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Sari: Orbis Romanicus #14
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Bewegung, der seelische Untergrund als Basis des Sinns oder die Verschränkung von Sprache und Bewegung

Neben die Sinneskreise des Gesichts und Gehörs tritt als dritter der Kreis der Zustandssinne. […] Diese begründen gegenständliche Sinngehalte, theoretische in der Geometrie, ästhetische in der Musik, jene begründen nichts, sondern haben an sich Sinn in dem Bewusstsein, das sie vermitteln.1

Die Zustandssinne vergegenwärtigten Sein im Erleben. Möglich sei ihnen dies, da der Leib eine zentrale Stellung im Leben der Person einnimmt. Am Körper zeige sich oder bilde sich seelische Wirklichkeit ab, sei es als Reiz, Ausdruck, Reaktion oder eine Aktion, in die sich der Wille ergieße. Zu all dem komme auch noch die Funktion der Sprache, in welcher sich die seelische Wirklichkeit artikuliere. Da diese jedoch nicht auf das Seelische allein beschränkt bleibe, sondern in ihrer präzisierenden Arbeit darüber hinausgreife, Außenwelt wie Ausdruckswelt ebenfalls mit einschließe, ergeben sich „zwei Möglichkeiten der Vergegenwärtigung körperlichen Seins“2. Als Vorstellung, die Dinge allgemein, eigener oder anderer, und als „»Hintergrund« der Seele“3. Nach Plessner bedarf jede geistige Bewegung einer Erregung der Physis. Da die Zustandssinne nun über diesen Hintergrund sowie in der Vorstellung ein körperliches Sein immer mitvermittelten, sei es möglich zu behaupten, dass das leibliche Sein bei jeder seelischen Regung – intellektuell oder affektiv – in jedem Falle einen Anteil an dieser hat.

Ausdruck und Handlung nun bilden die beiden anderen Arten des Verhältnisses von Körper und Geist: Die Gegenwart von Körpern erscheine dem Geist als Ausdruck, und es greife das Gesetz der Thematik4.

Ursprüngliche Gegenwart des Geistes ist nur an Leibern in ihrer Haltung ablesbar, während das künstliche Verfahren jeder Kunst darin besteht, Körper wie: Leinwand, Farbe, Stein zu Ausdrucksfeldern zu machen, mit ihnen Sinn zu verleiblichen.5

Es ist die unmittelbare Ausdrucksfähigkeit des Leibes, welche das Grundschema der Erfahrung von Sinn für den Geist darstelle. Mag der Ausdruck nicht oder noch nicht fassbar oder beschreibbar sein, so geht es um die grundsätzliche Erfahrung der Gegenwart eines im Körperbild gegebenen Sinnes, die prinzipielle Erfahrung von Sinn, von Sinn in der thematischen Schau von Idee und Empfindung. Hier findet sich auch die „theoretische Garantie“6 des Verstehens überhaupt:

Sie betrifft die Möglichkeitsgrundlage der Verleiblichung einer Intention und der sinngemäßen Korrespondenz im Auffassen von Seiten des anderen Menschen. Die Antwort lautet: jene gesuchte Garantie ist die mitvollziehbare Haltung, die wir zwar gegenständlich gebunden wahrnehmen, aber […] auf jeden Fall körpergegenständlichen Bindung freimachen und dadurch in Bewegung umsetzen können.7

Plessner findet diese in der mitvollziehbaren Haltung. Im Körperbild erscheine eine bestimmte Verfassung des Geistes, welche an diesem abgelesen werden könne, und zwar in der Weise, dass es, freigemacht von der Erstarrung des Bildes, innerlich wiederum in Bewegung umgesetzt würde:

In Bewegung umgesetzt, bestimmten sie den seelischen Habitus, Gefühlslage, Affektivität, Willensrichtung, Gedankenbildung und erhalten dadurch ihren seelischen Untergrund, ihre spezielle Motiviertheit, ihren bestimmten Sinn.“8

