Transzendierende Immanenz

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Sari: Orbis Romanicus #14
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Das Reich des Lebendigen und die Lockerung des Seins

Nach Plessner unterscheidet sich das Reich des Lebendigen vom Reich des Nicht-Lebendigen in einer Lockerung des Seins. Wo das Gesetz von Zug und Stoß regiere, träfen die Gegenstände unmittelbar aufeinander. Es gäbe hier keinen Abstand, keine Zone eines irgendwie gearteten Dazwischen halte die Kräfte auseinander, ordne oder hege sie ein, im Gegenteil: dort, wo der eine ende, beginne auch schon der andere. Beide dringen aufeinander ein, werden von wieder anderen bedrängt, gestoßen, gezogen, und alle bilden ein Zusammen Vieler. Der Ort ihres Zusammentreffens sind für Plessner die Ränder. Diese sind undurchdringlich und für sich, es sei denn, die Gegenstände änderten ihre Natur im Ineinander-Übergehen, im Auseinander-Fallen und schließlich in neuen Gebilden. Andere Ränder wären die Folge. Eine allgemeine Dynamik beherrsche die Zustände, und sie gelte für jeden Gegenstand und Gegenstandsteil in gleicher Weise. Denn dort, wo die Gegenstände ohne Grenzen seien, gebe es auch keinen Unterschied zwischen Innen und Außen als unterscheidbare und vereinzelte Räume, sondern allein die bruchlose Fortsetzung eines räumlichen Innen zu seinen Rändern hin als einem Anderen1. Dies sei das Reich der Naturwissenschaften, der es allein aus diesem Grunde möglich sei, ihre ehernen Gesetze zu formulieren. Es ist das Reich des Zugs und Stoßes. Es ist ein festes, fest geschnürtes Sein2. Im Unterschied zu diesem bestehe das Reich des Lebendigen in einer Lockerung3 der Verhältnisse. Und diese Lockerung bestehe zuallererst in der Grenze, welche dem lebendigen Ding selbst angehöre. Die Grenze sei ebenfalls ein Ort des Zusammentreffens wie der Rand, doch im Unterschied zu diesem sei die Grenze transparent und vermittele die vormals aneinanderstoßenden Gegenstände gegensinnig miteinander.

Der Begriff der Positionalität

Im Begriff der „Positionalität“1 konzentriert sich der Unterschied zwischen belebten und unbelebten Dingen. Positionalität bezeichne jene Lockerung des Seins, welche das Lebendige in eine spezifische Ferne zu seinem Umfeld rücke. Es sei der Ausdruck des Inneren eines Organismus. Positionalität sei keine räumliche, sondern eine raumhafte Vorstellung, und die Distanz, welche sie kennzeichne, bestehe in ihrer spezifischen Ferne zu den Grenzen des lebendigen Dinges hin, und darüber hinaus zu den Sinnesorganen, Atmung, Stoffwechsel und Gleichgewichtssinn etc. Die Grenze wiederum vermittle dieses Innen gegensinnig mit seinem Umfeld. Diese Dynamik gestatte es dem seine Grenze habenden Ding, die Festigkeit und Undurchdringlichkeit des unbelebten Seins zu lockern. Es könne zu diesem in Stellung gehen, eine Stellung, eine Position zum Sein einnehmen. Nun erst werde die trennend-verbindende Funktion der Grenze offensichtlich, indem durch sie hindurch ein Innen zu dem es umgebenden Sein, einem Außen, vermittelt werde. Durch die gegensinnige Vermittlung der Grenze sei eine spezifische Ferne zwischen dem Innen des Lebendigen zum Außen entstanden: Positionalität. Im Prozess der Vermittlung „über ihm hinaus“ sowie „in ihm hinein“ drücke sich eine Lockerung des lebendigen Seins aus. Die Grenze verwandele die anstoßenden und ziehenden Verhältnisse in ein Innen und ein Außen2.

Ein lebendiges Ding ragt aus den Stoß- und Zugverhältnissen des unbelebten Seins durch die Komplikation der Lockerung heraus, kann damit einen Platz im Sein behaupten und nicht nur ausfüllen. Die anstoßenden Verhältnisse sind für es ein Außen.

Diese topologische Überlegung gilt ebenso chronologisch. Das lebendige Ding als ein seine Grenze Besitzendes vereinigt Werden und Beharren.

