Transzendierende Immanenz

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Sari: Orbis Romanicus #14
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Kunst und Realität

Die Bestrebungen des Typus Mensch als Genius richteten sich überdurchschnittlich „in geistiger Liebesleidenschaft auf das Wesenhafte und Ideenmäßige der Welt“1. Sie richteten sich auf „den Logos der Welt“2, den Scheler als „die ewigen Gedanken Gottes in der Schöpfung“3 beschreibt. In den Händen des Künstlers werde dieser Logos zur „geistgewordenen Form“4. So wird der Künstler ein Vorbild in der Erkundung und Feier des Reichtums der Welt. Er ist nicht deren Maître de cérémonie, sondern ihr erfindungsreicher Ausrichter. Damit lehrt er seine Festteilnehmer das sinnliche und geistige Erfassen der Welt im Symbol seiner – des Künstlers – Schöpfung, seines Werkes und bereichert so auch ihr seelisches Leben im „Nachvollzug seiner Darstellungsprozesse, seiner (des Weisen) Haltung, Lebens- und Seelentechnik.“5 Mit der Schaffung neuer Werke vermehre der Künstler das geistige Kulturgut des Menschen, welches „den objektiven Wert der Welt dauernd vermehrt“6. Der natürliche Mensch, schreibt Scheler7, ist von den Täuschungen, welche ihn beherrschen und bedrängen, befangen, der Künstler in Gestalt des Dichters jedoch durchbreche diese Schicht, indem er den Drang, der sich in den verkrusteten Formen der Sprache manifestiere, hemmt und zum inneren Sinn8 der Sprache vorstoße.

Die wahre Dichtung lehrt uns – weit hinaus über den Gehalt der Dichtung –, überhaupt formvoll zu erleben, das Unmittelbarste unserer seelischen Betätigung zu ergreifen – die Seele als werdende, als erlebende.9

Das Anhalten des vorbeiziehenden Lebens in künstlerischen Formen und Gestalten und damit dessen Betrachtungsmöglichkeit sei in der seelischen Vertiefung, welche ein derartiges Erleben mit sich bringe, selbst die höchste Vollendung des Lebens im Augenblick „der Konzeption“10. Im Kunstwerk werde die „Konzeption – als Beispiel für andere“11 dargeboten. Und in diesem Augenblick treffe sich der Gipfel des Lebens mit dem Beginn der Kunst:

Zuerst war die Seele stumm, blind, – mehr die Möglichkeit der Seele als Seele. Die erste künstlerische Tätigkeit – der Liebe entlang gehend – brachte sie zur Realisierung, zum abgegrenzten Erlebnis – wie Bedeutung die Einheit der Wahrnehmung, der Vorstellung ausmacht.12

Der Künstler sei nur die Spitze einer Funktion, welche im Inneren des Menschen die Tätigkeit eines jeden einzelnen ist und dieses „seelische Geschehen ist – realiter – nur die andere Seite unserer vitalen Tätigkeit.“13

Voraussetzung dieser Konstruktion ist die Annahme, dass die Substanz der Welt, das hypokeimenon, eine dynamische ist, welche sich in Form von Geschichte entwickelt.

Resümee

Noch hängt die Beschreibung des Menschen bei Scheler an einer metaphysischen Konstruktion. Doch der Weg, die Erscheinung des Menschen aus der Immanenz der Welt denkbar werden zu lassen, ist in seinem kurzen Entwurf Die Stellung des Menschen im Kosmos unverkennbar vorgezeichnet.

Jenes Sein, welches wir Geist nennen, vollzieht nach Scheler einen asketischen Akt der Entwirklichung oder anders ausgedrückt, einen Akt der Einverweltlichung. Er lockert und bereichert die Welt in ihrer Substanz als eine dynamische. Im Menschen – im Künstler nach seiner Art – verklammern sich Geist und Leben und arbeiten im Verein an der Welt.

Das Haben von Vorstellungen bei Scheler, vom Gefühlsdrang gespeist und Resultante einer vorgängigen triebhaften Aufmerksamkeit wie zudem eines höchst innerlichen Zusammenhangs zwischen Tun und Leiden, wobei Tun das Erstere ist, bezeugt ein für den Menschen mittelbares, durch sich selbst geführtes Weltverhältnis.

