ein Kriminalroman soll Spannung und Unterhaltung sein, uns aber gleichzeitig vor Augen führen, was wir niemals selbst erleben möchten.

Was man wissen muss

Dass Personen und Geschichte frei erfunden seien, trifft im vorliegenden Fall nur bedingt zu. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Mischung aus Dokumentation und Fiktion. Zugrunde liegt nämlich einer der bis dahin größten Raubüberfälle auf ein Geldinstitut in der Bundesrepublik Deutschland. Geschehen im März 1982. Geändert wurden jedoch einige Namen und teilweise die Funktionen der geschilderten Personen. Somit wären Ähnlichkeiten mit den tatsächlich Beteiligten, deren Charakteren und Tätigkeiten rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Als die Kreissparkasse mit der Idee an mich herantrat, diesen spektakulären Fall anlässlich ihres 175-jährigen Bestehens im Jahre 2021 als Grundlage für einen Kriminalroman zu nehmen, habe ich mich in meinem privaten Archiv noch einmal intensiv mit diesem Verbrechen befasst, über das ich damals als junger Journalist der Neuen Württembergischen Zeitung in Göppingen tage-, ja sogar wochenlang berichtete.

Glücklicherweise hatte ich unzählige Schriftstücke, Dokumente und Zeitungsartikel aufgehoben, sodass es mir nun möglich war, den Fall möglichst genau zu rekonstruieren – auch dank einiger Zeitzeugen, die sich bereit erklärt haben, mit mir über diese vermutlich schrecklichsten Stunden ihres Lebens zu reden.

Viele hatten sich damals auch im Mittelpunkt von Gerüchten und sogar falschen Verdächtigungen gesehen, weil angesichts des geradezu unglaublichen Vorgehens der Gangster zahlreiche Verschwörungstheorien die Runde machten, die sich jedoch nach intensiver Recherche allesamt als völlig aus der Luft gegriffen erwiesen. Vieles, was die Betroffenen erdulden mussten, war nie in der Zeitung zu lesen gewesen.

Nicht auszudenken, welchen Schmähungen und Unterstellungen sie heute im Zeitalter der sogenannten Sozialen Medien ausgesetzt wären, in denen jeder alles ungeprüft behaupten kann. 1982 waren veröffentlichte Informationen noch verantwortungsvoll recherchiert und nicht von gehetzten Journalisten oder Laien überhastet in die Welt gesetzt worden.

Ein Jurist sprach später von einem »einmaligen Fall«, von den »erfolgreichsten Gangstern Deutschlands«, die »wie Gentle­men« gehandelt hätten. Männer mit zwei Gesichtern: zum einen »biedere Bürger«, zum anderen aber »knallharte Täter mit wahrhaft kriegerischer Bewaffnung.« Fast ein Vierteljahrhundert lang konnten sie unerkannt ihre Raubzüge unternehmen und jedes Mal wie vom Erdboden verschwinden.

Ich habe mithilfe einiger fiktiven Handlungsstränge versucht, all das Merkwürdige und Ungewöhnliche aufzugreifen, das damals in und um diese Stadt Göppingen für Gesprächsstoff gesorgt, jedoch nie Eingang in die offizielle Berichterstattung gefunden hat. In Göppingen, das Garnisonsstadt der Ersten US-Infanteriedivision Forward gewesen war, die von hier aus engen Kontakt zum weithin bekannten Atomraketenstandort Mutlangen (bei Schwäbisch Gmünd) hatte, dürften auch international tätige Spione und clevere Geschäftemacher zwischen Ost und West ihr Unwesen getrieben haben. Einige (echte) Spuren führen deshalb in meiner Geschichte nach Sankt Petersburg (das damals noch Leningrad hieß) und in die Slowakei.

Der damals noch junge Kommissar August Häberle (für den es ein echtes Vorbild gab) wurde irgendwann in diese Gerüchteküche involviert und kam ein Berufsleben lang nicht mehr davon los. Vieles, was dann in der »Neuzeit« geschah, ist meiner Fantasie entsprungen. Häberle wurde just am Tag, als er in seinen Ruhestand verabschiedet wurde (siehe Roman »Schlusswort«), auf dramatische Weise von der Vergangenheit eingeholt.

1

Ein Sonntagabend Anfang März 1982

Martin Seifritz war leicht gereizt, als es an der Haustür klingelte. Der 48-Jährige erwartete weder Besuch noch wäre er an diesem Sonntagabend darauf eingestellt gewesen. Aber vermutlich war es wieder mal Manuela, seine ältere Tochter, die sich erst vor einer halben Stunde mit ihrem Freund verabschiedet hatte, um Richtung Tübingen zu fahren, wo sie Jura studierte. Oft genug schon hatte sie etwas vergessen.