Zusammengefaßt: ein lebendiges Ding kann existieren, weil es möglich ist, die grenzbedingten Seiten des Werdens und Beharrens zum Prozeß zu vereinigen, ohne damit die phänomenale Dingkörperlichkeit selbst aufzugeben und dem Prozeß zum Opfer zu bringen. Das Ding hält sich dem Prozeß gegenüber nicht fern, sondern nur in ihm begriffen bleibt es Ding. Wodurch? Durch Abhebung 1. der Dinglichkeitscharaktere, 2. des Typus oder der Formidee von der faktisch in den Prozess hineingezogenen dinglich-körperlichen Form. Um der Konstanz der Dinglichkeit willen, die im Prozess verloren gehen müsste, ist die Körpergestalt des lebendigen Dinges typisch oder seine Form dynamisch.3

Der Modus des Prozesses heißt Entwicklung4 und die Formidee nennt sich das Vorwegseiende. Damit stelle sich für das lebendige Ding Entelechie als Seinsmodus ein5, aber nicht als Naturfaktor, sondern allein entsprechend der spezifischen Distanz des lebendigen Dinges zu seinem Umfeld. Entwicklung bedeutet hier eine zweifache Beziehung zum Sein: dem Beharren bleibt ein Sein, es ist dem Werden entzogen, denn „dem Prozess als Entwicklung [ist] das Sein als das Werdende entzogen.“6

Da das lebendige Ding „über ihm hinaus“ sei – auch zeitlich –, ergebe sich in diesem Werden Gegenwart, da „das Ding nur insoweit ist, als es kommt.“7 Dort, wo die Chronologie des Seins gelockert ist, wo es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt, erscheine die Frage nach dem Tod. Plessner konstatiert dem Leben die Schicksalsform von „Jugend, Reife, Alter, weil sie dem Entwicklungsprozess wesentlich sind.“8 Doch er sagt auch, „Leben ist nicht Sterben“9. Denn wenn es so wäre, müsste der Tod ein Teil des Lebens selbst sein, das Leben würde mit dem Tod nicht enden. Zwischen Leben und Tod konstatiert Plessner eine „Hiatusgesetzlichkeit“10. Das Leben schaffe nur die Voraussetzungen für seinen Tod, müsse aber schließlich von diesem überwältigt werden: „Tod und Leben sind unvermittelt als absolute Gegensätze im Akt des Sterbens aufeinander bezogen.“11

Mit dem Tod sinkt das lebendige Ding ins Sein zurück. Die einstige Lockerung des Seins, welches sein Wesen darstellte, zerfalle, die Grenze verwandelt sich zurück zum Rand. Das von der Grenze Umschlossene ist gelöst.

Als ein Ganzes sei das lebendige Ding Körper, als ein in ihm Seiendes könne es Körper haben. Doch „wie gewinnt diese Binnenhaftigkeit des »Kerns« Realität?“12 Sie gewinnt diese dadurch, „dass sie als Potenz, als Vermögen, wirkliche Möglichkeit erscheint.“13

Weil das lebendige Ding ein organisiertes vielfältiges Ganzes sei, sei es in sich selbst mit sich vermittelt und besitze infolgedessen Potenzen.

Infolgedessen sind die Potenzen, weil sie das Lebewesen hat; hat sie das Lebewesen, weil sie den Gesamtbestand seines realen Seins bilden. Man kommt nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen.14

Das Lebewesen besitze als ein in sich selbst vermitteltes Ganzes die Potenz, und zwar als ein Sich-selbst-voraus-Sein, und es ergibt sich somit eine Perspektive der Umkehrung des physikalischen Zeitverlaufs von der Vergangenheit durch die Gegenwart zur Zukunft. Denn als ein wirklich Seiendes habe das Lebewesen einen erfüllten Bezug zur Zukunft in seinem Sich-selbst-voraus-Sein.

Bedingt die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Zukunft die Erfüllung des Bezugs zum Modus der Gegenwart, so ist eine reale Möglichkeit gegeben: unter dieser Bedingung einer Zukunftsbeziehung steht potentielles Sein.15

In seinem Vorwegsein vermittele sich das Lebewesen der Vergangenheit, doch im Vollzug dieser Dynamik sei ihm damit etwas gegeben, was keinem leblosen Ding eigen sein kann, nämlich Gegenwart. Das Abstraktum Zeit verwandelt sich so in den Augenblick. Das lebendige Sein vermittele sich ununterbrochen und stehe somit im Modus der Gegenwart, wie „eine ruhige Flamme“16.