In der Eigenbewegung des tierischen Lebens verliert dieses das strenge Verhaftetsein der Pflanze an ihrem Ort – in ihrem Sein. Diese erweiterte Bewegungsform – nicht mehr nur Selbstausdehnung – und Lockerung des Seins verlangt nach einer Veränderung der inneren Struktur. Der Organismus antwortet darauf mit dem Auftreten des Instinktes. Scheler bestimmt ihn als eine teleokline, mehrgliedrige Zeitgestalt, als „Rhythmus“1. Er dient zur Lebenssicherung. Also schon bei den Wurzeln des Lebendigen selbst, erscheint der Rhythmus als gegliederte, teleokline Zeitgestalt, als Figur der geordneten und zielgerichteten bewegten Bewegung und als Anker des Lebenswesens im Sein.

Die Lockerung des lebendigen Seins ist Bedingung und Möglichkeit von Kultur und das Haben von Realität zugleich.

Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes1
Der Mensch oder die ontologische Leerstelle auf der philosophischen Bühne

Um das Denken Helmuth Plessners auch nur in seinen Grundzügen zu beschreiben, ist es unumgänglich, sich zurück zum Urheber der philosophischen Moderne zu begeben, zu René Descartes. Als dieser die Welt in res cogitans1 und res extensa unterteilte, musste das lebendige Wesen Mensch dadurch notwendig aus dem Blickfeld der Philosophie geraten. Denn zwischen Geist (esprit) und Materie zerfiel das Lebendige in entweder Psyche oder Ding, welche entweder den reinen Gesetzen des immateriellen Daseins, des Denkens, Wollens und Vorstellens, oder den Gesetzen von Stoß und Zug, den Gesetzen der Mechanik allein gehorchten. Zwischen beiden Substanzen entstand eine unüberbrückbare Kluft, eine ontologische Leerstelle, ein Chorismus, welcher keinen Übergang erlaubte. Die Lebewesen, wie auch der Mensch als Körperding, wurden zur unbelebten Materie gerechnet, welche allein mit dem Geist, dem Pneuma verkoppelt – dies gerann Descartes selber noch zur Substanz2 – bewegt werden konnte. Damit war das Lebewesen Mensch als Studienobjekt vom philosophischen Denken ausgeschlossen. Die Probe aufs Exempel liefert Kants Schrift zur Anthropologie, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht3, welche der allgemeinen Welterkenntnis diente, in seine philosophische Systematik jedoch keinen Eingang fand. Für Kant blieb die Anthropologie eine grundsätzlich empirische Wissenschaft und konnte deshalb kein Fundament für systematisches Philosophieren sein4. Auch das eine der möglichen Konsequenzen aus dem Descartschen Dualismus.

All dies führte zur Abwesenheit des Menschen auf der philosophischen Bühne. Plessner macht nun den Versuch dies zu ändern. Er findet im Menschen selbst den Schlüssel zur Verklammerung der von Descartes so streng getrennten Welten und vereint ihn wieder mit dieser. Eine Aufgabe, vor der die Philosophie seit dem Dualismus Descartes den Mut verloren zu haben schien5. Es geht Plessner also um den Menschen „als Objekt und Subjekt seines Lebens“6 und nicht um den Menschen als ein aus res cogitans und res extensa Zusammengesetztes, sondern um jene „psychophysische indifferente oder neutrale Lebenseinheit“7, um den Menschen „»an und für sich«“8. Plessner entwirft eine Anthropologie des Lebendigen als regionale Ontologie des lebendigen Daseins und begründet somit im Weiteren die Bedingungen der Möglichkeit für die Beschreibung des Menschen als Menschen. Er erhält damit zugleich den Ausgangspunkt für eine systematische Philosophie, welche ihrerseits wiederum in einen erweiterten, das allein Menschliche überschreitenden Zusammenhang in einer Ontologie des Lebendigen überhaupt mündet. Auf diese Art gelangt man zu einer Naturphilosophie des Lebendigen sowie dem In-der-Welt-Sein des Lebewesens Mensch. Konstruiert man jedoch den Menschen aus seiner Welt und seinem Milieu heraus, was nichts weniger bedeutet, als die materialen Voraussetzungen – Stoff und Verhalten als Lebewesen – zu den alleinigen Bedingungen seines Seins zu machen, so stellt sich ganz von selbst die Frage nach den Gegenständen des Geistigen, ihrer Gegenwart, Erscheinung und Schöpfung. Es stellt sich die Frage nach dem Geist im Allgemeinen, und im Besonderen nach dessen Verhältnis zur Materie. Antwort auf diese Frage sucht Plessner in seinem Buch Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes von 1923 und später in seiner Die Anthropologie der Sinne von 1970 zu geben. Schon der Titel des 1923 verfassten Buches als Ästhesiologie des Geistes gibt die Richtung der von ihm vorgeschlagenen Lösung des Geist-Körper-Chorismus an. Er erklärt:

Die Ästhesiologie des Geistes ist die Wissenschaft von den Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte und ihren Gründen. Sie zeigt, dass zu bestimmten Sinngebungen bestimmte sinnliche Materialien nötig und warum keine anderen möglich sind.9

Die Ästhesiologie des Geistes und der Sinn der Sinne

Plessner sucht die „Sinnengesetze der Sinnlichkeit“1 zu ergründen und, in diesen Gesetzen des Verschränktseins von Geist und Sinnen, den Weg kenntlich zu machen, der das Konjunktum res cogitans – res extensa überwinden soll.

Immanuel Kant hatte – darin den Rationalismus des kausativen Schemas der „Affektion“ zwischen Subjekt und Objekt überwindend – in seiner kritischen Philosophie mit der Einführung des Schemas2 als Brücke zwischen einer Eigengesetzlichkeit der Sinnlichkeit gegenüber Verstand und Vernunft3 eine neue Beziehung zwischen intuitivem und kognitiven Geltungsbereich4 gestiftet und das „Geheimnis der gegenständlichen Beziehung des Bewusstseins“5 durch die Sinne auf eine neue Basis gestellt. Damit rückte die Anschauung ins Zentrum der erkenntnistheoretischen Betrachtung. Denn die Gesetze, nach denen sich ein Gegenstand dem Bewusstsein gegenüber formiert, mussten nun – als innere oder äußere – notwendig zum Sinn der Gegenständlichkeit selbst gehören, darstellbar in Raum und Zeit oder allein in der Zeit. Damit auch gewann die Vorfindbarkeit des Gegenstandes an Klarheit, beließ jedoch dessen materiale Herkunft im Dunkeln. Das Äußerste, was der kantische Schematismus zu leisten im Stande war, war die rein formale, begriffliche Verbindung des Denkens mit der gegenständlichen Welt, während qualitative Inhalte, wie sie die Sinne mitteilen, darüber keinen Eingang finden konnten. In Die Einheit der Sinne unternimmt Plessner nun den Versuch, diesem Missstand Abhilfe zu schaffen, und er erklärt den von der philosophischen Tradition bevorzugten Erkenntnisgegenstand – die Frage nach der Wahrheit – zum Spezialfall eines weitaus umfassenderen Erkenntnisinteresses, in dem die Mannigfaltigkeit der Sinne und ihrer geistigen Funktionen in die Aufgabe der Erkenntnis der Welt für das Lebewesen Mensch einbezogen werden.

 

Jeden Typus des Verstehens gilt es zu beachten, nicht nur das begriffliche Erkennen. Denn die Beziehung des Geistes auf ein Objekt im Interesse der Wahrheit ist ein Spezialfall der Beziehung des Geistes auf Inhalte im Interesse des Sinnverständnisses überhaupt.6

Ort dieses Erkenntnisgeschehens sei der Körperleib, welcher in seiner Sinnesorganisation wie seiner Geschichtlichkeit von der Geistdurchdrungenheit selbst Zeugnis ablege und als solcher in spezifischer Weise belebt erscheine. Die Organisationsweise der Sinne beim Lebewesen Mensch zeugt für Plessner von der „Verbindungsweise von Körper und Seele zum objektiven Sein der Dinge, wenn auch freilich nicht zu ihrem absoluten Sein, weil die Sinnesqualitäten die möglichen Modi der Materie sind.“7

Die Sinne binden das Lebewesen Mensch in sein Milieu ein, und zwar als Mittler zwischen diesem und der Person, die er sei. Die Ästhesiologie des Geistes ist demnach der „Versuch einer Strukturtheorie von der menschlichen Person, und zwar zunächst ihrer Fundamentalbeziehung zur Umwelt.“8