Nun ist dieser seelische Untergrund nicht der zu verstehende Gegenstand selbst, dieser muss in Form von Sprache als präziser Sinn – metagrammatisch, grammatisch sowie zeichenhaft – weitergegeben werden. Doch der seelische Untergrund bildet allemal die letzte Basis des bis in die Einzelheiten hinein zu verstehenden Gehalts, an dem sich die präzisierende Arbeit der Sprache abzuarbeiten hat, um zu ihrer Präzision zu gelangen. Im Deutschen spiegelt sich dieser Vorgang auch in der Redewendung des „Nachvollziehens“ als Synonym für das Verstehen. Mit dem Ausdruck dies kann ich nicht nachvollziehen äußert man sein Unverständnis. Die Idee der Nachvollziehbarkeit für die Erkennbarkeit zeigt auf einen inneren Bewegungsablauf als Verständnisgrund für das zu Begreifende und für die Verschränkung von Sprache und Bewegung im Vorgang des Verstehens hin. Körperlich gegründet, wird der Verstehensvorgang unmittelbar plastisch und deutlich. Abstraktion bezeichnet dann eine Art des Verständnisses, das sich von jener Art des Verstehens als Nachvollziehbarkeit, der vollständigen innerlichen Kenntnisnahme und Bekanntschaft mit dem Gedanken entfernt hat.

Der Modus des Hörens als Verbindung von Geist und Leib

Die Modalität der Zustandssinne bildet demnach die Grundlage für die Vergegenwärtigung des eigenen leiblichen Seins, und sie ist zugleich die Garantie für die Möglichkeit der mitvollziehbaren Haltung, welche ihrerseits die Möglichkeitsbedingung für das Verstehen anderer ist. Hierin besteht die zentrale Stellung der Zustandssinne im Hinblick auf das Verstehen gegenüber jedem, dessen Kundgabe zum Verständnis aufrufe, sei es eine Person, ein Tier oder selbst eine Landschaft. Geben die Zustandssinne dem Bewusstsein ein sich selbst kund, so bilden sie deshalb die Grundlage für die Erkenntnis einer Kundgabe bzw. das Verständnis Anderer.

Plessner betont, dass jene Garantie mitvollziehbarer Haltung nur in einem einzigen Fall fassbar werde, nämlich „im verstehenden Hören“1. Die Natur des akustischen Materials, welches in seiner Voluminosität und Dauer bzw. Vergänglichkeit seine letzte Verortung im Stimmraum des Körpers besitzt, bildet die Basis für die Akkordanz zur Haltung und somit zum unmittelbaren Verständnis der Musik.

Also ist der Modus des Hörens diejenige Verbindung von Geist und Leib, in welcher Ausdruck als Haltung realisiert werden kann. Oder abstrakter gesagt: im Modus des Gehörs ist jede Sinngebung dem Körperleib möglicherweise gegenwärtig. […] Er ist mithin diejenige Art des Verständnisses von Geist (Einheit der Sinngebung) und Körperleib, in welcher der Geist dem Leibe sich kundgibt, […]“2

Nicht der Körper als Gegenwart, sondern als Mittel ist die dritte Art des Verhältnisses von Körper und Geist. Sie mündet: „in zielgemäß gerichteten Bewegungen der Körper, in Handlungen.“3