Als Ding sei das lebendige Ding allen Bedingtheiten unterworfen, denen auch Unbelebtes sich beugen müsse. Als Ganzes jedoch, in ihm selbst vermitteltes lebendiges Ding, erlebe es absolute Lagen wie Oben, Unten, Rechts, Links genauso wie ein unumkehrbares Nacheinander. Doch die sonst bedingenden äußerlichen Bestimmungen würden ihm zu bedingten inneren Seinscharakteren17. Es sei nicht wie andere vierdimensionale Körper Raum und Zeit ausgesetzt, sondern behaupte seinen Raum – in seiner Größe – und seine Zeit – in seiner Dauer. Es sei eine „absolute Union von Raum und Zeit.“18 Damit komme das lebendige Ding nicht irgendwo im Raum zum Liegen, sondern nehme einen Platz ein, seinen natürlichen Ort. Die aristotelische Lehre des natürlichen Ortes, bestätige sich nur für die lebendigen Dinge19.

Das lebendige Ding und die Lockerung der Fesseln des Seins

Unter Leben versteht Plessner jenes Sein, welches seine Grenze hat und so ein Innen schafft, dessen spezifische, unräumliche Distanz zu seinem Außen die Zugehörigkeit zu dieser Welt des Stoßes und des Zuges lockert. Daher kann es zur Welt des Außen einen Ort, eine Position einnehmen. Lockerung des Seins meint die Verbindung mit diesem und keine Transzendenz. Nicht über das Sein hinaus, sondern in Beziehung zu diesem, innerhalb des Seins und vermittelt mit diesem ist das lebendige Sein. Allein, es ist ein Standpunkt gewonnen, eine Stellung gelungen, welche gegenüber dem Sein in gegensinniger Vermittlung seine Grenzen habend mit diesem in Verbindung tritt und treten kann. Das lebendige Ding lockert die Fesseln des Seins, doch löst sie nicht.

Der physische Leib des Organismus impliziert (und ist schon Niederschlag dieser Implikation) eine gegensinnige zur ursprünglichen Lebensrichtung gerichtete Tendenz, die doch in der Grundgesetzlichkeit des Lebens ihren Ursprung hat. Organisation überwächst das organisierende Leben, das nur in ihr physisch wird. In seiner Selbstvermittlung zur Einheit »begibt« sich der lebendige Körper seiner unmittelbaren Zentralität, er ist sie nur »noch« mit Hilfe seiner Organe. Er begibt sich seiner absoluten Selbstmacht, weil er ohne Organe nicht mehr zu leben vermag. Er verliert seine Selbstständigkeit, weil die Organe, wie sie ihn zur Einheit seiner selbst vermitteln, ihm diese Einheit nur durch Kontakt mit dem, was er nicht ist: mit dem Feld seiner Position ermöglichen. Als Ganzer ist der Organismus daher nur die Hälfte seines Lebens.1

 

Im Physischwerden des Lebens gibt sich seine Organisiertheit und damit begebe sich das physisch geworden Leben seiner Zentralität. Es werde Teil eines größeren Ganzen und ist nunmehr nur die Hälfte seines Lebens. Als solcher sei der Organismus in einen Kreislauf von Prozessen eingebunden. Eigenes und Fremdes würden durch ihn hindurch vermittelt und, solange Assimilation und Dissimilation auf dem Gebiet von „Stoff- Energie- und Formwechsel“2 sich die Waage halten, existiere das lebendige Ding weiter. Als die Hälfte seines Lebens sei ihm sein „Positionsfeld“3 durch seine Organisation gesetzt. Er ist aber auch zugleich in einer Position zu diesem: „Der Organismus ist in Beziehung zum Positionsfeld exzentrischer Mittelpunkt.“4

Exzentrischer Mittelpunkt zu sein, bedeute zum einen wie alle anderen Körper den Einwirkungen des Positionsfeldes ausgeliefert zum anderen jedoch gegensinnig zum Positionsfeld in seinen Grenzen immanent geborgen in sich selbst zu sein. Doch erscheint hier die Frage nach dem Verhältnis der Anpassung. Eine grundsätzliche Angepasstheit wäre dabei Voraussetzung für die Existenzmöglichkeit des Organismus, aber seine Entwicklung im Vollzug des Austausches, der gegensinnigen wie der gleichsinnigen, berge immer die Gefahr des Scheiterns, und deshalb „bleibt der Organismus bei aller Geborgenheit gefährdet. […] Deshalb heißt Leben in Gefahr Sein, heißt Existenz Wagnis.“5