Seifritz, angesehener Chef der Kreissparkasse Göppingen und seit zwei Jahren verwitwet, wollte das Wochenende vor dem Fernseher ausklingen lassen. Während die jüngere Tochter Marion im Obergeschoss Musik hörte, hatte er es sich gerade im Wohnzimmer beim Fernsehfilm Der Hauptmann von Köpenick gemütlich gemacht, den das ZDF anlässlich des 80. Geburtstags des Hauptdarstellers Heinz Rühmann zeigte.

Deshalb nervte das Klingeln an der Haustür. Seifritz sah auf die Uhr, erhob sich und drückte missmutig auf den Türöffner, fest davon überzeugt, dass gleich eine atemlose Manuela hereinstürmen würde, weil sie möglicherweise etwas vergessen hatte.

Doch Augenblicke später war alles anders: Im fahlen Licht der Diele tauchten zwei Gestalten auf und ließen hinter sich die Haustür zufallen. Einer war wie ein Polizist gekleidet, der andere zivil. Beide vollbärtig, die Augen mit großen Sonnenbrillen verdeckt, lange Haare. Seifritz stockte der Atem, ein nie gekannter Schock übermannte ihn. Erster reflexartiger Gedanke beim Anblick der grünen Polizeiuniform: War Manuela, der 21-jährigen Tochter, etwas zugestoßen? Ein Unfall?

Seine Augen hingen für eine Sekunde an dem Uniformierten, der doch zweifelsohne ein Polizist sein musste. Mit Mütze und dem baden-württembergischen Landeswappen am Ärmel des Anoraks. Gleich würde dieser Beamte eine schlimme Nachricht überbringen. Aber die große Sonnenbrille und möglicherweise eine Perücke mochten nicht zu einem seriösen Polizisten passen. Schon gar nicht jetzt, an diesem dunklen Märzabend.

Und auch der andere Mann, der zivil mit einem Trenchcoat bekleidet war, als sei er ein Kriminalist, trug ebenfalls eine große Sonnenbrille und wirkte genauso wenig vertrauenserweckend.

Seifritz stand wie gelähmt, spürte den Schreck in allen Gliedern – als sei sämtliches Blut in ihm gefroren. Denn augenblicklich erkannte er, was der Uniformierte versteckt gehalten hatte und nun auf ihn richtete: den Lauf einer Maschinenpistole. Die Hände in Handschuhen. Nein, das war kein Polizist.

Der andere hatte seine Hände tief in den Taschen vergraben. Ausgebeulter Stoff ließ eine verborgene Waffe befürchten.

Seifritz war sich schlagartig der Situation bewusst. Überrumpelt in der Wohnung. Keine Aussicht auf Hilfe. Überfallen und eingesperrt im eigenen Haus.

Im Berufsleben war er es als Bankchef und früher auch als Erster Staatsanwalt gewohnt, rational zu denken und entsprechend zu handeln. Jetzt verspürte er Ohnmacht, Panik und Angst. Gedemütigt und in grenzenloser Sorge um Marion, die sich im Obergeschoss aufhielt. Dazu die schreckliche Ungewissheit, was sie mit seiner anderen Tochter gemacht hatten, mit Manuela und deren Freund. Unterwegs auf der Fahrt nach Tübingen abgefangen?

 

»Wo ist die Frau?«, fragte der Uniformierte völlig unaufgeregt, als sei er sich ganz sicher, dass eine Ehefrau da sein müsste. Noch bevor Seifritz etwas erwidern konnte, traf ihn die Stimme des anderen Mannes ins Innerste: »Seien Sie still, sonst gibt es ein Blutbad.«

Seifritz stand wie erstarrt. »Blutbad«, hallte es in seinem Kopf nach.

»Wo ist die Frau?«, wiederholte der Uniformierte weiterhin ungewöhnlich ruhig.

Seifritz erwiderte mit zitternden Lippen: »Nur meine Tochter ist oben.«

Der Uniformierte fuchtelte mit der Maschinenpistole und bugsierte mit seinem Komplizen Seifritz ins Obergeschoss, wo Marion, die Musik gehört hatte, beim Auftauchen der Männer keinen Laut herausbrachte.

»Ihnen geschieht nichts, wenn Sie tun, was wir sagen«, versuchte der Uniformierte, die spannungsgeladene Atmosphäre mit leiser Stimme zu entschärfen.