Die Versinnlichung des Geistes und die Vergeistigung der Sinne

Plessner sucht nun die Bedingungen der Möglichkeit dieses Erkenntnisgeschehens aufzudecken und zu explizieren. Die Einheit der Sinne ist der erste Band seiner erkenntnistheoretischen Schriften1, mit der er die innere Verschränkung von Körper und Geist (res extensa und res cogitans) am psychophysischen Wesen Mensch aufzeigen möchte und diesen damit wieder ins Zentrum der philosophischen Betrachtung rücken will. Er holt das „philosophische Verständnis der Naturgestaltung, wie sie die sinnliche Organisation des Körperleibes darstellt“2, wieder ins philosophische Denken zurück. Methodisch wie in seiner Fragestellung orientiert er sich an Kant, indem er, wie dieser, dessen indirekte Fragestellung anwendet und sich auf der Suche nach Antworten auf das Erkenntnisproblem an die entsprechenden Wissenschaften wendet, dieses Mal jedoch nicht an die Naturwissenschaften, sondern an die Geisteswissenschaften:

Sollte, paradox genug, eine augenscheinlich naturphilosophische Angelegenheit vielleicht durch Orientierung an der Geisteswissenschaft, ja an kulturellen Ausdrucksformen des Geistes selbst entschieden werden müssen? 3

Mit dieser Ausrichtung der erkenntnistheoretischen Fragestellung gewinnt Plessner die Fallhöhe für die rechte Justierung seiner Ausgangsfrage nach dem Rätsel des Gegenständlichen im Bewusstsein sowie hinsichtlich ihrer möglichen Zustände und Zuständlichkeiten: der Anschauung und der Auffassung. Damit auch der Körperleib als letzter Gegenstand auf dem Weg zur Einheit Mensch in die von ihm entworfenen Schemata Eintritt finden kann, wird Plessner später die Bewusstseinstafeln4 mit entsprechenden Haltungen des Körperleibes in Beziehung setzen. Denn letztlich ist es das Ganze des Körperleibes, welches die Gegenwart des Geistes und somit des Sinnes allgemein in der Welt abbildet.

Ursprüngliche Gegenwart des Geistes ist nur an Leibern in ihrer Haltung ablesbar […] Die unmittelbare Ausdrucksfähigkeit des Leibes, welcher eine gleich unmittelbare und ursprüngliche Auffassungsgabe des Geistes für den Ausdruckssinn seiner Gestik, Mimik, Physiognomik notwendig entspricht, hat Geltung für jeden Inhalt, mag er seelischer Natur sein, woran wir zunächst denken, oder selbst auch geistigen, gedanklichen, sinnhaften Wesens.5