Dem Wagnis des Nichtseins stelle sich das Individuum, nicht das lebendige Sein. Dem Individuum seien jedoch Grenzen gesetzt, sowohl morphologisch wie chronologisch. Als existierendes Individuum sei es Resultat der Selektion, Voraussetzung seines „realen Stattfindens in körperlicher Wirklichkeit“6. Der Weg, sich der Nichtumkehrbarkeit der Entwicklung entgegenzustellen, heiße Fortpflanzung. Mit ihr werde die Kette der Individuen erneuert und der Sphäre des Nichtseins getrotzt. Im gegensinnigen Miteinander unterwerfe sich das Leben nicht dem Nichtsein, sondern jenes „Widerspiel“7 aufeinander bezogenen Seins stelle ein Ganzes dar, und das lebendige Ding behaupte sich darin. Seine „Autonomie verwandelt sich nicht in Heteronomie, sondern bleibt kraft Heteronomie erhalten.“8

Leben trete immer in vielfältigen Formen auf, aber sobald der Weg zum Mehrzeller eingeschlagen sei, scheine ein Konflikt aufzutauchen, der durch die Form gelöst werden müsste: „Wählt das Leben einmal den Weg der Mehrzelligkeit, so wählt es den Konflikt zwischen Organisation und Körperlichkeit und muss ihn daher in der Form ausgleichen.“9

Plessner stellt nun die Pflanze als jenes lebendige Ding vor, welches sich in offener Form organisiert. Diese Form bestehe in ihrer unmittelbaren Eingliederung in die Umgebung und bedinge damit entsprechend die Unselbstständigkeit dieser Lebensform. Die unmittelbare Eingliederung der Pflanze in ihre Umgebung ermögliche ihr den „Kreislauf des Gesamtstoffwechsels“10, und sie vermag es, aus anorganischen Stoffen „unter dem Einfluss des Sonnenlichts“11 komplexe organische Stoffe zu synthetisieren. Alles weitere Leben sei auf die Existenz von Leben in der offenen Form angewiesen. Tiere wie Menschen bauten ihre Stoffwechsel auf ihm auf. Auch der Ortswechsel, welcher den Pflanzen vorenthalten bleibe, scheine eine Folge dieses parasitären Sachverhaltes zu sein. Sie sei dem Lebewesen der geschlossenen Form vorbehalten.

Geschlossen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“12

Mit der Bestimmung der geschlossenen Form erreicht die Ontologie des Lebendigen jenes Stadium, welches die Abständigkeit des Lebendigen von der Welt des Stoßes und Zuges endgültig bestätigt. Als Organismus mit seinen Grenzflächen ist der innere Antagonismus sein Organisationsprinzip. Damit bestimme er sich als die „Einheitsform der gesamten Mannigfaltigkeit“13, und es werde die Bildung eines Zentrums notwendig, in dem alle Organe zusammengefasst werden könnten. Der Körper werde so zur „Zwischenschicht zwischen dem Lebendigen und dem Medium“14. Doch mit der Tatsache, dass der Körper im Zentrum verkörpert sei, verdoppele sich dieser, er werde zum „Leib“15. Damit hebe sich das Zentrum, die „raumhafte Mitte, der Kern oder das Selbst“16 aus dem Körper heraus.

Ausdrücklichkeit, Eigenbewegung und Dinglichkeit

Sobald jedoch durch die Bildung eines Zentrums ein realer Unterschied am Körper selbst aufgetreten ist, ändert sich auch positional das Ganze und die Grundlage für alle diejenigen Erscheinungen, die an die Existenz des Bewusstseins geknüpft sind, ist geschaffen.1

