Transzendierende Immanenz

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Sari: Orbis Romanicus #14
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Steht diese Intelligenz im Dienste geistiger Ziele „erhebt sie sich über Schlauheit und List“30. Auf der psychischen Seite bedeute dies die „plötzliche aufspringende

Einsicht

 in einen zusammenhängenden

Sach- und Wertverhalt

 innerhalb der Umwelt“31. Mit dem Hinweis auf die Köhlerschen Studien zu Schimpansen diskutiert Scheler, ob diese Art der Intelligenz zumindest einigen wenigen Tieren zugeschrieben werden kann und kommt zu dem Schluss, dass Köhler mit „vollem Recht seinen Versuchstieren einfachste Intelligenzhandlungen“32 zuspreche:



auch nicht feste, typisch wiederkehrende Gestaltstrukturen der Umwelt lösen das intelligente Verhalten aus – vielmehr sind es vom Triebziel determinierte, gleichsam

ausgewählte Sachbeziehung

 der wahrgenommenen einzelnen Umweltteile

zueinander

, welche das Aufspringen der neuen Vorstellung zu Folge haben: Beziehungen wie gleich, ähnlich, analog zu x, Mittelfunktion zur Erreichung von etwas, Ursache von etwas.33



Der vom Ziel gepackte Trieb verlängere sich sozusagen in die Umwelt des Tieres hinein und verwandele darin befindliche Dinge in Quasi-Gegenstände zu seiner Erreichung: „Die Triebdynamik des Tieres selbst ist es, die sich hier zu ver

sach

lichen und in die Umgebungsbestandteile hinein zu

erweitern

 beginnt.“34 Wir beginnen hier – nach Scheler – „das Kausal- oder Wirkphänomen“ in seinen Ursprüngen zu „belauschen“35. Allerdings handele es sich hier nicht um irgendeine reflexive Tätigkeit, sondern um „eine Art

anschaulicher

Umstellung der Umweltgegebenheiten selbst. Aber es ist doch echte Intelligenz, Erfindung, und nicht nur Instinkt und Gewohnheit.“36





Der Mensch ist weltoffen



Bis zu dieser Stelle der Beschreibung des Lebendigen reichen die von Scheler so genannten seelischen oder psychischen Stufen: „Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz und Wahl“1 und es stellt sich ihm nun die Frage, ob zwischen Mensch und Tier nur ein gradueller oder ein wesentlicher Unterschied bestehe. Eine Gruppe sehe sich gezwungen einen „überquantitativen Unterschied“2 zu machen und den Tieren Intelligenz grundsätzlich abzusprechen, die andere verlängere das oben Beschriebene, was zur Theorie des «homo faber»3 führe. Beiden Seiten versagt Scheler seine Zustimmung und meint:



Das Wesen des Menschen und das, was man seine

«Sonderstellung»

 nennen kann, steht

hoch

 über dem, was man Intelligenz und Wahlfähigkeit nennt, Das neue Prinzip steht

außerhalb

 alles dessen, was wir «Leben» im weitesten Sinne nennen können. Das, was den Menschen allein zum «Menschen» macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens – erst recht nicht nur eine Stufe der

einen

 Manifestationsform dieses Lebens, der «Psyche» –, sondern es ist ein allem und

jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip:

 eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die «natürliche Lebensevolution» zurückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt: auf denselben Grund, dessen eine große Manifestation das «Leben» ist.4



Die Griechen nannten diese

eine echte neue Wesenstatsache

, welche allein auf

den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt,

 «Vernunft»5 und statteten sie im

nous poietikos

6 mit eigener Handlungsenergie aus. Scheler erweitert diese Vorstellung des «

Ideendenkens

»7 um „eine bestimmte Art der «

Anschauung

», die von Urphänomenen oder Wesensgehalten, ferner eine bestimmte Klasse

volitiver

 und

emotionaler Akte

wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung mit umfasst“8, und nennt sie «

Geist

»9. Dessen Sitz sei die «

Person

»10, welche nicht zu den psychischen Lebenszentren gehöre. Er charakterisiert Geist vor allem durch dessen „

existentielle Entbundenheit vom Organischen

, seine Freiheit, Ablösbarkeit von dem Bann, von dem Druck, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom «

Leben

» und allem, was zum Leben gehört – also auch von seiner eigenen triebhaften «Intelligenz».“11