Der optische Modus und sein wesentliches Element der Sehstrahl, Urbild der Linie auf etwas hin, schließen ihr nicht wie der akustische Modus den Zustand eines phänomenalen Stoffes auf, sondern ergreife in ihr das Ziel des Handelns. In der Geometrie sieht Plessner die reinste Form seiner Funktion materialisiert. Mit ihrer Hilfe erschließt sich der Mensch den Raum und lernt diesen zu beherrschen. Mittels dieser Fähigkeit unterwerfe er sich die Welt, halte sie im Griff, könne sie berechnend ergreifen. Mittels der Funktion des optischen Modus wende sich der Mensch zu einem Gegenstand des Äußeren als Ziel oder Zweck, sogar jenes Äußeren, welches noch in der Zukunft liege. Durch Berechnung lerne er, es zu bestimmen und zu kontrollieren. Der Körperleib und die Kundgabe seines Zustandes spielten hier eine untergeordnete Rolle. Muss der Mensch dafür Sorge tragen, dass jener in seinem Tun weiterhin funktioniere, also zum Beispiel gesund bleiben, so bleibe er jedoch selbst vom berechnenden Zugriff auf die Welt selbst weitgehend ausgeschlossen, oder nur ein Bestandteil, den es zu bedenken gelte, soll der berechnete Zweck erreicht werden. Daher stamme auch die Abstraktion und Universalität der Wissenschaft. Distanz als dessen Art der Abstraktion bezeichne den Charakter des optischen Modus.

Trotzdem ist die Ästhesiologie genötigt, den optischen Modus geradezu als die Weise der Aktualisierung ferner Mannigfaltigkeit zu fassen […] Der strahlige Bau dieser Modalität läßt jede Mannigfaltigkeit dem Bewusstsein gegenständlich erscheinen.4

Allein selbst jene Gegenständlichkeit bleibe auch noch körperlich erlebbar und lasse auch heute noch die Spuren ihrer einst im Körperleib selbst verankerten Maße erkennen, und zwar in alten Bezeichnungen wie Elle oder Fuß. Eine lebendige Beziehung zwischen Maß und zu messendem Gegenstand – im Gegensatz eines von allem Gegenstand abstrahiertem Messsystem –, zeigen bis heute die schottischen Bauern, welche die Größe der Pferde in hands messen. An diesen und anderen Beispielen kann man noch immer die ursprüngliche Beziehung quantitativer Systeme zum Körperleib ausmachen.

Wendet sich der Mensch im Modus des Optischen zum gegenständlichen Anderen, so erlebt er sich im Modus des Zuständlichen als ein Selbst und erlebt sich im Modus des Akustischen zu seinem Gegenüber als dessen Gegenüber oder sich selbst als sein eigenes Gegenüber. Der Modus des Akustischen führt die Mitte zwischen dem Unmittelbaren und dem Fernen aus. Er ist der Modus der qualifizierten Distanz per se, des Mittleren und birgt somit auch die Bedingung der Möglichkeit der Vermittelbarkeit. Deshalb auch ist er das bevorzugte – wenn auch nicht einzige – Material der Sprache, welche ob ihrer Kundgabefunktion des Eigenen wie Fremden, des Inneren wie Fernen eine Modalität benötigt, die sich verschiedensten Umständen anpassen lässt. Zwischen der Distanz des optischen Modus, der unmittelbaren Nähe der Zustandssinne und der mittelbaren – über die Bewegung mittelbaren – Gegebenheit des akustischen Modus vermittelt die alles präzisierende Sprache, die Verlautbarung schaffende Rede.

Die Gegenständlichkeit der Sinne

Die Frage nach der Gegenständlichkeit der Sinne war eine der Ausgangsfragen für das gesamte Unternehmen der Ästhesiologie des Geistes. Im letzten Kapitel nimmt Plessner das Problem wieder auf und führt es seiner Lösung entgegen. Seine Kritik an den zeitgenössischen Objekt- und Objekterkenntnistheorien richtet sich vor allem gegen die Vorstellung, dass die beiden Pole des Subjekts auf der einen und des Objekts auf der anderen Seite durch vermittelnde Schritte zu überbrücken seien. Vielmehr müsse der sinngebende Teil, der Geist „ein für allemal“1 von den physischen Vorgängen abgelöst werden, denn an diese könne sich kein Bewusstseinsvorgang anschließen, ohne dass sich eine metabasis eis allo genos einstellte. Plessners Lösungsvorschlag sieht eine Verschränkung von Subjekt und Objekt vor, und zwar im Sinne der Gegensinnigkeit, des „gegensinnig Aufeinanderbezogenseins von subjektiver Zuwendung im Sinnesfeld des Auges, Ohres, der Haut usw. und objektivem Einströmen des Lichtes, Schalles, Druckes usw.“ 2. Wie aber, so fragt er, lassen sich diese beiden Pole gegensinnig miteinander verbinden? Es könne „nur die Art und Weise sein, in welcher sowohl Psychisches als Physisches objektiv gegenständlich existieren.“3 Zum einen komme Materie in den „Qualitäten der Sinne“4 gegenständlich zur Darstellung, zum anderen werde einem Subjekt etwas gegenständlich nur als sinnvolles Verhältnis, als ein vom „Geist als der Einheit der Möglichkeiten“5 Gegebenes:

 

Wenn aber das Wort Geist überhaupt eine Berechtigung haben soll, so muss es, da es umfassender ist als Verstand und Vernunft im theoretischen-diskursiven Sinne, die Einheit aller Auffassungsweisen bedeuten, in denen wir verstehen, nach denen wir etwas zum Ausdruck bringen können.“6

Der Mensch und sein Milieu

In den drei Modi des Optischen, Akustischen und Zuständlichen werden sowohl physische wie psychische Gegenstände für ein Bewusstsein erfahrbar. Die Gegenwart der Erfahrung des Bewusstseins spielt sich im Körperleib ab. Und wieder erkennen wir die zentrale Rolle des Körperleibes bei Plessners erkenntnistheoretischen Überlegungen. Denn jeder Bewusstseinsinhalt besitzt danach zwingend „eine Materie, Physisches sowohl wie Psychisches.“1 Nur wird physische Materie durch die Sinne erfahrbar, bzw. präsentabel, psychische jedoch zeigt sich dem Bewusstsein durch die innewerdende Betrachtung:

Dieses treffen wir an als darstellbaren Gehalt […] als Ding von der Struktur eines Kerns, den Eigenschaften umschließen. Jenes finden wir innewerdend als präzisierbaren Gehalt, als Ineinander von Bestimmbarkeiten. Beide Materien, physische wie psychische, aber unterstehen gleichermaßen der Prägnanz als Inhalte überhaupt.2

In der Beschreibung des Dinges von der Struktur eines Kernes, den Eigenschaften umschließen finden wir die phänomenologische Objektbeschreibung eines Husserl aufgenommen. Sie wird uns, bereichert um den Plessnerschen Begriff der Grenze, in den ersten Kapiteln der Die Stufen des Organischen und der Mensch3 wieder begegnen und dann zur Bestimmung des Lebendigen grundlegend werden. Hier bildet der optische Modus die Möglichkeitsbedingung für das In-Erscheinung-Treten des äußeren Gegenstandes – weder subjektiv noch absolut, sondern objektiv.

Unsere Theorie rettet die Erscheinung davor und begründet die Objektivität der Modalitäten, die Wirklichkeit des Aussehens der Dinge, die Wahrheit des Antlitzes der Natur. Die Qualitäten sind nicht absolute Seinszustände und sie sind keine subjektiven Zustände. Sie sind vielmehr die Weisen, in denen absolutes, das heißt vom Bewusstsein losgelöst beharrendes Sein, der Stoff, die Materie gegenständlich: für ein Bewusstsein wirklich werden kann. Als solche ermöglichen sie die Natur, während die anderen Theorien sich damit beschäftigen, sie als Bestandteile der Natur, als Produkte der Einwirkung von Dingen auf Seelen zu erklären. Der Modalität nach ist Wahrnehmung für ein leibliches Wesen a priori.“4