»Was wollen Sie?«, wagte Seifritz einen ersten energischen Vorstoß.

Doch statt einer Antwort folgte die unmissverständliche Anweisung, dass Vater und Tochter getrennt würden: Er sollte sich im ehelichen Schlafzimmer aufs Bett legen, Marion in ihrem Zimmer.

Seifritz fühlte panische Angst: Überfall, Mord? Widerstand erschien sinnlos. Allein schon, wie der Uniformierte mit der Maschinenpistole hantierte, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass die beiden nicht mit sich verhandeln ließen. Seifritz flehte die Gangster an, ihn nicht von der Tochter zu trennen. Die Täter ließen sich erweichen: Marion durfte sich neben ihren Vater auf das Ehebett legen. Dort mussten sie jeweils eines ihrer Handgelenke an das des anderen fesseln lassen – mit einer metallischen Handschließe. Jetzt war jeglicher Fluchtversuch vollends unmöglich.

Seifritz, den der rasende Puls atemlos gemacht hatte, riskierte noch einmal die Frage: »Was wollen Sie denn?«

»Fünf Millionen«, gab einer der Räuber zu verstehen und setzte sich seelenruhig neben dem Bett auf einen Stuhl.

Der Bankchef versuchte, wieder langsamer zu atmen, sachlich zu bleiben. »Wo wollen Sie die herkriegen?«

Antwort: »Das ist Ihr Problem. Sie sind doch der Bankdirektor.«

Am nächsten Morgen, noch vor Geschäftsbeginn, sollte das Geld beschafft werden. Doch bis dahin lagen acht qualvolle Stunden vor ihnen.

2

Es wurde die schlimmste Nacht seines Lebens. Und auch Marion würde diese quälende Ungewissheit nie mehr vergessen. Mit einer Hand aneinander gekettet, so lagen Vater und Tochter, den Gangstern hilflos ausgeliefert, auf dem Bett. Voll innerer Unruhe, Angst und Panik. Die Räuber, die sich einen weiteren Stuhl ins Schlafzimmer geholt hatten, stellten immer und immer wieder dieselben Fragen nach den Sicherheitsvorkehrungen in der Hauptstelle der Kreissparkasse, nach Personen und den Örtlichkeiten. Seifritz konzentrierte sich auf die Gespräche und Formulierungen – genau so, wie er es einst als Staatsanwalt gelernt hatte. Als studierter Jurist versuchte er, sich so viel wie möglich von ihnen einzuprägen. Dass sie zwischen 30 und 40 Jahre alt und offenbar Deutsche waren; der Uniformierte ließ einen schwäbischen, der andere einen badischen Akzent anklingen. Sie pflegten einen gewissen seriösen Umgangston, blieben immer beim höflichen »Sie« und wirkten ziemlich gelassen und selbstsicher. Wie Profis, die so etwas schon öfters getan hatten. Die Vollbärte waren vermutlich angeklebt, die Frisuren wohl Perücken. Und die Sonnenbrillen, die sie weiterhin trugen, verbargen die Augenpartien.

Während der Gespräche, bei denen die Männer sachkundige Fragen stellten, erhärtete sich Seifritz’ Verdacht, einer von ihnen könnte sehr gute Kenntnisse über die Abläufe in einer Bank haben. Sei es aus eigener Anschauung oder indem er sich vieles davon hatte erklären lassen. Von wem auch immer. Oder war er gar ein Insider? Ein ehemaliger Mitarbeiter? Sie schienen bestens vorbereitet zu ein.

Jedenfalls hatten beide Gangster einen klar definierten Plan, dessen Realisierung sie zielstrebig verfolgten. Sie wollten mit Seifritz am Montagmorgen kurz vor Geschäftsbeginn in das hoch aufragende Bankgebäude am Göppinger Bahnhof gehen und sich die geforderten Millionen aushändigen lassen. Es schien so, als seien sie sich ihres Vorgehens absolut sicher. Auch wenn ein so hoher Betrag gar nicht im Tresor lagerte.

Vollmundig erklärten sie, im Auftrag »einer Organisation« zu handeln und von dieser auch unterstützt zu werden. Der Uniformierte ergänzte gelassen: »Nach Geschäftsbeginn werden im Schalterraum Personen mit Handtaschen sein, in denen Bomben und Granaten versteckt sind.« Beobachter würden sich zudem im gegenüberliegenden Bahnhof positionieren.