In der Folge besitzt also ein

geistiges

 Wesen wie der Mensch eine singuläre, diesen von allen anderen Lebewesen unterscheidende Freiheit. Er sei „umweltfrei und, wie wir es nennen wollen, «

weltoffen»

: Ein solches Wesen hat

«Welt»

.“12



Das mit Geist begabte Lebewesen Mensch gehe nicht wie das Tier ekstatisch in seiner Umwelt auf, sondern könne das „

Sosein

 dieser Gegenstände prinzipiell

selbst

“13 erfassen, weitestgehend ungestört von den Triebsystemen. Deshalb bedeutete die Begabung mit Geist vor allem das Erfassen der Welt als eine sachliche: „Geist ist daher

Sachlichkeit

, Bestimmbarkeit durch das Sosein von Sachen selbst. Geist «hat» daher nur ein zu vollendeter Sachlichkeit fähiges Lebewesen“14. Vollendete Sachlichkeit heißt hier, im Besitze vollständiger Gegenstandskategorien zu sein, welche es dem Menschen erlauben, einen Gegenstand auch unter veränderten Bedingungen, selbst als veränderten Gegenstand noch identifizieren zu können. Die Welt löst sich dem Menschen nicht in triebbestimmte Beziehungen auf, sondern ihre Gegenstände bleiben isoliert und bestimmbar. Der geistbegabte Mensch kann sozusagen durch sich hindurch, unter Hintanstellung seiner selbst auf die Welt hin blicken. Was er sieht, weise zugleich über sich hinaus in eine Offenheit, welche den Bann der tierischen Umwelt hinter sich gelassen habe. Im Blick des Menschen eröffne sich nun zugleich das, was hier und jetzt nicht zu sehen ist, das Nichtanwesende, die Negation des positiven Teiles der erfahrbaren Welt:



Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße «weltoffen» verhalten kann. Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes.15



Der Geist ist das Organ, vermittels welchem der Mensch mit dem Weltengrund direkt und vor allen anderen Lebewesen verbunden sei. Es sei der Geist, der ihm echte Einsicht in den Aufbau der Welt gewährt, da der Geist durch das Handeln des Menschen, seines

non non fiat

, der Welt als Drang entsagt und so dem Geist die Energie verleihe, den Weltengrund zu erkunden. Im Menschen träfen sich Geist und Leben.



Der Mensch ist nach Scheler kein vom andrängenden Leben auf einer ihm sich als Widerstand offenbarenden Welt hin fortgetriebenes Wesen, sondern (anders als bei Alsberg in der Durchführung seiner intelligiblen Instrumentenmacherkunst sich weiterentwickelndes Tier) eines, welches die Einheit dieses und ein dem Leben entgegen gesetzten Prinzips, des asketischen Prinzips des Geistes, der mit Einsicht in den Wesensgrund der Welt jenen Drang so zu regieren wisse, dass er in

actio

 der

natura naturans

 des sich entwickelnden Göttlichen mittue16 und der Welt auch ihr innerstes Leben ablausche, darstelle. Das Schelersche Lebewesen Mensch ist ein

anthropos metaphysikos

, ein Wesen also, welches im Unterschied zu allem übrigen Leben als einziges qua seines Geisthabens Einsicht in die Wesenszusammenhänge besitzt. Kein werkzeugintelligentes Tier also, sondern mit Selbstbewusstsein ausgestattet erscheint der Mensch. Dieses Selbstbewusstsein ist das Resultat einer „zweiten Dimension und Stufe des Reflexaktes“17 und zugleich der Vollzug des ungegenständlich Geistigen, welcher allein im Akte der Sammlung erreicht werden kann.



Sammlung, Selbstbewusstsein und Gegenstandsfähigkeit des ursprünglichen Triebwiderstandes bilden

eine einzige unzerreißbare Struktur

, die als solche erst dem Menschen eigen ist.“18



Mit der Fähigkeit zur Gegenständlichkeit sowohl seinem Körper wie der Welt gegenüber, kann der Mensch die für seine Beziehung zum Weltengrund entscheidende Frage stellen: Warum ist Etwas und nicht viel mehr Nichts? In dieser Frage ließen sich alle Fragen nach den jeweilig einzelnen Wesen zusammenfassen. Es ist die Frage nach dem

to ón

 dem höchsten allgemeinen Seinsbegriff sowie nach dessen umfassender allübergreifender Ordnung19. Nichts anderes bedeutet die Schelersche Wesensschau als die Einsicht in diese Ordnung via Reduktion der Vielfalt der Welt auf Exempla dieser und deren Ansicht als Ideen.