Mit dieser materiellen Objekterkenntnistheorie stellt Plessner der von Galilei initiierten Methode der quantitativen Erforschung der Dinge eine qualitative mit dem Ziel zur Seite, dass die „Erkenntnis der Natur auch im Bilde ihrer Erscheinung, als objektives Milieu des Menschen“5 verständlich werde. Plessner legt damit eine Theorie vor, welche nicht vor dem Angesicht der Welt verzweifeln muss, sondern diese in ihren Qualitäten erkennbar werden lässt. Aufschlussreich scheint hier der Begriff des Milieus zu sein, denn er verweist auf eine dem Menschen angemessene Welt hin. Es handelt sich um die Welt, in der er lebt und der er entspricht. Weder geht es um die Welt als Makro- noch als Mikrokosmos, welche die Wissenschaft mit ihren Apparate bedürftigen Hilfsmitteln erforscht, sondern um einen Mesokosmos. Nur diese mittlere Welt bringt sich das Lebewesen Mensch mit seiner spezifischen organischen Ausstattung zur Gegenständlichkeit. Der Mesokosmos ist jener Ausschnitt Welt, welcher ihm die am besten gesicherte Erfahrungsbasis bietet. Dieser Welt entspricht er bestens. Jenes Milieu als seine objektive Welt ist das Angesicht der Welt für den Menschen.

Resümee

Plessners Ästhesiologie des Geistes ist eine Objekterkenntnistheorie auf phänomenologisch-hermeneutischer Basis sowie eine Werttheorie als Theorie der Bedingungen der Möglichkeiten des Objekts bzw. seiner Gegenständlichkeit im Bewusstsein als eines qualitativ Gegebenen. Als geltungstheoretische Überlegungen stehen ihre Thesen außerhalb der Anwendung und Anatomie des natürlichen Bewusstseins. Die von Plessner vorgeschlagene Systematik schuldet ihr Dasein einer ästhesiologischen Untersuchung des Geistes, deren Zuordnungen sie zwischen geistigen Gehalten (Kunst, Sprache und Wissenschaft) und den Arten ihrer Versinnlichung in notwendig diesen und nicht anderen sinnlichen Materialien durchführt.

Nicht in Raum und Zeit als Formen der äußern bzw. inneren Anschauung, sondern in den Modi der Sinnlichkeit nach unterschiedlicher Art der aufmerksamen Zuwendung konstituiert sich Natur. Und da Fühlen, Haltung und Handlung als konkordante Entsprechungen des Leibes den Modi korrespondieren, gilt: „daß der Leib als Einheit der Haltung die qualitative Form und Gestalt ist, in welcher Körper und Seele ineinander verankert existieren.“1

Res cogitans und res extensa finden sich im Körperleib verschränkt und vermöge der drei sinnlichen Modi, des optischen, akustischen und zuständlichen Modus, materiell wie formal vermittelt. Die Konstitution des Menschen aus seinem Milieu und ohne Rückgriff auf metaphysische Annahmen findet in ihrem theoretischen Zentrum den menschlichen Körperleib. Plessner widmet sich also jenem Problem der Theorie von Leib und Seele, dessen Lösungsvorschlag die Ästhesiologie des Geistes enthält.

Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie1
Unter den seienden Dingen, das Lebendige

Um unter den seienden Dingen das Lebendige zu bestimmen, zieht Plessner den Begriff der “Grenze”1 heran. Lebendigem Sein, behauptet er, gehöre seine Grenze an, nichtlebendigem Sein sei sie äußerlich und Rand. Das nichtlebendige Sein stoße dort an, wo Anderes beginne. Lebendigem Sein vermittle seine ihm angehörige Grenze das Äußere und diesem das lebendige Sein. Es sei eine gegensinnige Vermittlung, welche sich an und vermöge der Grenze ergebe. Sie verhalte sich wie eine Membran, ein Organ der vermittelnden Trennung. Mit dieser Bestimmung jedoch, wechselt Plessner die Kategorie seiner Betrachtung. Aus einer Idee, der Grenze als doppelter Begriff, einmal als Rand, ein anderes Mal als vermittelnde Trennung, wird ein in der Welt der Dinge bestehender Sachverhalt behauptet, eine Konzeption in einen ontologischen Tatbestand verwandelt. Plessner selbst meint dazu, dass der Grenz-Sachverhalt nicht zu beobachten sei, er bleibe Konzept, biete sich jedoch als schlüssig wie grundlegend für die Konstitution eines ontologischen Sachverhaltes an. Dies müsse sich im Laufe der Untersuchung entsprechend erweisen. Der Fortgang bedarf jedoch noch einer weiteren methodischen Vorüberlegung: Leiht sich die phänomenologische Methode der Betrachtung der Gegenstände, ihrer Vergegenwärtigung und Annäherung an ihren Kern über seine Aspekte, so bleibt ihr jedoch weitgehend der Zugang zur Beschreibung dynamischer Prozesse verwehrt. Aus diesem Grunde wählt Plessner einen methodisch gemischten Zugang zu seinem Gegenstand, dem Lebendigen Ding in der Welt, seiner Entwicklung und zu seinem Unterschied zu den nichtlebendigen Dingen.