Mit der Einarbeitung des Körpers in die von Plessner erweiterte erkenntnistheoretische Fragestellung verlängert er in der Ästhesiologie des Geistes die kantische Analyse in die Materie bzw. in das Sinnenmaterial in Form der Sinnesmodalitäten hinein und gewinnt dem Geist so das Angesicht der Welt zurück. Erst wenn der Mensch auf diese Weise wieder logostransparent geworden ist, wenn die rätselhafte Funktion seines Sinnenapparates und dessen Ergebnisse – die Gegenständlichkeit der Welt – aufgeklärt wurden und in ihrer Einheit als vom Geist durchherrscht bestätigt werden konnten, erst dann können auch wiederum die geisteswissenschaftlichen Disziplinen auf ihr Vernunftfundament geprüft und darauf aufgebaut werden. Der Gang zur kantischen indirekten Fragestellung über die entsprechenden Wissenschaften gewinnt auf dem Weg zu ihnen deren eigenes Fundament zurück. Diese Hermeneutik der Sinne sollte an ihrem Ziel die Fundamente für die wissenschaftliche Fundierung der Geisteswissenschaften liefern können; soweit die Erwartung, soweit auch der methodische Fortgang der Untersuchung Plessners in Die Einheit der Sinne. Allerdings begegnen sich bei einer solchen Fragestellung Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft. Denn beide Bereiche menschlicher geistiger Tätigkeit sind Antworten auf Herausforderungen des Milieus an ihn. Zugleich jedoch sind sie für Plessner auch Garanten für den Realitätsgehalt seiner Fragerichtung. Denn sie zeugen vom Tun des Menschen über die Zeit und Generationen hinweg und sind keine Ausgeburten eines einsamen und beschränkten singulären Geistes. Die physische Organisation des Körpers, genauer der Sinnesorgane des menschlichen Leibes, und die geistes- oder kulturphilosophische Seite der Problemstellung bedürfen nun der Verbindung, was den oben genannten Bewusstseinszuständen korrespondierte. Das anschauende Bewusstsein muss also gemeinsam mit dem deutenden Bewusstsein zugrunde gelegt werden, um „der Wirklichkeit der Sinne die Einheit des Sinnes“6 vermitteln zu können. Die methodische Konsequenz der kantischen indirekten Fragestellung führt Plessner zwingend auf seine eigene Methode hin: eine hermeneutische Phänomenologie auf der Basis der kantischen Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis. An den Gegenständen der Kultur, der Werke des Menschen werden wir der Gegenständlichkeit der Welt und deren objektiven Natur inne. Denn die Werke zeugten vom Funktionieren unserer Sinne und deren Modi, welche die Erscheinungsweisen der Materie seien. Die normative Wissenschaft der Sinne, Plessners „Normwissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Geistes“7, im Unterschied zu einer „seinswissenschaftlichen Methode der Tatsachenfeststellung […] als eine Kritik der Sinne im Gegensatz zur Physik, zur Physiologie und Psychologie“8, kennzeichnet die Differenz wie auch eine denkbare Komplementarität der Vorgehensweisen. Plessners kritische Studien der Sinne wenden sich also in keiner Weise gegen naturwissenschaftliche Vorgangsweisen.

So rücken die Begriffe Anschauung9 und Verstehen (bzw. Auffassung) ins Zentrum der theoretischen Aufmerksamkeit:

Anschauung ist, ohne an Dasein (wie anschauliche Phantasmen, Phantome beweisen) des Angeschauten gebunden zu sein, das Vergegenwärtigen eines distinkten Inhalts in präsentativer Form. Sie bezeichnet ein Bewusstsein, das in klar umschriebener Weise ein qualitativ in sich Bestimmtes gegeben vorfindet und als Gegebenheit hinnimmt. Das Gegebene steht für nichts, sondern ist bloß da und bringt sich dar in größerer oder geringerer Klarheit und Deutlichkeit. Was sich darbringt hängt ab von der Haltung der Person, die aus der Fülle des Seins die entsprechenden Gehalte gewinnt, weil zu ihnen in entsprechende Einstellung kommt.10

Anschauungen sind demnach Vergegenwärtigungen eines distinktiven Inhalts in präsentativer Form. Diese müssten notwendiger Weise jemandem gegeben sein. Sie könnten entweder objektiv, also unabhängig vom Subjekt eines Bewusstseins, interindividuell, von einem Individuum loslösbar sein, ohne jedoch gleich eine überindividuelle, z.B. soziale Größe zu bilden, oder subjektiv, d.h. von einem Bewusstsein abhängig sein. Sie könnten jedoch auch intersubjektiv gegeben sein – ohne gleich objektiv zu sein–, was bedeutete, dass sie bis zu einem gewissen Grade in einen Raum zwischen Subjekten eintreten könnten, für die an diesem Raum teilhabenden Subjekte gegenwärtig wären.

Daneben hält sich Plessner für die verschiedenen Arten der Anschauung an das traditionelle Menschbild des Trimorphismus aus Geist, Seele und Leib, wobei der Leib auch in der Verbindung mit dem Wort Körper auftritt und zum Körperleib wird. Der Begriff Körperleib vereint eine materielle Seite, den Körper, mit einer psychischen Komponente, der Vorstellung eines Bewusstseins, sozusagen im Futteral eines Körpers zu stecken, sowie den entsprechenden Empfindungen dafür. Für Plessner ist diese Vorstellung eine der Gründe für die platonische Idee des Körpers als Grab der Seele, sie gibt jedoch für ihn auch eines der Motive für seine Bestimmung der menschlichen Subjektivität als exzentrischer Positionalität ab. Den drei Erscheinungsweisen der Einheit Mensch ordnet Plessner nun nicht sofort seine drei Anschauungsarten zu, sondern behält erst einmal nur die abstrakte Dreiteilung bei, welches als Dreier-Schema Anwendung findet: die antreffende Anschauung, welche sich in physischer Materie zeige und darstellbar sei, die innewerdende Anschauung, welche sich in psychischer Materie zeige, nicht darstellbar, sondern nur präzisierbar sei, und schließlich die der füllenden Anschauung, welche sich in der Gestalt aus der Vereinigung von Materie (Hyle) und Form (Eidos) zusammensetze, eine Empfindungs- und Ideenschau, die sich in prägnanten Gehalten zeige.