Zwar besitze ein solches Lebewesen „Wirklichkeit“2, doch bleibe diese doppeldeutig, denn es habe Distanz zu seinem Körper und sei sein Körper, ohne dass diese Verdopplung Eindeutigkeit berge. Ein solches Lebewesen „ist selbst – in ihm“3. In der topologischen Metaphorik Plessners wird das Zentrum nun zum im Körper liegenden ortlosen Hier, einem nicht relativierbaren und wesenhaften Ort, und dieses Selbst nun vermittelt zwischen dem den Körper Habenden und dem Körper Seienden und verwandelt sich somit in ein Selbst besonderer Art, es verwandelt sich in „ein rückbezügliches Selbst oder ein Sich.“4 Das Tier merke wohl sich und sei seinem Umfeld ein Gegenüber, doch es sei sich nicht als ein Ganzes dieser beiden Tatbestände gegenwärtig. Es handele aus seiner Mitte heraus, besitze Spontaneität, ein echtes Beginnen, doch es sei sich nicht selbst als ein Beginnendes, Körper Habendes und mit dem Umfeld als ein gegenüber Seiendes gegenwärtig, sich nicht mehr selbst gegeben. Diesen Sachverhalt bezeichnet Plessner als „Frontalität“5.

Grenze, Organisiertheit, geschlossene Form, Zentrum oder Selbst und Frontalität treiben eine Bewegung voran, die Plessner mit dem Adjektiv ausdrücklich belegt, und er meint damit eine Dynamik des In-Freiheit-setzens, dem aus der Komplexität eines Ganzen sich entwickelnden Neuen:

In dieser Distanz des Kerns seiner Positionalität, in dieser Abgehobenheit seiner raumzeithaften Mitte erkannte die Untersuchung Zug um Zug den Grund für seine Bewußtheit. Kern, Mitte, die positional überhaupt den Wert des Selbst (etwa in der Wendung: die Blume selbst als Trägerin ihrer Eigenschaften), des Subjekts des Habens besitzt, erhält durch die Distanz (in der geschlossenen Organisationsform) nicht etwa einen neuen Wert und Sinn, sondern er wird sozusagen nur in Freiheit gesetzt, er wird, was er an sich ist, ausdrücklich: Blickpunkt für eine Sicht, Subjektspunkt einer Bewußtheit.6

Ausdrücklich werden heißt dann charakteristisch werden, heißt jene Form zu gewinnen, die in einer Tendenz angelegt sei, diese ausführen, zu steigern, herauszutreiben und damit zu interpretieren. Es handelt sich um eine Dynamik, die durch das Ontisch-Werden der Grenze in Gang gesetzt wurde. Es ist, als interpretiere die Natur selbst das lebendige Ding in seiner Form, seiner Gestalt und als Resultat der Reibungen der gegensinnigen Grenzhaftigkeit. Darin jedoch erkennen wir genau die Absicht des Autors, der eine Philosophie des Lebens sucht, welche unter dem „Gesichtspunkt“7 der Grenzhaftigkeit die Phänomene des Lebendigen denkbar werden lässt. Zudem erlaubt die topologische Metaphorik Plessners die Eingliederung des Bewusstseins in das Phänomen des Lebendigen und überwindet so die von Descartes gesetzte Kluft zwischen res cogitans und res extensa.

Man darf keinen Wechsel in der Methodik darin sehen, wenn hier, bei den lebendigen Körpern, die geschlossen geformt sind, das Sein ins Bewusstsein sozusagen umschlägt und aus einem Kern ein Aspektzentrum wird.8

Innerhalb der Lebewesen mit geschlossener Form konstatiert Plessner eine Spaltung in jene, die dezentral oder die zentralistisch organisiert sind. Zwischen Merken, gehemmter Erregung und Wirken, enthemmter Erregung spanne sich die Sphäre des Bewusstseins, eine raumhaft innere Grenze, „der Hiatus, die Leere, die binnenhafte Kluft, durch die hindurch auf den Reiz die Reaktion erfolgt.“9

Diese Sphäre gelte es nun, ausdrücklich zu machen. Die Natur scheine zwei Formen entwickelt zu haben, wie diese Kluft zu überbrücken sei. Zum einen vermittelst Einschaltung des Bewusstseins in die Lösung der Aufgabe des Lebens, zum anderen vermittelst der weitgehenden Ausschaltung von jenem. Bei weitgehender Ausschaltung des Bewusstseins erreiche die Natur einen höheren Grad an Sicherheit in den Reaktionen des Lebewesens. Einschaltung des Bewusstseins bedeute den Zwang zu zunehmender Breite der Anschauung und eine entsprechend anwachsende Unsicherheit und Rückstellung der Instinktreaktionen.