Der Künstler und der Metaphysiker



Zwingend muss Scheler die Existenz eines „

übersingulären Geistes

“1 annehmen, wenn er „eine in dieser Welt sich realisierende Ideenordnung unabhängig vom menschlichen Bewusstsein annehmen und dem Urseienden selbst als eines seiner Attribute zuschreiben“2 möchte. Da Akt und Idee bei ihm in einem Wesenszusammenhang stehen, resultiert aus dieser Mechanik der „Weltrealisierung“3 und dem entsprechenden menschlichen Mitvollzug der Zusammenfall von „Auffinden“ und „Entdecken“4, ein „wahres

Mit

hervorbringen“5 aus dem „Zentrum und

Ursprung

 der Dinge selbst heraus“6. Die Klammer, welche die Welt als drängenden Willen einerseits und ordnenden Geist andererseits zusammenhält, verbürge, dass auch der Mensch als Leben und Geist in sich fassendes Wesen sich auf den Urgrund dieser Dynamik zurückbeugen könne, Einsicht in dessen Entwicklung genieße und es ihm ermöglicht werde, tatkräftig daran mitzuwirken. Die Figur des Künstlers ist demnach eine der sozialen Typen – wie auch der Philosoph etc. –, welche neben Gott diese Einsicht in Werke umzusetzen wisse. Der Mensch als Künstler besitze weit über das übliche Erkenntnisniveau der Menschen allgemein hinaus quasi göttliche Einsicht in den Weltengrund und teile diese durch sein Werk der Menschheit mit.



An der Figur des Künstlers bestätigt Scheler in ausgezeichneter Weise seine Ausgangsthese, dass die Wesensbestimmung des Menschen als ein Sonderfall in der Welt des Lebendigen zu Recht bestehe. Denn als

homo faber

 wisse der Künstler zweckgerichtetes Handeln umzusetzen, ein Werk zu erschaffen, und als

anthropos aesthetikos metaphysikos

 besitze er echte Einsicht in die Wesenszusammenhänge. Das berühmte Kantische Diktum des Künstlers als Genie7, dessen

ingenium

 der Kunst ihre Gesetze vorzuschreiben wisse, erfährt hier eine der möglichen Auslegungen, denn der Schelersche Künstler lässt die Gesetze der Welt aus einer Einsicht in die Wesenszusammenhänge heraus in sein nach ästhetischen Kriterien erschaffenes Werk einfließen, welches als idealische Einheit zwar selbst keine Welt schafft, sondern nur bildet, „

was nicht da

ist, was aber «würdig» wäre, «verdiente», da zu sein nach gewissen ästhetischen Wertideen.“8.

 



Beide, der Künstler und der Metaphysiker bedienen sich zur Erlangung ihrer Einsichten bzw. Ideen – was Scheler für den Künstler „conceptio“9 nennt – der Methode der „Daseinsreduktion d.h. durch bewusste Zurückhaltung alles «Begehrens», im Verhältnis zu welchem Welt nur als «real» gegeben ist.“10



Das Ziel des Metaphysikers sei die Erkenntnis des Ganzen, das des Künstlers das Werk, welches er als „ein kleiner Gott –

schafft

  eine Welt – aber im Kleinen in der Zeichensprache der Qualitäten der verschiedenen Sinne und nach den Gesetzen dieser Zeichensprache für jede Kunst eine eigene.“11



Allerdings leiten den Künstler dabei seine „ästhetischen Wertideen“12. Der Künstler begibt sich also „an eine Werdestelle der Welt“13, wo er dem Grunde der Dinge ansichtig werden konnte, noch bevor „sie das «fiat», der rational undurchdringliche Wille noch nicht so oder anders ins Dasein setzte, da sie nur ihrem Wesen und ihren Ideen nach vor seinem Geiste gleichsam ausgebreitet lag.“14



Seine Kunst besteht darin, das Erschaute in der geistigen Objektivierung des Geschauten zur Darstellung zu bringen, sei es als Maler, als Bildhauer oder Dichter etc. Den Prozess der Objektivierung beschreibt Scheler als:



er steigt vom Keime eines gegebenen Urphänomens herab und exemplifiziert das Urphänomen an dieser konkreten Gestalt, die er als ideales Bild frei erschafft.15