Eine derartige apriorische Theorie des Organischen hat, so scheint es, mehr Verwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie. Sie geht von einem Grundsachverhalt, dessen Realität sie durchaus hypothetisch behandelt, aus und gelangt Schritt für Schritt von einer Wesensbestimmung zur anderen.“2

Die Dialektik, die Plessner hier anspricht, ist durch das Wesen des Lebendigen selbst als ein Sich-Veränderndes bestimmt. Ein Gegenstand, welcher sich dem Beobachter als ein solcher darbietet, braucht für die theoretische Beschreibung notwendig eine Methode, welche sich ihm auch anzupassen weiß. In der Kombination von phänomenologisch-hermeneutischer Betrachtung und Dialektik ensteht der theoretische – der erschaute – Gegenstand: das lebendige Ding.

Die Stufen basieren als Ontologie des Lebendigen also auf der Funktion der Grenze als Membran.

Membranen sind nicht bloße Oberflächen, die jeder Körper je nach seinem Aggregatzustand gegen angrenzende Medien eines anderen Aggregatzustandes hat. Sie sind vermittelnde Oberflächen. An ihnen ist der Körper nicht einfach zu Ende, sondern zu seinem Medium in Beziehung gesetzt.3

Membranen dienen somit als Definiens des Lebendigen, verlängern die Absicht – wie schon in der Ästhesiologie neben dem kantischen Schematismus der Tagmatismus und Thematismus – der Plessnerschen materiellen Erkenntnistheorie in das allgemein Seiende, genauer: das lebendig Seiende, hinein. Deshalb muss Plessner mit dem Begriff der Grenze zwingend den Sprung aus der ideellen Begrifflichkeit in den ontologischen Sachverhalt wagen. Mit der Grenzhaftigkeit der seienden Dinge allein, in ihren beiden Formen – Rand oder Membran –, ergibt sich die Differenz zwischen dem unbelebten und belebten Ding als ontologischer Tatbestand, ohne dass dafür der Rückgriff auf weiterführende naturwissenschaftliche, metaphysische oder andersgeartete Begrifflichkeit erforderlich wäre. Nicht feststellbar oder darstellbar, jedoch erschaubar, ein intuitiver Tatbestand und erweislich in seiner Anwendung, kommt der Plessnersche Grenzbegriff präzise auf jener Erkenntnisabsicht zu liegen, welche er als phänomenologisch-hermeneutische Methode bestimmt, die sich im Stufenbau des Lebendigen auch mit ihrer Dialektik als tragfähig erweisen muss. Gelänge es, aus diesen methodischen Bausteinen auf der Basis des Begriffs der Grenze die differentia specifica des Lebendigen unter den Seienden Dingen in ihrer Vielfalt herauszuarbeiten, so hätten sich die Idee, ihre Begrifflichkeit wie ihre Methode im Rückblick bestätigt.