Die Aufmerksamkeit wird von dem Objekt der Bewegung auf die Bewegung als Objekt herübergezogen. Zersplitterung ist unvermeidliche Folge: Die Unbefangenheit ist dahin, der sichere Ausgang der Handlung, welche die volle Hingabe ans Objekt erfordert, in Frage gestellt.10

Im Zentralorgan repräsentiere sich mehr und mehr Umfeld, dieses rücke dementsprechend vom Tier ab und gewinne an Struktur, werde zu Merk- und Wirksphäre, zu „Signalfeld und Aktionsfeld in Einem“11. Optische, akustische und taktile Gehalte zeigten sich nicht mehr unkoordiniert, sondern entbergen im Umgang mit dem Gegenstand eine dauerhafte Dingstruktur, indem das Tier die Beziehung zwischen Merken und Wirken am Umfeld erlebe.

Was als Struktur der Haltbarkeit am Dinggebilde auftritt, ist in Wahrheit sein Bezug zur Motorik des Lebewesens, welches das Ding wahrnimmt. In dieser besonderen Schematisiertheit auf die vitale Aktion besteht für ein Zusammen sinnlicher Gehalte seine Dinglichkeit. Lenkbarkeit der Bewegungen mit dem eigenen Körper (auf Grund der Empfindbarkeit der Bewegungen) und dingliche Struktur des Umfeldes entsprechen einander. Zentralistische Organisation eines lebendigen Körpers und Auftreten von Dingen in seinem Merkfeld sind notwendig koexistent.12

Das geschlossen zentralistisch organisierte Lebewesen könne Dinge haben. Die Organisation des Zentralorgans bedinge die Modalität der Repräsentation, und ein zeitlich und räumlich organisiertes Lebewesen habe Raum und Zeit. Es gibt mithin kein stärkeres Argument für die räumliche Beständigkeit der Welt, für die räumliche Organisation des Gehirns als die Ausbildung der Gleichgewichts- und Raumsinnesorgane, welche den durch die Eigenbewegung des Lebewesens sich ständig verändernden Standpunkt in eine Konstante verwandelt. Das in sein Gleichgewicht gebrachte Innen eines Lebewesens zeigt seine relative Unabhängigkeit, seine relative Ferne zu seinem Umfeld, ohne dieses jedoch tatsächlich zu verlassen, sich ihm zu überheben. Das Lebewesen verbleibt mit diesem in Beziehung, doch es hat sich einen Spielraum, einen Abstand geschaffen, welcher ihm ein Sein und eine Existenz gegenüber dem unbelebten Sein gestattet. Deshalb haben zentralistisch organisierte Lebewesen eine Wahrnehmungswelt, die beim Menschen unter der „Ordnungsform der Dinglichkeit“13 stehe. Denn anders als beim Tier, dem der „Sinn fürs Negative“14 fehle, grundiere das Abwesende selbst die Anwesenheit der Gegenstände. Das Negative garantiere die Unabhängigkeit der Gegenstände als solche für unser Bewusstsein, denn es löse sie aus ihrem Zusammenhang heraus und auf dem Hintergrund der Leere könnten sie als Einzelne dem Bewusstsein erscheinen. Dem Tier hingegen erschienen die Gegenstände als Qualitäten in ihrem komplexen Zusammenhang mit anderen Eindrücken.

Hierbei zeigt sich, dass jede Stufe des Bewusstseins ein Verhältnis zum Einzelnen und zum Allgemeinen hat, dass sie in primitiver Form nicht voneinander geschieden sind und erst auf der höchsten uns bekannten Stufe menschlichen Bewusstseins gegeneinander treten.15

Einzelnes im komplexen Zusammenhang mit Anderem ohne eine erweiternde, ins Unerreichbare hinausweisende Öffnung des Wahrnehmungsfeldes kann vom Tier begriffen und aktiv – d.h. vom Trieb angestoßen – angegangen werden. Dieser komplexe Zusammenhang einer relativen Angreifbarkeit ans Einzelne gestatte dem Tier, es auch soweit anzugehen und zu behandeln. Doch bleibe ihm das Einzelne als Individuum verschlossen. Das Ganze der Wahrnehmungswelt des Tieres in seiner Position der Frontalität breche ihm nicht ins viele Einzelne der Dinge, auch nicht ins Typische auseinander16. Es bleibe als eine Einheit notwendig bestehen, da dieser Wahrnehmungswelt noch ihr Pendant, die vollständig rückbezüglich gewordene Wahrnehmung der Wahrnehmung des Lebewesens nicht gegeben sei, und somit ebenfalls auch kein Negativum, keine Leere, welche den Raum für die Individuierung der Dinge erst hervorbringe.