Allerdings erlange der Künstler selbst erst die wirklich volle Einsicht in das ihm in seiner

conceptio

ursprünglich nur „keimhaft“16 Gegebene allein im Prozess und „

kraft

 des Darstellungsprozesses selbst“17, durch die Arbeit nämlich an der Materie, dem Malen, Bilden oder der „Wortfindung“18. Im Prozess der „darstellenden Exemplifizierung“19 gewinnt der Künstler die Gestalten, welche am Ende das Werk ausmachen werden. Nicht also lässt der Künstler im Werk schlicht Wesenheiten anschaulich werden, sondern „

nur die ästhetisch-werthaltigen

“20, die ausgewählt werden durch die Führung der „ästhetischen-geistigen Augen unseres Herzens“21. Die Beteiligung

unseres Herzens

 an der Auswahl des ästhetisch Wertvollen deutet schon darauf hin, dass es sich hier nicht um eine Aufgabe des reinen Geistes oder der Vernunft handelt. Weit davon entfernt, denn schon in der elementaren Anlage des Menschen – der Physiologie seiner Nervenwege – für die natürliche Wahrnehmung spielt die Selektion eine Rolle:



Unser inneres Gesetz ästhetisch-triebhafter Aufmerksamkeit «wählt» gleichsam (ohne und vor bewusster Wahl) aus den Empfindungsmöglichkeiten diejenigen zur Realisierung der aktuellen Empfindung aus, die Teilelemente «guter» d.h. prägnanter Gestalten sind.22



Soweit die physiologische Grundlage der ästhetischen Intervention in das Leben der Lebewesen allgemein. Diese bildet jedoch nur den Hintergrund jedes künstlerischen Umganges mit den Materialien, auch den imaginären, welche die Physis dem Menschen bereitstellt. Der Künstler nimmt – im Sinne Schelers Menschbild – gegenüber diesen eine asketische Haltung als Neinsager zur Triebhaftigkeit ein, um erst aus dieser Distanz heraus, sich ihnen wieder zuzuwenden. Dennoch behauptet Scheler in der Kosmosschrift:



Was im Menschen im eigentlichen Sinne schöpferisch mächtig ist, ist nicht das, was wir «Geist» (und die höheren Bewußtseinsformen) nennen, sondern die dunklen unterbewussten Triebmächte der Seele, und dass die menschliche Schicksalsbildung des Einzelwesens und der Gruppe vor allem von der Kontinuität dieser Vorgänge und ihrer symbolischen Bildkorrelate abhängt – wie auch der dunkle Mythos nicht sowohl ein Produkt der Geschichte ist, als vielmehr er den Gang der Geschichte weitgehend bestimmt.23



Scheler lässt hier die an der Kreativität beteiligten Kräfte im Menschen zwischen der Triebaskese des Geistes und dem ekstatischen Wesen des Drangs hin und her gehen und markiert so den Moment, an dem beide Extreme biologisch wie metaphysisch im Menschen vereinigt als „aufeinander hingeordnet“24 betrachtet werden können. Er steht damit in der Nachfolge Nietzsches aus der

Geburt der Tragödie

, mit dem Unterschied, dass die Kräfte des Apollo und des Dionysios sich nicht im Konflikt begegnen, sondern sich in der teleoklinen Entwicklung der Welt ergänzen. Beide sind es auch, welche dem Menschen strukturellen wie tätigen Anteil an dieser Entwicklung gewähren. Allerdings wird dem Geist abgesprochen Macht zu besitzen. Diese kommt allein den unterbewussten Triebmächten der Seele zu, doch kann der Geist ordnend und lenkend auf diese einwirken, wie wir aus der Dialektik erkennen können, welche Scheler dem Mythos sowohl als Produkt wie als Agens der Geschichte einräumt.