Anschauungen können darstellbar, präzisierbar, prägnant sein. Darstellbarkeit und Präzisierbarkeit gelten nur von solchen Gehalten, die physisch-intersubjektiv an den Raum erfüllenden Körpern oder Leibern oder psychisch-interindividuell erscheinen. Darstellbar ist jede direkt abbildbare ausgebreitete Gestalt, einerlei ob sie wirklich oder imaginiert ist, einem Raum angehört oder nur anzugehören scheint. Indirekt durch Bewegung etwa, Reaktionen irgendwelcher Art (Laute, Zeichen usw.) eindeutig festlegbare und insofern mitteilbare Gehalte, die sich zwar nicht abbilden lassen, ohne aber darum an Bestimmtheit in der Gegenwart und interindividueller Gegebenheit einzubüßen, sind präzisierbare Anschauungsgehalte.11

Doch selbst wenn der Trimorphismus, wie Plessner sagt, falsch sei, würde sich dennoch bestätigen, dass „wir die unmittelbare Ausdruckshaltung als typische Sinnbezogenheit des Leibes anerkennen“12 müssten. Wir stoßen hier wieder auf ein Leitmotiv des Plessnerschen Denkens, der unmittelbaren Gegenwart des Geistes im Körperleib13, der damit entgegen der cartesianischen Deutung der res extensa als Ort der sinnvollen Verschränkung zwischen Geist und Materie erkannt wird. Der sich in der Haltung des Körperleibs spiegelnde geistige Gehalt sei, wenn nicht gleich konkretisierbar oder präzise deutbar, ein Fall der prägnanten Anschauung, in der sich in Form der Gestalt (z.B. Körperhaltung) die Vereinigung materieller und kategorialer Gehalte zeige. Die Anschauung fülle sich mit diesen, mit Bestimmtheit zu identifizierenden, wenn auch nicht gleich zu deutenden Körperbildern an. Im Spiegel der Seele14, im Erlebnis15, könne sich die präzisierende Funktion der Sprache an der Deutung dieser Körperbilder interpretierend abarbeiten.

Plessner hält mit Scheler alles Seelische für interindividuell, „geistige Akte dagegen sind rein individuell und könnten nur immer von einem Individuum erlebt werden.“16 Sprache könne die absolute Isoliertheit der Individuen bis zu einem gewissen Grade aufheben. Die über deren Zeichen vermittelten Inhalte jedoch müssten, um voll und ganz verstanden zu werden, von jedem einzelnen Individuum wiederum durchlebt werden. Wenn dieses Durchleben nicht stattfände, gestattete die Vermittlung durch Sprache, deren Bedeutungen „interindividuell präsent“17 seien, dem Individuum zwar ein Verstehen, nicht jedoch im vollen Sinne des Wortes.

Unter diesem Aspekt gesehen leistet die Sprache durch die Funktion des Meinens eine universelle Interindividualisierung. Sie sucht Darstellbares und Nichtdarstellbares eindeutig fassbar zu machen und durch die Bedeutung von Worten und Sätzen über die Zone interindividuellen seelischen Seins noch hinausgreifend die gesamte Weltfülle in den interindividuellen Besitz zu bekommen.18

 

Mit dieser universalisierenden Funktion der Sprache könnten prinzipiell alle Gegenstände und Sachverhalte in den Bereich präzisierbarer Darstellung aufgenommen werden. Der enorme Nutzen für die Menschheit wird sofort einsichtig: Die Individualitätsgrenzen werden überschritten und Inhalte für alle zugänglich, wodurch „die Überwindung der durch Natur und Wesen gesetzten Gemeinschaftsbindung zugunsten einer Befreiung und Erhebung aller in das spielende Leben der Gesellschaft“19 ermöglicht werde.