Seifritz plagte nur ein einziger Gedanke: ob es eine Chance gab, mit der Tochter zu fliehen. Doch die Handschließe saß fest, die Rollos an dem am Stadtrand gelegenen Haus waren alle geschlossen – und außerdem hatten die Räuber vorsorglich die Sprechmuschel aus dem Telefon geschraubt. Nichts, was sie taten, wirkte nervös oder fahrig. Es mussten wirklich echte Profis sein, dachte Seifritz.

Irgendwann löschten die kaltblütigen Räuber das Licht, verharrten aber auf ihren Stühlen, um ihre Geiseln in der Gewalt zu haben. Einer der Männer gab sich geradezu fürsorglich: »Ich empfehle Ihnen zu schlafen, denn Sie werden morgen gute Nerven brauchen.«

3

4 Uhr. Erst in drei Stunden würde die Sonne aufgehen. Noch war es stockfinstere Nacht. Seifritz und seine Tochter hatten keine Sekunde schlafen können, lagen schweigend beieinander und lauschten bange und aufgewühlt in die Finsternis. Denn nachdem die Räuber ihre bohrenden Fragen beendet und das Licht gelöscht hatten, war nur noch deren bisweilen schwerer Atem zu hören gewesen. Seifritz hatte einige Male überlegt, ob die Männer eingeschlafen waren. Doch an eine Flucht wäre selbst dann nicht zu denken gewesen. Immerhin waren die beiden schwer bewaffnet und er an seine Tochter gekettet. Schon beim geringsten Versuch, aus dem Bett zu steigen, wären die Gangster wach geworden – sofern sie überhaupt schliefen.

Seifritz kämpfte unablässig mit einem wilden Gedankenkarussell und versuchte vergeblich, das Schreckliche zu verdrängen, das mit seiner anderen Tochter geschehen sein konnte. War sie auf der Fahrt mit ihrem Freund nach Tübingen ebenfalls in die Hände von Kidnappern geraten? Er wollte die beiden Gangster lieber gar nicht danach fragen. Wieder quälten ihn auch in diesen Stunden die schmerzhaften Erinnerungen an seine Frau, die vor zwei Jahren freiwillig aus dem Leben geschieden war; ein Schicksalsschlag, den er nie würde verdrängen oder überwinden können.

Als plötzlich das Licht angeknipst wurde, fühlte er so etwas wie Erleichterung, obwohl das Schlimmste noch bevorstand. Der Uniformierte, der sich als Wortführer hervortat, gab das Kommando. Er werde jetzt Marion in ein sicheres Versteck bringen, wo ihr nichts geschehe, wenn ihr Vater die geforderten Millionen besorge, erklärte er so emotionslos, als rede er von einem ganz normalen Vorgang.

Marions Herz raste. Sie hatte unbändige Angst. Seifritz’ flehende Bitte, seine Tochter freizulassen, war nicht mehr als der vergebliche Versuch eines verzweifelten Vaters, die Gangster umzustimmen. Erneut spürte er, dass sie sich von ihrem Plan nicht würden abhalten lassen. Komme da, was da wolle. Als die Fesseln von den schmerzenden Handgelenken gelöst waren, umarmte Marion ihren Vater und weinte.

»Es passiert nichts, wenn wir das Geld kriegen«, stellte der falsche Polizist klar und forderte die junge Frau auf, Schlafsack, Wolldecke, Handschuhe und Wollmütze zusammenzupacken.

Seifritz war für einen weiteren Moment erneut geschockt, weil er angesichts der geforderten Utensilien befürchtete, sie würden Marion mehrere Tage in ihrer Gewalt behalten: »Wie lange soll das denn gehen?«

»Bis wir das Geld haben«, keifte der mit dem Trenchcoat, während der falsche Polizist sie unsanft die Treppe hinab in die Diele zerrte. Dort öffnete er vorsichtig die Haustür, vergewisserte sich, dass niemand auf der nur spärlich beleuchteten Wohnstraße unterwegs war, und deutete zu einem Verbindungsweg hinüber, der in der Stille des kalten Wintermorgens lag. Marion überlegte, ob sie um Hilfe rufen sollte, aber der Gedanke an ihren Vater, der sich in der Gewalt des anderen Gangsters befand, hielt sie davon ab. Der harte Griff, mit dem sie der Mann am Oberarm vorwärtszerrte, während sie Decke und Schlafsack festhielt, ließ jeden Fluchtgedanken im Keim ersticken.