In der dialektischen Bewegung beider Prinzipien, dem des Geistes und des Dranges, wird der Kunst als darstellender Erkenntnis und Vermittlung von Scheler auch Geschichtsmächtigkeit zugesprochen. Die Leistung des Geistes nach Scheler besteht darin, dass dieser der „ursprünglichen

produktiven

Einbildungskraft durch das Triebleben der Vitalseele“25 angetrieben in kritischer Korrektur und Auslese immer mehr an Reife abgewinnt und dem Menschen so die Möglichkeit eröffnet, der Welt ganz allgemein als Erkennender zu begegnen, ihm andererseits aber auch – indem die noetischen Akte des Geistes in den Dienst der Kunst gestellt werden –, das

poietische

 Schaffen im Dienste künstlerischer Erkenntnis ermöglicht. Der seelische Schauplatz dieser Vorgänge ist das Reich der Phantasie.





Die Phantasie



Phantasie definiert Scheler als eine

ursprünglich produktive Einbildungskraft

1 und „höchste vorstellende Funktion, zu der es die Vitalseele bringt“2, von Trieben angestoßen, vom Geist geleitet. Sie ist ihm als pure Phantasie „eine ideen-wert-wahrheit-falschheit-wissens-täuschungs-

blinde

 Fähigkeit der

Vital

seele“3. Schon die natürliche Wahrnehmung besteht für Scheler aus der Dreiheit „Empfindung + Gedächtnis + Phantasie“4. Durch kritische Intervention des Geistes werde die lebendige Phantasie gezügelt und der Mensch lerne nach und nach unter der von ihr bereit gestellten Bilderflut (auch Gefühlsphantasie, Strebensphantasie5) diejenigen auszuwählen, welche ihn zur Beobachtung, die erst das Resultat eines langen Reifungsprozesses sei, führten. Wir treffen hier wieder auf die These der Dissoziation als des eigentlich für die Menschwerdung entscheidenden evolutionären Vorganges. Das evolutionäre Sonderprodukt Mensch weiß grundsätzlich – im Unterschied zum sich immer ekstatisch verhaltenden Tier –, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Die „seltsame Fähigkeit“6 des Menschen Gegenstände zu erschaffen, die



«ficta» heißen und die, obzwar sie kein anderes Sein haben können als jenes daseinsfreie So-sein, das auch – obzwar nicht nur – bewusstseinsimmanent ist und Bewusstseinsimmanentem immer zukommt, sich doch vom Augenblicksbewusstsein, in dem sie zuerst auftauchten, ja sogar von individuellen Bewusstsein loslösen können, dann durch eine Mehrheit von Akten identifizierbar sind, ja sogar von vielen Individuen identisch gehabt werden können. Die Zahl 3, das Dornröschen, der Gott Apollo als kollektives fictum des griechischen Volkes z.B. sind ficta.“7



Die Phantasie schließe den offenen Raum, der „zwischen «Wesenserkenntnis» und «zufälliger Erfahrung» (Sinneserfahrung) gähnt.“8 Sie sei indifferent gegenüber Wahr und Falsch. Aber nach Scheler kann man mit Hilfe der Vorstellung durchaus „etwas bemerken“9, was in der akuten Wahrnehmung verborgen bliebe. Die Phantasie sei also unter kritischer Anleitung des Geistes der Erkenntnis förderlich. Doch in ihrer Unabhängigkeit gegenüber Wahrheit und Täuschung sei sie das Reich der Freiheit für die Kunst; sie sei das Agens für die Schau der Ideen, worin wie oben erwähnt die Zahl 3 oder das Dornröschen für alle identisch geistig geschaut werden könne. So hält sie für die Kunst die Möglichkeit parat, ihr Material so zu bilden, dass es sowohl als Identisches wie als Vielfältiges betrachtet werden kann. Das künstlerische Werk könne vermittelst ihrer zwischen Einheit und Vielfalt oszillieren, solange es der Künstler vermag, eine wesentlich erkennbare Identität zu stiften. Diese grundsätzliche Ambivalenz des künstlerischen Werkes findet ihre Entsprechung in der Rückbindung bzw. Exemplifizierung der künstlerischen Einsicht in das künstlerische Material, welches per se Vielfalt ist, denn es stammt aus dem bildschaffenden metaphysischen Prinzip des Dranges, der im Grunde nur Chaos10 und keine Ordnung sowie der damit verbunden Möglichkeit der Identität eines Gegenstandes kennt.