Der Gegenstand der antreffenden Anschauung sei in seinen darstellbaren Gehalten der physischen Materie gegeben, derjenige, der innewerdenden Anschauung in den präzisierbaren Gehalten der psychischen Materie. Bliebe für die füllende Anschauung der prägnanten Gehalte die Frage nach ihrer eigentlichen Erscheinung. Sie sei eine Kombination aus „Empfindungsschau und Ideenschau“20. Plessner versucht diese Frage mit Hilfe des Gestaltbegriffes zu lösen, dem er die Aufgabe der Vermittlung eidetischer mit hyletischen Gehalten überträgt.

[…] daß der hyletische Gehalt der Empfindung und der eidetische Gehalt der Wesensschau zwar strukturlos sind, darum aber doch nicht völlig nackt und formlos sein können, da das Bewusstsein in ihnen selbst die Präzision findet, durch welche sie für die Anschauung qualitative Prägnanz und Unterscheidbarkeit besitzen. […] für alle Gehalte, komplexe und einfache, das Grundschema: sie sind notwendig aufgebaut aus einer Stoff- und einer Formkomponente. Jeder Gehalt hat Stoff und Form.21

Eidetischer Gehalt und hyletischer Gehalt jedoch haben bei Plessner keine rein ideale oder stoffliche Komponente, sondern tragen Spuren des jeweilig anderen an und in sich:

Hier ist die Stofflichkeit luzide, durchsichtig, lauter, dort ist sie undurchsichtig, aufdringlich, trübe.“22

Auf jeden Fall aber besäßen komplexe Anschauungsgehalte Struktur, und „das heißt Gestalt“23. Neben den kategorialen Gehalten besteht bei Plessner die quidditas der Scholastik als unabhängige und besondere Einsicht des „eidetischen Tiefblicks“24 Vermittelnde. Zu ihr gehöre ein „bestimmtes kontemplatives Training und mehr als Zurückhaltung im Urteil über die Welt“25. Bei ihr sei eher das schauende Bewusstsein als die strenge Beobachtung am Werke, und Plessner beschreibt sie als eine Art „Witterung für die Wesenheit seines Milieus“26, die der Mensch grundsätzlich besitzen müsse.

Es muß also eine letzte, alles nur vorkommende Was zu seiner Qualität bestimmende Gehaltfülle, das [87] Rote zum Rot, die Farbe zur Farbe, die Figur zur Figur, das Ding zum Ding, das Wesen selbst zum Wesen machende Formwelt geben, die alles trägt.“27

Kategorialer Gehalt ist also demnach „Wesen hinsichtlich des Stoffes“28 . Der eidetische Tiefblick, jene Witterung für sein Milieu ist der eigentliche Zugang des Menschen zum Typischen, zur Abstraktion im Konkreten, zu dem, was Formwelt selbst ist. Auf dieser bestimmten Körperlichkeit des Abstrakten im Konkreten kann die Kunst aufbauen, denn die Gesetze der füllenden Anschauung und der prägnanten Gehalte basieren auf dem Eintrag geistiger Gehalte, also idealer Formen im Stoff. Sie stellt eine Mitte dar, welche die Kunst zwischen Sinn und Geist zu ergreifen vermag, sogar wenn sie diese zu fliehen beabsichtigt29.

Die Wertschätzung des Körperleibes als logostransparenter Ort, an dem sich Körper und Geist mit ihren verschiedenen Anschauungsarten verschränkten, führt eine Skala der Typen der Hinwendung zu diesen ein.