Was für den Begriff der Grenze gilt, besitzt auch Gültigkeit für weitere Konzepte im Aufbau der Stufen, ob es sich dabei um das Konzept der Doppelaspektivität4, der Form in ihren beiden Spielarten der offenen Form5 und der geschlossenen Form6 oder ob es sich um die Form der organischen Organisation im engeren Sinne, der dezentralen7 und zentralen8 Organisation, handelt. Dasselbe gilt ebenfalls für die zentralen Begriffe der Positionalität9 und der exzentrischen Positionalität10 ‒ wesentlich für die Bestimmung des Menschen in Plessners philosophischer Anthropologie. Immer trifft Vokabular, gewonnen aus der theoretischen Anschauung, auf einen ontologischen Sachverhalt. Der Blick des theoretikos ist Entdeckung und Erfindung zugleich. Bewahrheiten muss er sich in der prüfenden Rückschau.

Eine Theorie der konstitutiven Wesensmerkmale oder Modale des Lebens, […] als notwendige Ausprägungen einer bestimmten Seinsgesetzlichkeit zu erkennen, entfernt sich damit zwar unvermeidlich von der Sphäre der konkretsinnlichen Anschauung […] Aber sie stützt sich doch nur auf echt intuitive Sachverhalte, nicht auf irgendwelche Begriffe, und sucht unter Vereinigung dieser Sachverhalte die Wesensphänomene des Lebens in ihrer Differenzierung zu begreifen.11

Der intuitiv gewonnene Sachverhalt kann keinen Bestand haben, wenn er keine Entsprechung in der Welt findet. Hat er Bestand, dann begegnen sich beide Perspektiven vermittelt im sich beobachtenden Beobachter, der Körper hat und zugleich Körper ist. Die sich im Laufe der kritisch theoretischen Betrachtung in den Stufen entwickelte Begrifflichkeit bedarf – um lebendige Prozesse darstellen zu können – jedoch einer dynamischen Charakteristik, welche einzig aus dem Entwicklungsprinzip der Stufen selbst gewonnen werden kann. Zuerst bestimmt Plessner den Begriff der Stufen selbst „als ein großer Zusammenhang, der damit wiederum als Manifestation des Grundsachverhalts begriffen wird.“12

 

Der Begriff der Stufe steht darum in einem gewissen Gegensatz zur Idee, die Plessner erläutert als eine „diskontinuierliche Mannigfaltigkeit gegenseitiger Überhöhungen ohne Möglichkeit, von einer Stufe zur nächsten nach einem Prinzip kontinuierlichen Fortgangs zu gelangen.“13

Wir sehen hier den theoretikos am Werk, der mit phänomenologisch geschultem Blick Gegebenheiten erschaut, beschreibt und im Stufenbau dialektisch miteinander vermittelt. Dies ist die Methode der Stufen, mit welcher die „regionale Ontologie des Organischen“14 erschaffen und das Reich des Lebendigen vom Reich des Unbelebten, in dem Stoß und Zug regieren, unterschieden werden soll. Doch sowohl Gegenstand wie Wesen dieser Theorie des Lebendigen bedürfen der weiteren Klärung, um möglichen Missverständnissen mit einer naturwissenschaftlichen Methodologie vorzubeugen.

Von der Naturwissenschaft betrachtete Gegenstände müssen die Eigenschaft der Darstellbarkeit besitzen, damit sie im Fortgang der Erfahrung bestimmbar bleiben. Darstellbarkeit bedeutet jedoch, dass der dargestellte Sachverhalt in einen weiteren Darstellungsmodus übersetzbar sein muss. Appetit ist erlebbar, zur „Darstellung aber wird der Appetit erst durch den Nachweis verstärkter Sekretion des Magensaftes etwa gebracht“15. Für die jedoch durch Anschauung gewonnenen Gegenstände gilt: „Alle nur anschauungsmäßig zu gewinnenden Gehalte haben dieses Schicksal, in die Erfahrung einzugehen, ohne im Fortgang der Erfahrung bestimmbar zu werden.“16