Denkt man sich den Schelerschen

übersingulären Geist

 an der Realisierung der Welt durch den Drang und mit Hilfe des Menschen am Werke der Geschichte, so fragt man sich bei der Vielfalt und Kontingenz der Erfahrungswelt nach den unterschiedlichen Aufgaben, welche die Menschheit als unterschiedenes Ganzes dabei übernehmen kann. Dem schafft Scheler durch eine Analyse nach Kriterien sozialer Konvenienz Abhilfe. Er unterscheidet neben der Masse der Menschen, welche immer anonym dazu verdammt sei zu folgen, nach der Kategorie des „Vorbildes“11 und der Nachahmung die Typen des „Heiligen, der geistigen Werte, des Edlen, des Nützlichen und des Angenehmen“12 und bestimmt sie als Träger

apriorischer

13 Wertideen. Diese Typen des Menschlichen stehen jedem einzelnen als Vorbilder zur Verfügung und jeder Typ für sich genommen stelle einen möglichen Weg für den Menschen dar, damit er durch die Nachfolge die Enge seines individuellen Bewusstseins überkomme. Die Vorbilder seien ideale Wertgestalten, in die sich die Einzelnen in der Nachfolge hineinbildeten und sich somit entwickelten. Die unterste Stufe der Übergabe der Vorbilder wäre nach Scheler ein „dunkler physischer Vorgang der Vererbung“14, doch die Geschlechtsliebe – nicht der Geschlechtstrieb – besitzt nach ihm eine teleologische Tendenz und führt den Liebenden zum passenden Partner, um die entsprechend passenden Erbwerte in der Nachkommenschaft zu entwickeln. Die Tradition stehe „zwischen Vererbung und verstehender Aufnahme (Belehrung, Erziehung) in der Mitte“15. Im Tradierten vermeine man, das Eigene zu tun und zu erkennen. Es sei die unwillkürliche nicht bewusste Nachahmung, welche die Tradition als Form bestimme. Der dritte Modus der „Vorbildwirksamkeit heißt geistiges Verstehen und darauf fußender «

Glaube an

» Personen.“16 Erst hier komme ein bewusstes Verwerfen oder Anerkennen der Werte und Akte des Vorbilds ins Spiel und erst auf dieser Stufe könne man von „freier

Nachfolge

“17 sprechen, als welche das große Vorbild die Nachfolge Christi18 benannt wird.



Der Künstler schaffe in seinen Werken die Vorbilder für die Nachahmung, wie den Helden im Mythos, und er schaffe damit zugleich auch die Schemata, welche als handlungsleitende Vorbilder eines Volkes oder einer Kulturgemeinschaft rückwirkend auf dessen Geschichte Einfluss nähmen. Dennoch bleibe die

freie Nachfolge

 der künstlerisch angebotenen Vorbilder durch den Werkcharakter der Schöpfungen, welche als solche Symbole der Eigenwelt des Künstlers sind, bestimmend. Kein kollektiver Zwang vermöge es, eine ästhetische Wahl wahrhaftig zu beeinflussen. Die Freiheit der Nachfolge werde durch das Wesen des Werkes garantiert.



Ist Eros das „Leben des Lebens“19, so ist der genialische Eros der Geist des Geistigen. Er ist der „

positive Akt einer geistigen Liebe zur Welt

“20 und das

„positive Bewegungsprinzip

 des Geistes“21, welches dem Fundament der genialischen Anschauung der Welt zugrunde liege. In kritischer Zurückweisung der Schopenhauerschen und Kantischen

Interesselosigkeit

 als Grundlage für die kognitive wie ästhetische Betrachtung, welche nach Scheler schließlich das „Verschwinden aller Inhalte“22 zur Folge hätte, gilt für ihn die “Grundgesinnung“23 der genialischen Seele als eine der Welt schlechthin zugewandte. Der Metaphysiker und Phänomenologe Max Scheler ist in seinem Inneren ein Erotiker des Lebens und hinsichtlich der Kunst gilt für ihn, dass ihr Ursprung in der Feier des Lebens zu suchen sei24 und nicht wie von einer Gesellschaft mit „Magenproblemen“25 behauptet in der Arbeit. Für Scheler ist es die Überfülle des Lebens, das Fest:

 



Die künstlerische Tätigkeit, die in der Ausdruckstätigkeit wurzelt – schließlich die

objektive Ausdruckstätigkeit

 ist, die in der drängenden Kraft der Selbstrealisierung des Konzeptionsgehaltes liegt –, ist sicherlich zuallerst Ausdruck des erotischen Gefühls. Der «<i