Eine halbe Minute später hatten sie über den verwilderten Fußweg die nächste Wohnstraße erreicht, die hier mit einer Wendeplatte endete. Am Fahrbahnrand standen mehrere Fahrzeuge, auf die ihr Entführer zuhielt. Marion vermutete, dass sein Ziel eine helle Limousine war, vermutlich ein Audi. Beim Näherkommen glaubte sie, ein WN-Kennzeichen für Waiblingen erkannt zu haben. Aber viel zu schnell hatte sie der Mann zur linken hinteren Tür bugsiert, diese geöffnet und nun charmant flüsternd gesagt: »Bitte einsteigen.« Marion tat wortlos, was ihr befohlen wurde. Sie musste sich auf den Rücksitz legen, sich vollständig in die Decke einhüllen und die Wollmütze tief ins Gesicht und somit über die Augen ziehen. Sie sollte nicht sehen, wohin die nächtliche Fahrt ging.

Der Gangster setzte sich hinters Steuer, ließ die Tür sanft zufallen und fuhr zügig los. Marion wagte nicht, den Kopf zu heben. In der Dunkelheit hätte sie aus ihrer liegenden Position heraus auch nichts von der Landschaft erkennen können. Stattdessen versuchte sie, sich anhand der Kurven und Abbiegevorgänge die ungefähre Route vorzustellen. Ihrem Gefühl nach zu urteilen, waren sie vom Göppinger Stadtrand gleich in die Vororte gefahren, Richtung Bartenbach und hinüber nach Rechberghausen. Vermutlich ging es zu den Anhöhen des Schurwaldes hinauf und dann hinüber ins Remstal. Jedenfalls zunächst bergauf.

Sie hätte nicht sagen können, wie viel Zeit schon verstrichen war, als der Wagen deutlich spürbar von der Hauptverkehrsstraße abbog und offenbar auf kleineren, holprigen Wegen weiterfuhr. Wenig später schienen sie ihr Ziel erreicht zu haben. Der Wagen stoppte.

Noch immer war es Nacht, und hier, wo sie sich nun befanden, gab es auch keine Straßenlampen. »Endstation«, knurrte der Mann, stieg aus und öffnete die linke Tür des Fonds. Marion streifte sich die Wollmütze vom Kopf und warf die Decke beiseite. Ihre Beine waren eingeschlafen, und sie tat sich mit dem Aussteigen schwer. Weil sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie die nachtschwarzen Umrisse von Sträuchern und Weidezäunen erkennen. Sie befanden sich eindeutig weit außerhalb einer Ortschaft. Am Horizont war nur schwaches Streulicht einer möglicherweise nahen Stadt auszumachen.

Der Mann packte sie am Oberarm und zerrte sie ein paar Schritte vom Auto weg in Richtung auf ein kleines Gebäude, das sich vor dem nahen finsteren Waldrand abzeichnete, der den ansteigenden Wiesenhang begrenzte. Im Dunkeln war eine heraneilende menschliche Gestalt zu sehen – ein Mann, wie sich sofort herausstellte. Der nahm sie unsanft in Empfang und zog sie an den gefesselten Armen wortlos über den Steilhang zu der kleinen Behausung hinauf, vermutlich einer Hütte. Sein Komplize stieg wieder in das Auto, und die Rücklichter verschwanden in der Nacht.

Marion schwieg und ließ sich im Schein einer schwachen Taschenlampe widerstandslos in das kalte und dunkle Versteck bringen, das nach altem Heu, Moder und Spiritus roch. Dort loderte die Flamme einer altertümlich anmutenden Sturmlaterne, sodass sie jetzt auch den Kopf des Mannes sehen konnte. Allein dieser Anblick war furchterregend. Denn der Mann, der kein Wort sprach, hatte sich einen Damenstrumpf übers Gesicht gezogen. Wie in einem Horrorfilm. Doch dies hier war bittere Realität.

Der Raum erinnerte im flackernden Licht der Flamme an ein verlassenes Wochenendhäuschen: Tisch und Stühle wie aus dem Sperrmüll, abseits davon eine längliche Sitzbank mit Polster. Der Maskierte zerrte Marion auf diese Bank, auf der sie sich zusammenkauerte, während ihre Fußgelenke mit einem Paketklebeband gefesselt wurden. So lehnte sie, erschöpft und sich ihrer hilflosen Lage vollends bewusst, in der Ecke.

»Wie lang soll das gehen?«, fragte sie leise, doch ihr Bewacher schwieg und legte ihr ein Handtuch über den Kopf. Sie sollte bei aufkommender Helligkeit nicht sehen, was um sie herum geschah. Das Tuch gab trotzdem einen kleinen Sichtspalt frei, sodass sie beobachten konnte, wie der Maskierte nervös auf und ab ging und oftmals durch ein Fenster nach draußen schaute.