„Darstellbare Gehalte treffe ich an, präzisierbarer Gehalte werde ich inne, prägnante Gehalte erfüllen mich. […] und nur das Moment der blickstrahlenden Aufmerksamkeit bleibt in allem Typenwandel unberührt erhalten.“30

Mit dieser Unterscheidung verliere die Wahrnehmung ihren aus Empfindungen kombinierten Charakter und wandele sich zu einer „autonomen Bewusstseinsart“31. Gleichzeitig werde sie von der Empfindung klar unterscheidbar. Denn die Gegenstände der Wahrnehmung würden in einem interindividuellen Raum angetroffen, während Empfindungen nicht interindividuell sind. Die blickstrahlende Aufmerksamkeit des Bewusstseins gewahre als innewerdende Anschauung alles Psychische, während die erfüllende Sinnenschau ein eidetisches und empfindungsstoffliches Gegenüber besitze. Überall gebe es dieses Gegenüber des aufmerksam hinschauenden Bewusstseins. Fehlte jedoch dieses Gegenüber, bliebe allein die Schau, könnte ein Gehalt frei sich entfaltend möglicherweise sein Wesen darbieten. Dafür jedoch bedürfe es normalerweise eines Trainings, mit dessen Hilfe das Bewusstsein „die störenden Seinschichten zu durchstoßen“32 vermag. Die so geartete Einsicht trüge dann den Charakter der Offenbarung, eines nicht erzwingbaren Erscheinens. Vom Bewusstsein angetroffene Gehalte liehen sich diesem nicht. Sie neigten ob Ihrer Identifizierbarkeit und ihres objektiven Charakters der Beobachtung zu. Prägnante Gehalte liehen sich dieser Art der Betrachtung in ausgezeichneter Weise und deuteten auf eine wesentlich andere Haltung eines Einsicht suchenden Bewusstseins. Sie neigten der Intuition zu.

Vor aller Spezialisierung durch die Art des erschauten Gehalts ist Intuition ein offenes, hinnehmendes, zur Sache ohne viele Umstände, ohne die trübenden und abblassenden Zonen des Grübelns, Vergleichens, Abwägens sich aufschwingendes Verhalten. Die Sinne sind geöffnet, um widerstandslos die Fülle des Seins eindringen zu lassen. Der Mensch vertraut dem natürlichen Licht seiner Vernunft nicht weniger wie der Evidenz seines Gewissens und seines Empfindens. […] Rein werden in der Anschauung ist sein Ziel, Mittel dazu das Erkraften des durch alle Sinne, durch Instinkt, Gefühl und Gewissen hindurchtretenden geistigen Blickstrahles. […] Dagegen Beobachtung beherrscht von der Achtsamkeit. Der Beobachtende gibt Obacht auf das Objekt, er nimmt sich in acht, Grenzen, die ihm gezogen sind, nicht zu überschreiten.33

Während die Beobachtung sich an vorgegebenen Kriterien orientierte, ließe die Intuition „nur die Evidenz sprechen“34. Wir treffen in diesen Modellen grundsätzlich unterschiedliche Arten des Verständnisses der Anwendung menschlicher Einsichtsmöglichkeiten an. Plessner ordnet diese Haltungen denn auch den historischen philosophischen Strömungen des Intuitionismus und des Kritizismus zu. Jedoch weder die „negative Einheit der Sinne im Intuitionismus“35 bergsonischer Prägung mit ihrer Wurzel im élan vital, noch der kantische Kritizismus mit seinem Schematismus und seiner „funktionalistischen Erkenntnistheorie“36 könnten eine Antwort auf das Rätsel der Gegenständlichkeit der Welt oder der Einheit der Sinne herbeiführen. Nach Plessner liegt dies an deren einseitiger Orientierung an den Naturwissenschaften. Sein Lösungsvorschlag ruft daher die Geisteswissenschaften auf, an deren Erfahrungen im Sinne der schon bekannten indirekten Fragestellung eine Antwort gelingen soll:

Wie lässt sich die kulturphilosophische Seite des Problems so mit der naturphilosophischen innerlich verbinden, daß die Beantwortung in der einen Richtung die Antwort in der anderen von selbst mit sich führt?

Das ist nur möglich, wenn wir die bisher geübte einseitige Beurteilung des ganzen Problems nach den Maßstäben des anschauenden Bewusstseins aufgeben und ihm, da auf dem alten Wege ein Weiterkommen unmöglich ist, das deutende Bewußtsein zugrunde legen, der Wirklichkeit der Sinne die Einheit des Sinnes.37

Unser Verhältnis zu den Dingen der Welt lasse sich nicht auf die einfache Gegenwart der Dinge in unserem Bewusstsein reduzieren, sondern es gebe zugleich noch eine andere Weise unserer Verbundenheit mit der Welt, und diese sei das Verständnis.