Für die „Wesenseigentümlichkeiten der organischen Natur“17 der biologischen Philosophie Plessners gilt, dass sie zur Klasse der anschauungsmäßig gewonnenen Inhalte gehören. Damit entziehen sie sich jener Darstellbarkeit. Desgleichen können sie weder nach dem Schema der emanatistisch-metaphyischen Logik noch dem der analytischen Logik entwickelt werden, da weder Entitäten noch Begriffe vorgegeben sind, sondern allein der anschauungsmäßig zu gewinnende Sachverhalt18. Es muss die Wirklichkeit dieses Sachverhaltes ermittelt werden: Gegeben sind ein erschauter Sachverhalt wie zum Beispiel die Grenze und das Phänomen der Lebendigkeit. Die Wahrheit der Vereinigung der beiden Auffassungen wird nun dadurch erlangt, dass „in allen Bestimmtheiten des wirklichen physischen Dinges die >Forderungen< der Wesenheit Ganzheit erfüllt sind.“19

Dies ist ein deduktives Verfahren, welches die Erfüllung der Bedingungen der Möglichkeit für einen Sachverhalt prüft.

Eine derartige Deduktion der Kategorien oder Modale – wohlgemerkt nicht aus dem Sachverhalt der Grenzrealisierung, denn den gibt es ja für sich nicht, sondern unter dem Gesichtspunkt seiner Realisierung – bildet den Zentralteil der Philosophie des Lebens.20

Wenn sich Plessner nach den allgemein methodologischen Überlegungen dem Lebendigen als Gegenstand zuwendet, so beginnt er seine Untersuchung mit den indikatorischen Wesensmerkmalen21, jedoch bloß, um diese gleich wieder einschränkend in ihrer systematischen Stelle und Beweiskraft nach den kategorischen Merkmalen des Lebendigen wie z.B. der Positionalität hintanzustellen. Die Einschränkung bezieht sich vor allem auf den Phänomencharakter der indikatorischen Wesensmerkmale der Lebendigkeit, welcher es nicht zuließe, von phänomenologischen Sachverhalten – wie der Spontaneität, Plastizität, Unstetigkeit im Stetigen oder relativen Variierbarkeit (der Periode)22 – auf ontologische zu schließen, denn "[das] Sein, das erscheint, ist zwar auch Sein, aber nicht das ganze Sein, wie es an ihm selbst und in ihm selbst west und ist."23

Der Anschauungsindizien der indikatorischen Wesensmerkmale des Organischen gebe es viele, aber von besonderem Interesse für ästhetische Sachverhalte erscheinen neben der phänomenalen Ähnlichkeit als Erscheinungen von indikatorischen Wesensmerkmalen des Organischen und Ästhetischen der Eindruck des Lebendigen selbst, welcher von diesen ausgehe. Zu den indikatorischen Wesensmerkmalen zählt Plessner: Periodizität, spontane Wechsel innerhalb einer Regel, Unstetigkeit im Stetigen (Rhythmus) und Variierbarkeit sowie Plastizität oder die "Freiheit gegen die Form unter der Form"24 Doch wichtiger noch für den Eindruck des Lebendigen erscheine das Phänomen der Tendenz:

[…] lebendig erscheint diejenige Bewegung, die einer ihr vorgegebenen oder vorlaufenden Tendenz folgt und deren reeller Verlauf somit im Charakter der Erfüllung gegeben ist.25

Erfüllung einer Tendenz setzt Spannung voraus, welche einem in der Zeit sich darstellenden Werk angehört. Das Paar Spannung und Erfüllung ist ebenfalls Grundbestandteil jeder Erzählung und impliziert die weiteren Bausteine jeden erzählerischen Geschehens wie Anfang, Entwicklung und Ende, sei es in Wort, Ton oder Bewegung. Plessner selbst benennt in diesem Kapitel den kategorienüberschreitenden Charakter der indikatorischen Wesensmerkmale der Lebendigkeit, welcher sich bei diesen Phänomenen einstelle. Das Auftreten dieser Merkmale bei toten Gegenständen verursachte unmittelbar den Eindruck des Lebendigen, welcher vom Verstand leicht auch wieder korrigiert werde, wie wenn z.B. ein von einem Gummiball bewegter Tisch, der obzwar kurz, unerwartet den Eindruck von Lebendigkeit erwecke.